Digital Home 29.01.2019, 10:20 Uhr

«Digitale Transformation ist der falsche Begriff»

Das Familienunternehmen Vorwerk wirtschaftete seit Jahrzehnten erfolgreich mit analogen Geräten. Neu verdient der Konzern auch viel Geld mit digitalen Produkten und Services, sagt Vice President Digital Julius Ganns im Interview.
Julius Ganns hat mit seinem Team den Thermomix um ein digitales Ökosystem ergänzt
(Quelle: Stefan Walter / NMGZ)
Die Küchengeräte und Staubsauger des Industriekonzerns Vorwerk wurden lange Jahre ausschliesslich über Handelsvertreter vertrieben. Das Geschäft wurde zwar elektronisch unterstützt, einen digitalen Geschäftsprozess gab es aber nicht. Das änderte sich mit der Gründung von Vorwerk Digital: Neu können Besitzer des «Thermomix» via Internet Rezepte auf ihre Küchen­maschine laden. Ein Millionengeschäft. Wie es dazu kam, skizziert der Vice President Digital, Julius Ganns, im Interview mit Computerworld.
Computerworld: Wie sind der Konzern Vorwerk und Vorwerk Digital in der Schweiz aufgestellt?
Julius Ganns: Vorwerk ist bereits seit den 1970er-Jahren in der Schweiz präsent. Ein Grund für die Niederlassung des deutschen Familienunternehmens war damals die Nähe zu den wichtigsten Märkten. Durch die zentrale Lage in Europa sind auch die Länder im Süden gut zu erreichen – Italien, Spanien und Portugal sind neben Frankreich und Deutschland sehr wichtige Märkte für uns. Ein zweiter Grund ist und bleibt die Internationalität: Vorwerk International ist in Wollerau – temporär in Freienbach – angesiedelt. Dort sind Menschen aus der Schweiz, aus Italien, aus Frankreich, aus Deutschland, aus Irland, aus Australien und vielen anderen Nationen beschäftigt.
Die beiden grossen Geschäftsbereiche des Vorwerk-Konzerns – Thermomix und Kobold – werden seit Jahrzehnten aus der Schweiz heraus geführt. Vor sechs Jahren, 2012, bin ich zu Vorwerk in die Schweiz gekommen. Mein damaliger Chef, Kai Schäffner, hatte eine Vision: Er wollte einen digitalen Thermomix bauen. Ausserdem schwebte ihm vor, dem schon sehr populären Küchengerät eine Art iTunes-Bibliothek für Rezepte an die Seite zu stellen.
CW: Gab es zu diesem Zeitpunkt bereits digitale Funktionen für den Thermomix?
Ganns: Nein. Die damals vierte Generation des Thermomix, TM31, hatte noch keine digitale Funktion. Unter der Regie von Kai Schäffner und unserem Leiter Produktentwicklung, Stefan Hilgers, ist erstmals überhaupt eine digitale Variante des Küchengeräts entstanden. In den allerersten Prototypen waren auch schon digitale Funktionen geplant, sie besassen aber zum Beispiel noch keinen Touchscreen. In der Marktforschung stellte sich heraus, dass die Kunden als Erstes probieren, auf das Display zu drücken, wenn sie eine Option auswählen sollen. Und so hat sich die aktuelle Generation des Thermomix entwickelt, die mittlerweile seit 2014 im Markt ist. Research hat bei uns – getrieben durch meine Kollegin Ramona Wehlig – ohnehin einen grossen Anteil am Erfolg des Geräts und der digitalen Lösungen.
CW: Waren Sie bereits an der Entwicklung beteiligt?
Ganns: Ich kam später hinzu, viele Grundlagen in der Hardware und erste Schritte in der Software waren schon gemacht. Die Software auf dem Gerät steckte aber noch in den Kinderschuhen. Auch hatte sich Vorwerk damals noch nicht für die digitale Welt aufgestellt. Das waren dazumal die ersten Schritte in Richtung agiler Software-Entwicklung, in Richtung digitaler Architektur, in Richtung Product Ownership, in Richtung Service Design und digitaler Customer Experience für Vorwerk.
CW: Wann kam das Ökosystem hinzu?
Ganns: Parallel zum Thermomix kam die erste Version – das war 2014. Wir – das waren neben Ramona, Stefan und mir auch noch unsere Kollegin Sandra Jossien aus dem Marketing – haben die Lösungen entworfen und die wichtigsten Projekte selbst geführt. Programme dieser Grössen­ordnung sind immer Teamwork, auch und insbesondere in der Führung. Man muss sehr viele Perspektiven berücksichtigen und Hunderte Leute koordinieren. Zum Start 2014 hatten wir noch keine Konnektivität für den Thermomix – die kam dann 2016 im Upgrade mit dem Cook-Key. Da liefen die ersten Prototypen aber auch schon Jahre zuvor, sodass die Entwicklungsrichtung klar war.
CW: Mit welchen Digitalfunktionen ist das Gerät damals lanciert worden?
Ganns: Vor der Einführung des Cook-Keys – mit dem auch ein grosses Software-Update kam – nutzte das Gerät seine Schnittstelle für Rezept-Chips, die zusammen mit Koch­büchern verkauft wurden. Wenn der Kunde die Chips mit dem Thermomix verbunden hat, wurden die Rezepte an­gezeigt. Parallel liess sich der Chip auf einer Web-Plattform registrieren, sodass die Rezepte beispielsweise auch für die Einkaufsliste zur Verfügung standen. Nach dem sehr erfolgreichen Verkaufsstart des Thermomix TM5 hatten wir im digitalen Bereich schnell neue He­rausforderungen: Stabilität der Plattform, Bewertung der App und so weiter. Anfangs hatte die App eine User-Bewertung von zwei Sternen. Mittlerweile haben wir nur für die aktuelle Version Zehntausende Bewertungen und fünf Sterne. Auf diese Reise mussten wir aber gehen, um letztendlich ein qualitativ hochwertiges Digitalprodukt zu erreichen und dann 2016 den Cook-Key nachzuliefern.
Zur Person
Julius Ganns
verantwortet seit Anfang 2017 die Leitung des Geschäftsbereichs Vorwerk Digital als Vorsitzender des Digitalen Management Boards. Bei dem deutschen Familienunternehmen ist er seit 2012 beschäftigt und leitete seitdem grosse Initiativen rund um Digitalisierung, Produkt­innovation und den Kulturwandel zu mehr Agilität. Davor hatte Ganns mehrere leitende Positionen bei Agenturen und internationalen Beratungshäusern inne.

Königsweg zur Digitalisierung

CW: Wie haben Sie Ihre Vorgesetzten und die Inhaberfamilie des Traditionsunternehmens Vorwerk überzeugt, dass der Weg der richtige ist?
Ganns: Wir hatten stets grosse Rückendeckung sowohl in der Thermomix-Bereichsleitung als auch dem Executive Board des Konzerns. Das Management war überzeugt, dass unser Weg einen Versuch wert ist. Das primäre Ziel war nicht, mit dem System Geld zu verdienen. Die ursprüngliche Idee war: Die Lösung muss sich selbst tragen, sodass wir einen zusätzlichen Wettbewerbsvorteil aufbauen können. Der Markt hat uns erst gezeigt, dass der Kundenwert für die digitalen Add-ons – wie den Cook-Key – und Services so hoch ist, dass die Kunden dafür zahlen. Heute haben wir zwei Millionen Geräte online.
“Das Management war überzeugt, dass unser Weg ein Versuch wert ist„
Julius Ganns
CW: Wann haben Sie erkannt, dass die Digitalfunktionen mehr Potenzial bergen? Und wie?
Ganns: Mit der Einführung des Cook-Keys veränderte sich das Verhalten der Kunden: Die Hardware und das Software-Update integrierte den TM5 mit dem digitalen Ökosystem, in dem der Thermomix selbstständig Rezepte synchronisieren, Einkaufslisten abgleichen und in einigen Ländern auch die Zutaten online bestellen konnte. Diese neuen Funktionen führten zu einer vermehrten Nutzung. Die Kunden entdeckten immer mehr Details. Wir mussten uns dazu auch intern neu organisieren, denn unser Team bestand zum grössten Teil aus externen Unterstützern.
CW: Sie sprechen von mehr als 100 Personen. Waren diese ausschliesslich mit dem digitalen Thermomix beschäftigt?
Vom Zürcher Sihlcity aus treibt Julius Ganns die Digital-Strategie von Vorwerk voran
Quelle: Stefan Walter / NMGZ
Ganns:
Hauptsächlich mit dem digitalen Ökosystem, beim Thermomix kommen noch einmal mehr Leute hinzu. Die Kollegen waren zuständig für die Entwicklung der Apps und Webseiten, die Datensynchronisation, Cloud, Security, das Integrieren mit den ERP-Systemen der verschiedenen Länder, den Support und so weiter. Die meisten dieser Tätigkeiten sind notwendig für den Betrieb, aber für den Kunden überhaupt nicht sichtbar. An­gesichts der Tatsache, dass 80 Prozent unserer Kunden den TM5 direkt mit Cook-Key kaufen, war ein Setup mit vielen Externen dauerhaft nicht nachhaltig. Mit dem Dienstantritt unseres neuen, sehr digitalen CMOs Markus Dobbelfeld haben wir begonnen, eine interne Organisation aufzubauen. Unser Ziel war, das Wissen über alle Kernprozesse in die Firma zu ver­lagern, um so die Digitalstrategie weiterentwickeln zu können.
Wir bekamen Ende 2016 das Mandat, Vorwerk Digital auf­zubauen. Dabei handelt es sich nicht etwa um einen ausgegründeten Geschäftsbereich, sondern vielmehr um eine virtuelle Organisation. Sie besteht aus mehreren Sub-Teams, die innerhalb der bestehenden Firmenstruktur agieren. Die Kollegen bleiben in ihrer angestammten Abteilung und sind gleichzeitig Mitarbeiter von Vorwerk Digital. So können wir alle besser mitnehmen auf die digitale Reise. Die leitende Einheit hier in Zürich wurde vor dem Hintergrund geschaffen, dass wir uns international aufstellen. Hier sind die Kollegen mit der Steuerung und der Strategie befasst. Dazu gibt es noch weitere, kleinere Standorte.
CW: Das tönt mysteriös: «weitere, kleinere Standorte». Geht es um geheime Labors in China oder Indien?
Ganns: Nein, nein. [lacht] Es handelt sich dabei um Orte in Europa. Während wir sonst grossen Wert darauf legen, dass alle Teams in ihrem eigenen Umfeld arbeiten, ziehen wir sie in den heissen Phasen alle zwei Wochen für jeweils drei Tage zusammen. Das ist die «Sprint Colocation». In diesem Modus entwickeln bis zu 80 Personen fokussiert zum Beispiel ein grosses Update. An den Anlässen sind auch viele Externe und Zulieferer dabei, mit denen wir weiterhin eng zusammenarbeiten. Aber wir achten darauf, dass die Führung bei Vorwerk liegt. Intern angesiedelt sind die Architektur, die Customer Experience, das Programmmanagement, die Qualitätssicherung und natürlich die Strategieentwicklung. Weiter haben wir Kompetenzen aufgebaut, um Externe zu steuern, technisch wie auch in der Entwicklung.
Ein grösserer Anteil digitaler Lösungen kommt in vielen Bereichen besser aus dem Zulieferermarkt: Eine App, ein Embedded-Modul für ein IoT-Gerät oder der Wi-Fi-Adapter können durchaus extern entwickelt werden. Die Lieferanten sind spezialisiert, haben die Ressourcen und Qualifi­kationen. Vorwerk selbst muss kein neues Wi-Fi-Modul entwickeln. Wir bauen nur interne Entwickler an den Stellen auf, an denen wir langfristig einen Wettbewerbsvorteil sehen.

Innovation bei Vorwerk

CW: Wie entwickelt Vorwerk Digital neue Funktionen für die Haushaltsgeräte?
Ganns: Vorwerk Digital ist mittlerweile nicht mehr nach Komponenten organisiert, sondern nach Produkt- und Querschnittsfunktionen. Früher hatten wir ein iOS-Team, heute sind die iOS-Entwickler Mitglieder von «vertikalen» Teams. Diese Teams haben eine Ende-zu-Ende-Verantwortung für eine bestimmte Funktion, etwa die digitale Einkaufsliste. Hier arbeitet ein iOS-Entwickler mit einem Android- und einem Web-Entwickler, zwei Embedded-Programmierern, zwei Cloud-Architekten und einem Tester zusammen. Sie sollen «self-contained» arbeiten, also ihre Neuentwicklung selbstständig und unabhängig in unsere Microservices-Landschaft bringen.
CW: Sind heute auch Schweizer Zulieferer an der Produktentwicklung beteiligt?
Ganns: Wir arbeiten in vielen Bereichen mit Partnern in der Schweiz zusammen. Zum Beispiel gab es Beratung in den Bereichen Design Thinking und Produkt-Prototyping. Weiter sind einige Teile unserer Datenhaltung in der Schweiz angesiedelt. Dafür haben wir beispielsweise das globale Datacenter-Setup von Vorwerk zusammen mit der Adfinis SyGroup aus Bern weiterentwickelt. Jenseits der Grenzen ist beispielsweise unser Operations-Team in Indien angesiedelt, da wir Support rund um die Uhr anbieten. Das Testing läuft auch teilweise in Indien und zusätzlich in Mexiko, damit wir eine Software am Abend einchecken, über Nacht testen und gleich am Morgen daran weiterarbeiten können.
Julius Ganns leitet seit 2017 den Bereich Digital bei Vorwerk
Quelle: Stefan Walter / NMGZ
CW: Wie ist die IT-Infrastruktur hinter dem digitalen Thermomix aufgestellt?
Ganns: Wir sind 2012 zunächst ohne die interne IT-Abteilung von Vorwerk gestartet, haben also bis 2016 alles separat aufgebaut – das hat Vorteile und Nachteile, aber es war damals der bessere Weg und ich bin dankbar, dass wir diese Möglichkeit bekommen haben. Mit dem Mandat für Vorwerk Digital haben wir begonnen, ein gemeinsames agiles Team für den technologischen Bereich aufzubauen. Die Infrastruktur besteht massgeblich aus Amazon Web Services. Die Cloud war von Beginn an die passende Lösung, wobei zeitweise viel Eigenentwicklung notwendig war.
Die meisten Standardkomponenten waren (noch) nicht geeignet für unsere spezifischen Anforderungen. Ein gutes Beispiel sind die digitalen Twins Hunderttausender Geräte in der Cloud. Eine solche Funktion gab es 2014 noch nicht als Standardlösung. Amazon IoT war noch nicht lanciert, Azure IoT ebenfalls nicht. Uns blieb also nichts anderes übrig, als die digitalen Twins selbst zu bauen, inklusive einer Managementkonsole und der Datenverwaltung. Mittlerweile haben die Anbieter nachgezogen, sodass wir schrittweise möglichst schnell unsere Eigen­entwicklungen ersetzen. Quasi: Murder your Darlings.
Hier zeigt sich ein grundsätzlicher Unterschied zu einer klassischen Enterprise-IT: Sie ist stark auf die Total Cost of Ownership ausgerichtet – eben eine Kostenstelle. Vorwerk Digital operiert hingegen in vielen Bereichen als Profit Center, das mehrere Stellschrauben hat – insbesondere Time-to-Market und Cost of Change. Wir müssen möglichst schnell neue Funktionen liefern und die alten ablösen. Hier liegt auch der Grund für die Anwendung von Cloud, Docker, und OpenShift, die uns Flexibilität geben, Technologien schnell upgraden und tauschen zu können.
CW: Sie beschäftigen auch Mitarbeiter aus der tradi­tionellen Vorwerk-Organisation. Wie haben Sie die Kollegen rekrutiert und wie haben Sie das neue, agile und digitale Mindset vermittelt?
Ganns: Wie in jedem Unternehmen gibt es Leute, die unbedingt dabei sein wollten. Die Philosophien und Arbeitsweisen zwischen unserem Team und anderen Abteilungen waren aber zu Anfang schon sehr verschieden. Vorwerk plant langjährig, wir planen höchstens drei Monate und entwickeln Strategien für 12 bis 18 Monate – mit kontinuierlicher Evolution. Ein «Investment Board» kommt einmal im Quartal zusammen, überarbeitet Prioritäten und Strategie und stattet die verschiedenen Projekt-Teams mit Ressourcen aus. Am Ende des Quartals müssen die Teams beweisen, dass sie gute Arbeit geleistet haben und neue Funktionen bieten können, die den Kunden nutzen.
Natürlich gibt es auch langfristige Projekte, die vielleicht nicht gleich nach drei Monaten ein fertiges Produkt zeigen können. Aber sie sollten in der Lage sein, ein «Minimum Viable Product» abzuliefern, das die zukünftigen Funktionalitäten immerhin andeutet. Den Wert dieses iterativen, inkrementellen Ansatzes erkennen dann je länger, je mehr Leute und das ist der entscheidende «Tipping Point», an den man kommen muss.

Von Produkten zu Services

CW: Durch das digitale Ökosystem ist Vorwerk von einer Produkte- zu einer Services-Firma geworden. Würden Sie widersprechen?
Ganns: Widersprechen sicher nicht. Aber wir haben es nicht allein gemacht, denn die erfolgreichen Produkte gab es ja schon. Und Vorwerk war schon immer ein Unternehmen, das über seine Berater stark auf Service gesetzt hat. Ohne Zweifel haben wir aber zur Transformation beigetragen. Es ist ja so: Man kann ein Unternehmen von oben verändern oder man kann von aussen Veränderung auf­gezwungen bekommen, aber in unserem Fall haben wir Vorwerk auch massgeblich aus der zweiten Reihe in Richtung Digital transformiert, mit grosser Unterstützung aus vielen Bereichen. Die Ingenieure haben zum Beispiel dabei unterstützt, ein Display in ein Küchengerät einzubauen, haben immer und immer wieder eine neue Software aufgespielt, getestet, verworfen und wieder getestet – das war 2012 alles andere als selbstverständlich.
CW: Ganz generell: Würden Sie mir bitte Ihre Definition der digitale Transformation nennen?
Ganns: Für mich ist die digitale Transformation der völlig falsche Begriff. Denn in der Transformation ist das Digitale nur das Werkzeug. Die eigentliche Transformation besteht aus drei entscheidenden Elementen: Erstens die Transformation hin zu einem mündigen Kunden, den wir sehr ernst nehmen müssen. Früher haben wir ein Produkt gebaut und darauf gewartet, ob der Markt es annimmt oder nicht. Heute kann der Kunde schon vor und auch noch während der Produktentwicklung seine Meinung sagen – und tut es auch. Dieser Feedback-Loop muss ein Bestandteil der Produktentwicklung sein. Deshalb ist der Software-Teil des Produkts auch nicht komplett fertig, wenn es in den Markt geht. Das ist vollkommen normal heute.
Zweitens gibt es eine neue Kultur unter den Digital Natives, die keine Welt mehr ohne digitale Anwendungen kennen. Ihre Apps, Geräte und Programme verändern sich und werden wie beschrieben auch nach dem Kauf immer besser. Danach streben die Menschen auch persönlich. Sie wissen um ihre Fähigkeiten und wollen sie permanent verbessern. So sind es nicht mehr die Firmen, die sich ihre Angestellten aussuchen können, sondern die Angestellten suchen sich ein Unternehmen aus.
Das dritte Element der Transformation ist die Einfachheit und damit Geschwindigkeit, mit der Innovation geschieht. Die digitale Technologie erlaubt es heute, eine Disruption fast ohne Ressourcen auf den Markt zu bringen. Deshalb funktionieren allerdings auch viele althergebrachte Managementmethoden nicht mehr, die von linearen Zusammenhängen ausgehen. In der digitalen Welt gibt es kaum Linearität, alle Entwicklungen geschehen in komplexen Systemen und sind exponentiell – Menschen denken aber sehr linear. Um der Komplexität Herr zu werden, muss deshalb mit permanentem Feedback und mit Korrekturen gearbeitet werden.
“Mit Machine Learning stellen wir das Gerät für den Nutzer individuell ein„
Julius Ganns
CW: Wenn Geld keine Rolle spielen würde, welche Innovation würden Sie sofort vorantreiben?
Ganns: Ich will gern vorausschicken, dass wir bei Vorwerk Digital viele Möglichkeiten haben. Deshalb arbeiten wir an dem, was wir gerne tun wollen. Unsere digitalen Lösungen entwickeln sich immer mehr zu intelligenten Kochassistenten. Das beginnt bei einem intelligenteren Gerät und geht weiter zu intelligenteren Apps und einem intelligenteren Ökosystem. Die Strategie dahinter ist: Der Thermomix steht nicht nur in der Küche, er soll als App den Kunden in seinem Alltag begleiten. So wird er noch stärker beim Erreichen individueller Ziele helfen: mehr kochen, gesund kochen, lokale Zutaten verwenden und abnehmen. Das Ökosystem könnte dem Kunden eine Erinnerung senden: «Du wolltest zweimal pro Woche kochen. Dieses Ziel hast Du noch nicht erreicht. Hier ist ein Vorschlag für ein neues Rezept aus Deinem Geschmacksspektrum und hier ist die zugehörige Einkaufsliste.»
CW: Das wäre vergleichbar mit Amazons digitaler Assistentin Alexa für den Thermomix?
Ganns: Alexa oder Google Home sind in Wahrheit ja nur Zugangspunkte so wie Facebook oder WhatsApp. Unser Gerät und unser Ökosystem sind die «Intelligenz» dahinter. Der Thermomix wird von einem unserer Berater beim Kunden in der Küche installiert und der Kunde erhält eine persönliche Einführung – das ist aus Customer- Experience-Sicht unschlagbar. In Zukunft wird aber der Thermomix selbst noch aktiver werden und den Kunden kennenlernen. Mit Machine Learning können wir das Gerät für den Benutzer individuell einstellen. So könnte zum Beispiel anhand der Präferenzen des Kunden eine Vorauswahl aus den Tausenden verfügbaren Rezepten getroffen werden.
CW: Wo sind diese personenspezifischen Daten gespeichert? Auch bei Amazon in der Cloud?
Ganns: Nein. Personalisierte Kundendaten liegen ausschliesslich in der Schweiz bei einem lokalen Anbieter. In der Cloud sind lediglich anonymisierte Informationen gespeichert. In diesem Punkt ist Vorwerk etwas altmodisch, was ich aber auch ganz gut finde.
“Personalisierte Kundendaten liegen in der Schweiz. In diesem Punkt ist Vorwerk gern etwas altmodisch„
Julius Ganns
CW: Wer hat die Datenhaltung in der Schweiz bestimmt?
Ganns: Die Entscheidung basiert einfach auf Vorwerks Philosophie – wir bauen Produkte, die den Kunden begeistern sollen. Wir sind nicht im Datengeschäft und daher tun wir alles, um diese Daten stets sicher und geschützt zu halten. Ein Grund für meine persönliche Haltung sind auch die eigenen Erfahrungen mit dem Datenschutz. Ich teile selbst Daten mit bestimmten Firmen – schliesslich könnte ich sonst weder Amazons Alexa noch Google wirklich nutzen. Die zwingende Voraussetzung für die Datenfreigabe ist allerdings, dass ich allein die Entscheidung aktiv sowie freiwillig treffen und sie auch zurücknehmen kann.
Gemeinsam mit Kollegen hat Julius Ganns dem Vorwerk-Konzern ein neues Geschäftsfeld erschlossen
Quelle: Stefan Walter / NMGZ
CW: Sie erwähnten noch vakante Positionen. Welche Leute suchen Sie? Und: Wie rekrutieren Sie Fachkräfte?
Ganns: Wir haben einen neuen Ansatz gemeinsam mit unserer HR-Abteilung gewählt: Für Vorwerk Digital haben wir einen eigenen Recruiter eingestellt, der Kandidaten direkt über die Netzwerke anspricht. Einerseits sind das die gängigen Business-Portale wie LinkedIn & Co., andererseits aber auch die persönlichen Beziehungen und Empfehlungen der jeweiligen Kollegen vor Ort. Ich muss ehrlich sagen, dass die Mehrheit der Kandidaten nicht von allein auf Vorwerk zukommt. Dafür ist die Digitalsparte noch zu unbekannt. Wenn die Leute aber sehen, wie fortgeschritten die Technologie ist, werden viele hellhörig. Denn ein Unternehmen mit zwei Millionen IoT-Geräten, direktem Kundenkontakt über Apps, Berater und Webseiten sowie den Hunderten Millionen Datenpunkten verspricht auch interessante Jobs. Hinzu kommt die erwähnte Unternehmenskultur bei Vorwerk Digital mit den agilen Methoden, kurzen Entwicklungszyklen und den selbstständigen Teams. All dies ist auch nicht gerade typisch für einen Traditionskonzern.
Meine Anforderung an die Kandidaten ist, dass sie selbstständig und selbstbewusst arbeiten. Denn genau wie jeder andere habe auch ich mit meiner «Vorgesetzten-Meinung» nicht immer recht. Wenn ein Kollege eine gute Idee präsentiert, die ansonsten Unterstützung findet, von der ich persönlich aber nicht sofort überzeugt bin, bedeutet es noch lange nicht, dass er die Idee verwerfen muss.

Zukunftspläne

CW: Welchen Einfluss nimmt die Inhaberfamilie auf das Geschäft von Vorwerk?
Ganns: Die Familie ist im Beirat der Gruppe aktiv, also nicht im operativen Management. Das Geschäft wird geführt von persönlich haftenden Gesellschaftern, die das Unternehmen im Sinne der Familie langfristig führen. Insbesondere die Langfristigkeit bildet eine hervorragende Grundlage für das Geschäft – auch im Vergleich mit den Börsenkonzernen, bei denen ich früher unterwegs war.
CW: Heute muss ich viel Geld in die Hand nehmen, wenn ich ein Vorwerk-Produkt nutzen möchte. Ist die Sharing Economy ein Thema für Vorwerk Digital?
Ganns: Selbstverständlich wird die Sharing Economy in Zukunft auch bei Vorwerk eine Rolle spielen. Jedoch sind generell neue Geschäftsmodelle ebenfalls für uns wichtig. Die Kaufgewohnheiten der Menschen haben sich mittlerweile verändert – nehmen Sie beispielsweise die Modelle Care by Volvo oder Sixt Unlimited. Früher haben die Menschen so lange gespart, bis sie sich ein teures Produkt kaufen konnten. Heute zahlen sie in Raten, leasen das Produkt oder lösen ein Abo. Einige Optionen gibt es heute schon über die Vorwerk-Tochtergesellschaft akf Bank. In Zukunft kann es noch andere Modelle geben. Schon heute in der Sharing Economy aktiv ist Vorwerk bei den Rezepten. Die Kunden können eigene Kreationen der Community zur Verfügung stellen.
Julius Ganns sieht viel Potenzial für den Vorwerk-Konzern im Bereich Smart Home
Quelle: Stefan Walter / NMGZ
CW: Aktuell ist der Thermomix offenbar das Haupt­geschäft von Vorwerk Digital. Welche Pläne haben Sie zum Beispiel für die Staubsauger?
Ganns: Richtig, bis anhin waren nur die Küchengeräte der Fokus von Vorwerk Digital. Das wird sich schrittweise ändern, denn auch das Staubsauger-Business wird noch mehr digitale Lösungen bekommen. Wir haben ja jetzt bereits die dritte Generation des Saugroboters im Markt, die allerdings schon seit Jahren von anderen innovativen Teilen innerhalb der Gruppe entwickelt wird. Da gibt es viele naheliegende Anwendungsbereiche rund um ein smartes Zuhause. Der Trend zu autonomen, akkubetriebenen Haushaltshelfern ist nicht mehr aufzuhalten.
CW: Vorwerk hat noch weitere Geschäftsfelder. Wann lancieren Sie den intelligenten Teppich?
Ganns: [lacht] Stimmt, die Teppichwerke sind ein Traditionsgeschäft von Vorwerk. Es ist verhältnismässig klein, aber für die Unternehmerfamilie neben den Haushaltsgeräten dennoch recht wichtig. Die Idee für einen intelligenten Teppich ist schon Jahrzehnte alt: Dabei ging es um die Sicherheit im Haushalt. Wenn ein Bewohner stürzt und sich nicht mehr regt, kann das der Teppich registrieren und auch melden. Ein entsprechendes Feature wurde mal vor Jahren von Ingenieuren vorgeschlagen. Es schaffte es aber nicht zur Marktreife. Eine andere Anwendung wäre eine Augmented-Reality-App, die einen Vorwerk-Teppich virtuell in den Wohnraum legt. Eine spannende Technologie, die seit Kurzem auch für die Erklärung des Saugroboters eingesetzt wird.
Zur Firma
Vorwerk Digital
Das Familienunternehmen Vorwerk hat sich in seiner 135-jährigen Firmen­geschichte von einer Teppichfabrik zu einer internationalen Unter­nehmensgruppe ent­wickelt. Die Firma stellt heute Haushaltsgeräte, Kosmetika sowie Teppiche her und agiert auch als Finanzdienstleister. 2016 etablierte ein Manager-Team die virtuelle Organisation «Vorwerk Digital» in Zürich und an anderen Standorten, um digitale Ergänzungen für das Kerngeschäft zu entwickeln.



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