Smart Manufacturing 03.05.2024, 09:22 Uhr

Die smarte Fabrik – wo stehen wir?

Kollaborative Fertigungssysteme, die in Echtzeit auf Fabrikbedingungen, Liefernetzwerke und Kundenbedürfnisse reagieren, bilden den Kern von Smart Manufacturing. Die dafür genutzten Technologien haben das Potenzial, die Gesellschaft zu verändern.
(Quelle: Shutterstock/Gorodenkoff)
ICT-Anbieter stellen mächtige Infrastrukturen und Technologien zur Verfügung: Hybrid-IT, Multi-Cloud- Lösungen, hyperkonvergente IT-Infrastrukturen, private (Mobil-)Netze, Internet der Dinge (IoT), Robotic Process Automation (RPA), Blockchain, Digital Twins, Künstliche Intelligenz (KI) oder Quanten-Computing bzw. quanteninspiriertes Computing. Die aus solchen Technologien heraus entwickelten Lösungen haben das Potenzial, ganze Branchen – und selbst die Gesellschaft an sich – zu revolutionieren. Allerdings fehlt vielen Entscheidern in Industrie und Gesellschaft noch der Mut und/oder das Wissen, diese Technologien auch konsequent anzuwenden. Je nach Umfragen und abgefragter Technologie haben C-Level-Entscheider mehr oder weniger Probleme, die neuen Technologien in ihren Unternehmen einzusetzen. Genannte Probleme sind vor allem: Unkenntnis der Technologie, Kosten, mangelnde Basis-Infrastruktur, Prozess-Probleme, schlechte Daten-Struktur, Datensicherheit oder Zweifel am Nutzen der Lösung für die eigenen Unternehmensziele.

Industrie 4.0 – ein kurzer Überblick

Vereinfacht dargestellt sind die nötigen Voraussetzungen für Industrie 4.0-Anlagen: ein moderner Digitalisierungsstand der Fabrik (Hybrid Cloud, Hybrid IT), eine geeignete und gepflegte Datenbasis inkl. der notwendigen Verarbeitungssysteme (Server, Storage, ERP, CRM etc.), entsprechend benötigte Netzwerke (z.B. Privat 5 G) sowie Lösungen, die autonom und «intelligent» entscheiden können.
Automatisierung, FRID, Sensoren und datengestützte Überwachungen werden in der Fertigung schon lange eingesetzt. Im Vergleich zu früheren Generationen verkörpert Industrie 4.0 jedoch eine Optimierung industrieller Abläufe durch neue Technologien, Prozesse und Wertschöpfungsketten, die zu mehr Wettbewerbsfähigkeit und Kosteneffizienz führen. Die Hauptziele sind: intelligente und automatisierte Lieferungs- und Produktionsprozesse zur Steigerung der Effizienz und Senkung der Kosten, optimierte Integration von Wertschöpfungsketten zur Verbesserung der Arbeit und Anlagenproduktivität sowie die Einführung intelligenter Kontrollen für die vorausschauende Wartung von Anlagen zur Reduzierung von Ausfallzeiten. Anders ausgedrückt ist Industrie 4.0 ein Prozess, der von der Lieferung aller Komponenten über die Produktion bis zur Auslieferung an den Kunden komplett digitalisiert und nachvollziehbar ist. Bevor diese Prozesskette funktioniert, müssen die einzelnen Prozesse einfach definiert und sauber digitalisiert werden. Digitalisierung im Sinne von Industrie 4.0 ist am Ende auch die Voraussetzung für die Digitalisierung der gesamten Gesellschaft. Dabei geht es darum, mit Hilfe der für die Industrie entwickelten Lösungen, den Alltag aller Menschen zu vereinfachen. 

Smart Manufacturing und Smart Logistics

Intelligente Fertigung und Intelligente Logistik sind ein Teil von Industrie 4.0 und integrieren sowie automatisieren alle Abläufe innerhalb einer Fabrik und alle Liefer- bzw. Transportketten mittels neuer Technologien und Lösungen. Wichtige Stichworte sind hier: Asset Tracking, also die Überwachung und Verwaltung betrieblicher Ressourcen (von Waren, Maschinen, Inventar etc.). Zur Sicherheit der Produktion und der Maschineneffizienz erfolgt ein Condition Monitoring, basierend auf Echtzeitdaten. Die Qualität der Produkte wird mittels Smart Inspection gesichert, beispielsweise durch eine KI-Lösung. Zur Minimierung von Produktionsfehlern und zur Optimierung von Prozessen wird Digitales Shopfloor Management eingesetzt und selbst das Energie-Management in der Fabrik erfolgt automatisiert. Folgend wird an den Beispielen Produktion und Logistik gezeigt, wie und wofür Lösungen aus den genannten Technologien nützlich einsetzbar sind.

Digitale Transparenz von Assets in der Fabrik

Jeder Produktionsbetrieb braucht einen zuverlässigen Überblick über seine betrieblichen Ressourcen. Dazu gehören beispielsweise Hubwagen, Gabelstapler, Werkzeuge, der tatsächliche Materialfluss, der Materialverbrauch, der Schwund von Material. Mittels IoT-Sensorik lassen sich Paletten, Boxen, Fahrzeuge, Werkzeuge kabellos und weitgehend standortgenau tracken. Das System erfasst, welche Produktionsmittel ausgelastet sind, welche Waren aus dem Lager entnommen werden und wo sich Werkzeuge und Materialien aktuell befinden. Die Positionsdaten aller Assets lassen sich live auf einem virtuellen Fabrikplan abbilden und zu Analysezwecken speichern. Die Online-Ortung von Produktionsmitteln und Material ermöglicht beispielsweise die Nachverfolgung von Transportwegen; automatische Warnungen beim Abbau des Lagerbestandes verhindern Produktionsausfälle. Zudem kann der Lagerbestand mit einem Bestellsystem verknüpft werden, das automatisch notwendige Bestellungen auslöst.

Überwachung von Maschinen

Durch die automatisierte Aggregation und Überprüfung von Maschinendaten lassen sich frühzeitig Auffälligkeiten an Systemen erkennen. Durch KI kann Abnutzung oder der Verbrauch von Komponenten schnell erkannt werden. Im Gegensatz zu älteren Sensorik-Lösungen kann KI heute in Echtzeit genau erkennen, welche Teile abgenutzt sind und selbst­ständig die Neubestellung in einem angeschlos­senen Bestell-System auslösen. Das geht natürlich nicht nur bezüglich einer einzelnen Maschine oder eines einzelnen Systems, sondern funktioniert auch für ­einen gesamten Maschinenpark. So werden ungeplante Stillstandzeiten bei Maschinen oder Systemen vermieden.

Digital Fabric Management

Die Leistungs- und Funktionsparameter der Maschinen – und sogar des gesamten Produktionsprozesses – lassen sich mittels eines dedizierten Tools über ein Dashboard in Echtzeit darstellen, Auswertungen je nach Wunsch individuell anpassen. Eine visuelle Darstellung der Anlagen und Ausrüstung aus Sicht des Shopfloor-Managements komplettiert den Überblick. So kann der Produktionsstatus intuitiv aus Diagrammen, Tabellen und Statusindikatoren erfasst und ein umfassender Service für die vor- und nachgelagerten Prozesse gewährleistet werden. Das System bietet hohe Transparenz, Benachrichtigungen erfolgen automatisch. So können frühzeitig Abweichungen vom Toleranzbereich erkannt werden, die ggf. trotz hoher Automatisierung ein manuelles Eingreifen durch den Menschen erforderlich machen.
Die visuelle Darstellung der Anlagen vereinfacht die Kontrolle der vor- und nachgelagerten Prozesse
Quelle: Shutterstock/Gorodenkoff

Fertigungsanalyse

In der Elektronikfertigung werden Qualitätsprüfungen häufig mit sogenannten In-Circuit-Testadaptern (ICT-Adapter) durchgeführt. Im Laufe der Zeit verschlechtert sich die Zuverlässigkeit der Testergebnisse dieser ICT-Adapter – ohne dass tatsächlich ein Qualitätsproblem vorliegt. Das führt also zu falschen (negativen) Testergebnissen und damit zu unnötigen sowie kostspieligen erneuten Tests oder Reparaturen. Abhilfe schafft hier ein Statistik-Tool mit integrierter KI. Die Tests werden in Echtzeit ausgewertet, in die Lösung integriert sind die Fehlerraten für den jeweils gleichen Adaptertyp. Als Ergebnis kann die sich verschlechternde Qualität der Prüfung rasch erkannt werden. Ressourcen von Reparaturtechnikern müssen nicht mehr durch die Suche nach nicht vorhandenen Fehlern unnötig eingesetzt werden. Gleichzeitig lässt sich ein höherer Testdurchsatz erzielen, unnötige Wiederholungstests werden reduziert.

Qualitätsinspektion mittels KI und optischer Sensorik bzw. Röntgen

Sowohl die Automatisierung als auch die Qualität von Inspektionsprozessen lässt sich durch den Einsatz von speziell auf Produkte und Fehlerklassen trainierte KI-Algorithmen verbessern. Ein Beispiel dafür ist die Qualitätssicherung bei der Herstellung von Windrädern. Eine KI-Lösung beschleunigt eine zerstörungsfreie optische Prüfung dank schneller Bildverarbeitung und Deep Learning. Die Inspektionszeit für Turbinenblätter wird von sechs Stunden auf 90 Minuten reduziert. Einsatzmöglichkeiten für eine solche Lösung ergeben sich bei allen Anwendungen mit zerstörungsfreien Prüftechniken wie Ultraschall, Röntgen oder Infrarot. Die Deep Learning-Komponente dieses KI-Frameworks nutzt neuronale Netze zur Verarbeitung von Bilddaten für die Erkennung relevanter Muster. Die reale Datenanalyse wird in ein Bildanalyseformat mit Hilfe von AI umgewandelt und erlaubt damit eine automatisierte und beschleunigte Erkennung relevanter Muster.
“Technologien der Industrie 4.0 sind die Basis einer vernetzten und sicheren Gesellschaft 5.0„
Donal Greene

Fortschritt von AI gegenüber herkömmlicher Automated Optical Inspection (AOI)

Die AI lernt durch Fehlerbilder, statt durch programmierte Regeln. Sie kann sich schnell an sich ändernde Spezifikationen oder Produktvariationen anpassen. Sie reproduziert die Beurteilung von Experten und kennzeichnet auch unbekannte Defekte. Sie klassifiziert Fehlerarten und ist auch auf komplexe Bildtypen anwendbar, wie zum Beispiel Ultraschall, Röntgen oder CT. Hier ein sehr plastisches Beispiel für den Einsatz von AI in Verbindung mit Kamerasystemen in der Produktion: Ein Möbelhersteller hat eine enorme Anzahl von Mustern an verschiedenen Texturen und Farben, häufig auch nur auf Basis von Kunden-Referenzmaterial. Nur Spezialisten mit langjähriger Erfahrung können die gewünschten Furniere oder Dekore aus tausenden heraus identifizieren oder auf Basis von Kernmustern entscheiden, wie neue Produkte erstellt werden sollen. Hier entstehen hohe Kosten durch den manuellen Prozess. Die AI erkennt durch die Auswertung der Kamerabilder in Echtzeit zielsicher jedes einzelne der tausenden Furniere oder Dekore und kann das richtige sekundenschnell auswählen. Das reduziert die Abhängigkeit von aufwendig geschulten Spezialisten.
Als Teil von Industrie 4.0 hat Smart Logistics bereits Fuss gefasst in der Smart Society
Quelle: Shutterstock/Summit Art Creations

Flottenmanagement durch KI und Digital Annealer

Wer beispielsweise (LKW-) Lieferflotten im Einsatz hat, steht vor vielen Herausforderungen. Welche Transportwege sind überflüssig? Wie kann ich Wege optimieren? Wie kontrolliere ich die Warenauslieferung. Die Warenauslieferung lässt sich analog zum oben erklärten Asset-Management via IoT-Sensorik, (Hyper-)Vernetzung und KI-Unterstützung organisieren. Warenauslieferung, also die ideale Planung von Lieferwegen, ist hingegen ein Optimierungsproblem, das durch kombinatorische Optimierung gelöst werden kann. Dafür ist Quantencomputing in der Zukunft die wahrscheinlich ideale Technologie. Da Quantencomputing heute noch im Anfangsstadium steckt, gibt es Alternativen. Dazu gehören sog. Quantenemulatoren. Das sind Rechner, die quantenmechanische Effekte nicht exakt abbilden, sondern nachstellen – oder besser: nachahmen und ausnutzen. Diese Emulatoren produzieren sofort nützliche Ergebnisse. Ihre Leistung ist erstaunlich stark. Eine Bahn-Transport-Gesellschaft wollte Routen und Taktfrequenzen von Güterzügen optimieren. Bei etwa 700'000 Zugtrassen erfordert dies Optimierungsberechnungen mit einem hohen Komplexitätsgrad. Ein herkömmlicher Hochleistungsrechner bräuchte dafür etwa zwei Stunden, ein Quantenemulator vier Minuten. Wichtig ist auch die um rund zehn Prozent höhere Genauigkeit des quanteninspirierten Systems. Dadurch ist es möglich, mehr Güterzüge auf die Strecke zu bringen. Ein Autobauer hat diese Technologie eingesetzt, um die Bewegungen von Roboterarmen bei der Schweissnahtversiegelung zu optimieren. Mehrere Roboter arbeiten dabei parallel an einem Fahrzeug. Um den Vorgang zu beschleunigen, liess der Autohersteller 1,8 x 10106 Varianten der Bewegungsabläufe analysieren, die beim Versiegeln von 64 Nähten anfallen. Das Ergebnis: Die Bewegungen der Roboterarme konnten um bis zu 40 Prozent reduziert werden. Die Berechnung dauerte ausserdem nur etwa eine halbe Minute und war damit rund 17'000-fach schneller als mit einem herkömmlichen IT-System. Auf die gleiche Art und Weise lassen sich auch Wege von (LKW-) Lieferflotten optimieren.

Fazit

Technologien der Industrie 4.0 sind die Basis einer Gesellschaft 5.0 (auch Smart bzw. Trusted Society); also einer intelligenten, vollständig vernetzten sowie sicheren und nachhaltigen Gesellschaft. Beispiele für entsprechende Lösungen sind die autonome Verkehrsflussoptimierung, Digitalen Parkleitsysteme, automatisiertes Strassenzustandsmonitoring, Steuerung von Besucherströmen an öffentlichen Orten oder intelligentes Ressourcen-Monitoring für Energie und Luftqualität.  Aber gesellschaftliche, juristische und vor allem ethische Fragen müssen beantwortet und entsprechende Leitlinien vorgegeben werden. Wir müssen diese Entwicklungen wollen und weiter zielstrebig das Vertrauen in die zugrunde liegenden Technologien ausbauen.
Der Autor
Donal Greene
ist Lead Enterprise Architect bei Fujitsu Schweiz und war in den letzten 35 Jahren in der IT-Branche international und in verschiedenen Führungspositionen tätig. Als «Technology Evangelist» ist es ihm ein zentrales Anliegen, Kunden, Zulieferern sowie einem darüber hinaus interessierten Publikum, den Nutzen neuer Technologien darzustellen und deren praktische Anwendung in Wirtschaft und Gesellschaft voranzutreiben.



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