Swiss IT 2020: Sourcing-Strategien 15.05.2020, 09:37 Uhr

«Durch Corona sind plötzlich Dinge möglich, die vorher blockiert waren»

Hansjörg Bühler berät Firmen zu Sourcing-Strategien. Viele seien wegen Corona im Krisenmodus, sagt der Geschäftsführer von Soberano Sourcing. Sie laufen Gefahr, wichtige strategische Entscheidungen zu vernachlässigen. Der Virus habe aber auch Projektblockaden gelöst.
(Quelle: Unsplash)
Computerworld: Der Pandemiefall hat viele Unternehmen hart getroffen. Hat die Coronakrise auch dazu geführt, dass sie nun ihre Make-or-Buy-Strategie überdenken?
Hansjörg Bühler: Viele Unternehmen sind gerade im Krisenmodus und haben andere Prioritäten als Strategie-Arbeit anzupacken. Ich gehe aber davon aus, dass sie dies bald tun werden, um in solchen Krisen weniger verwundbar zu sein. Denn die These, dass Sourcing nur bei einer Kosteneinsparung von über 20 Prozent in Frage kommt, greift definitiv zu kurz.
CW: Viele Unternehmen sind stark von ihren Partnern abhängig. Inwieweit rächt sich das in der aktuellen Situation?
Bühler: Abhängig sind wir immer in unserer vernetzten Welt, aber alles selber machen ist keine realistische Option. Unternehmen müssen sich fragen, welche Abhängigkeiten sie bewusst eingehen wollen. Sie müssen die Wertschöpfungsketten kennen und wissen, wie sie Risiken minimieren können. Was sie die Notfallszenarien, was die Alternativen? Eine gute Sourcing- und Cloud-Strategie deckt diese Fragen ab. Im Scheinwerferlicht steht das Management der Partner – auch ohne Corona. Wie gehen wir miteinander menschlich, wirtschaftlich und ethisch um? Hier sind beide Seiten stark gefordert. Wir sollten unser Bewusstsein, unsere Werte und die der Partner schärfen.
Hansjörg Bühler ist Geschäftsführer der Firma Soberano Sourcing
Quelle: Soberano
CW: Inwiefern wirkt sich die Corona-Krise auf die Firmen aus, die sie beraten?
Bühler: Ich habe in den letzten Wochen viele vorher nicht vorzustellende Dinge erleben dürfen. So sind plötzlich Sachen möglich, die vorher durch ideologische Diskussionen blockiert waren. Die neue Realität und auch Verordnungen des Bundesrates haben die Regeln von sozialen Systemen verändert. Neue, kreative Lösungen entstehen. Digitalisierung findet nun prozessual mit experimentieren, lernen, anpassen, vorwärts gehen statt.
CW: Wie kann eine Änderung der Sourcing-Strategie helfen, diese Krise zu überwinden?
Bühler: Im Moment kämpfen viele Firmen um ihr Überleben. Die meisten unserer Kunden sind in einer guten Situation, da sie die technischen Voraussetzungen für Homeoffice bereits implementiert haben. Sie leben das Konzept schon oder können es rasch flächendeckend ausrollen, mit skalierbaren Systemen und variablen Kosten. Sie schonen so die Liquidität und generieren nicht unnötig Opex-Kosten. Ebenso haben die Kunden überall und jederzeit Zugriff auf Ihre Kernsysteme wie ERP, CRM, CAD und Werkzeugmaschinen. Das ist gerade jetzt ein bedeutender Vorteil.
CW: Was sollen Unternehmen nun konkret tun?
Bühler: Sie müssen Service-Modelle wie Public Cloud, Private Cloud, Multi Cloud, Onsite und Make gut ausbalancieren, um mehr Optionen zu haben. So können sie nicht nur überleben, sondern auch strategische Vorteile und eine höhere Innovationskraft erlangen. Wichtig sind dabei die Chancen, Risiken, Innovation, das Personal und nicht zuletzt die Kosten. Denn Make-or-Buy-Entscheidungen sind immer in einem übergeordneten Rahmen zu betrachten. Mit guten Marktkenntnissen wird sehr rasch ersichtlich, welche bestehenden Probleme mit marktüblichen Services und Innovationen gelöst werden können. In der Strategie wird die Make-or-Buy-Frage bearbeitet und anschliessend Sourcing- und Cloud-Services beschafft. In der Transformation werden diese Services integriert und das IT-System auf eine neue Ebene gebracht. Am Schluss muss das Unternehmen den Betrieb durch die IT und die Partner sicherstellen.

Kosten, Hyperscaler und mögliche Fehler 

CW: Wie wichtig sind die Kosten bei Make-or-Buy-Entscheidungen?
Bühler: Unternehmen müssen die richtige Balance finden: Zusätzliche Partner bringen mehr Komplexität, eventuell aber auch Kostenvorteile. Bei kleinem Volumen ist es zum Beispiel nicht sinnvoll, viele Partner einzubinden. Die im Business Case erhofften Kostenreduktionen werden durch ein zu komplexes Target-Operating-Modell eliminiert. Die Risiken für Betriebsunterbrüche steigen und auftretende Fehler zu erkennen und zu beheben ist eine grosse Herausforderung. Ein typisches Symptom dafür ist oft der permanente Feuerwehrmodus der IT-Organisation.
CW: Je mehr Partner, desto mehr Komplexität. Richtig oder falsch?
Bühler: Tendenziell kann ich dieser Aussage zustimmen, aber die Lösung ist nicht ein Partner für Alles. Auch wenn wir nur einen Infrastrukturpartner wählen, werden wir pro Anwendung oder Software-as-a-Service-Lösung je einen Partner haben. Ebenso können wir davon ausgehen, dass die Vielfalt der Services steigen wird. Und diese müssen wir auch intergieren – zumindest teilweise.
CW: Sind die Lösungen der grossen Cloud-Plattform-Anbieter ein Ausweg?
Bühler: Aktuell sind die grossen Cloud-Plattform-Anbieter im Vorteil. Sie haben eine gewaltige Innovationskraft, eine hohe Integration, Automatisierung, Standardisierung und digitalisierte Prozesse. Diese Plattformen wirken so der erhöhten Komplexität entgegen. Auf der anderen Seite werden insbesondere grössere Unternehmen sich gut überlegen, ob eine Single-Public-Cloud-Strategie langfristig sicher genug ist. Geopolitisch wird die Risikoeinschätzung der aktuellen Konzentration der wesentlichsten Public-Cloud-Plattformen in den USA an Bedeutung gewinnen. Ein kooperativer Lösungsansatz wie in lebenden Systemen könnte hier neue Möglichkeiten eröffnen.
CW: Was sind die grössten Fehler, die Unternehmen bei Make-or-Buy-Entscheidungen machen?
Bühler: In einer stark monetär geprägten Welt stürzen wir uns zuerst auf die Zahlen, also machen wir Wirtschaftlichkeitsüberlegungen. Dies alleine führt jedoch nie zu einer tragfähigen, langfristigen Lösung. Aus meiner Erfahrung basieren ganzheitliche und tragfähige Entscheidungen auf einem Business Case. Darin werden qualitative Kriterien wie Strategieunterstützung, Leistungserbringung, Technologie, Personal, Politische Tragfähigkeit mit wirtschaftlichen Kriterien wie Kosteneinsparung, CAPEX/OPEX und einer Nutzwertanalyse bewertet. Ich habe viele richtige Entscheide zugunsten von Buy gesehen, obwohl die geplante Kostenreduktion weniger als 20 Prozent war.
CW: Buy-Entscheidungen können zu einem Know-how-Verlust  führen. Was können Unternehmen dagegen tun?
Bühler: Jeder Entscheid, eine Leistung oder ein Produkt extern zu beziehen, ist mit einem Know-how-Verlust verbunden. Die Frage ist eher, ob dieses Know-how strategisch ist oder nicht. Diese Krise zeigt uns leider auf, dass wir uns vermehrt Gedanken über die Wertschöpfungsketten und Konzentration auf wenig Anbieter machen müssen. Wir erfahren gerade, wie verletzlich die Wirtschaft ist, und wie sehr die menschliche Existenz durch zu starke Fokussierung auf rein wirtschaftliche Themen in Gefahr gerät.
CW: Was sind die grössten Herausforderungen bei der Zusammenarbeit mit den Sourcing-Partnern?
Bühler: Zu einer Sourcing- und -Cloud-Strategie gehört ein Target-Operating-Modell. Es klärt das Zusammenspiel der Services mit der internen IT und den Partnern. Leider wird dieses Thema in der Strategiearbeit zu wenig oder gar nicht bearbeitet. Firmen merken dann spätestens in der Management-Phase, dass die IT nicht mit genug finanziellen Mitteln und Ressourcen ausgestattet ist, um den Betrieb sicher zu stellen. Die Partner sollten darum vertraglich, organisatorisch und prozessual mit einem Sourcing-Governance-Modell eingebunden sein.
Der Autor
Marcel Urech
ist freier Technologie-Journalist und eidgenössisch diplomierter Web Project Manager.



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