Patrick Naef über CIOs
07.01.2021, 11:12 Uhr
«Virtualisieren von Objekten birgt viel Potenzial»
Vielenorts befassen sich CIOs mit dem Automatisieren von Geschäftsprozessen. Das genügt nicht, wenn die Produkte demnächst nur noch virtuell «hergestellt» werden, sagt Patrick Naef.
Patrick Naef leitete während Jahrzehnten die IT-Organisationen von Luftfahrtgesellschaften
(Quelle: Emirates)
Über die sich verändernde Rolle des CIOs in Zeiten der Digitalisierung unterhalten sich Branchenvertreter regelmässig mit Computerworld. Einer von ihnen ist Patrick Naef, früherer Konzern-CIO der Fluggesellschaft Emirates. Er warnt seine Berufsgenossen, sich nicht in die Rolle des «Chief Legacy Officers» drängen zu lassen. Und er ermutigt sie, die wachsende Bedeutung der IT für das Geschäft zu nutzen, um ihren Einfluss auf das Business zu erhöhen.
Computerworld: Der Software kommt in der digitalisierten Wirtschaft eine Hauptrolle zu. Wenn wir dies zu Ende denken, sollte sich jedes Unternehmen zu einem Entwicklungshaus wandeln.
Patrick Naef: Mehr noch: Wenn man sich all die physischen Objekte ansieht, die wir noch vor einem Jahrzehnt benutzt haben, wird deutlich, dass viele von ihnen buchstäblich in ihrer physischen Form verschwunden sind und nun mehr als Daten oder Dienste in der Cloud oder als App auf unserem Smartphone oder Tablet «existieren». Dieser Trend zur Dematerialisierung und Virtualisierung von physischen Objekten wird auf die meisten Unternehmen fundamentale Auswirkungen haben. Während einige Branchen, wie zum Beispiel die Foto- und Musikindustrie, diese Auswirkungen bereits erlebt haben, müssen sich viele andere Unternehmen erst noch damit auseinandersetzen.
Noch vor einem Jahrzehnt wurde der Grossteil der Musik auf physischen Tonträgern wie CDs, Schallplatten usw. verkauft. Heute wird die grosse Mehrheit der Musik online gestreamt oder heruntergeladen. Physische Tonträger sind fast verschwunden. Vor zwanzig Jahren wurden Fotos meist in physisch auf Papier gedruckt an die Kunden geliefert. Heute ist der Fotodruck und -vertrieb buchstäblich verschwunden, und die Fotos werden in den meisten Fällen elektronisch verteilt.
CW: Die Foto- und die Musikbranche haben wirtschaftlich stark gelitten…
Naef: Das stimmt. Mit der Virtualisierung von Objekten sind die marginalen Kosten dieser Objekte auf null gesunken. Gleichzeitig ist ihre Vervielfältigung, das Klonen und die Verteilung ohne Zeitverzögerung zur Realität geworden. Dies ist tatsächlich eine grosse Verlagerung von der physischen zur virtuellen Welt. Ein Wecker ist auf einem Smartphone kostenlos enthalten, ein Videorekorder als physisches Gerät wurde virtualisiert und steht heute als kostenloser Dienst in der Cloud als Teil Ihres Streaming-Abonnements zur Verfügung. Musik im MP3-Format kann rein technisch unbegrenzt kopiert und verteilt werden (wenn wir die Urheberrechtsfragen für einen Moment ignorieren), Speicherplatz für digitale Fotos ist in riesigen Mengen auf unseren Geräten oder in der Cloud verfügbar und praktisch kostenlos, Gratis-Landkarten auf unserem Smartphone oder Tablet haben physische Karten auf Papier längst ersetzt, usw.
Die Digitalisierung führt dazu, dass jedes Objekt, das Informationen erfasst/sammelt (Kamera, Mikrofon usw.), Informationen speichert (Bücher, Filmrollen, Musikkassetten, CDs, DVDs usw.), Informationen bearbeitet (Sprachübersetzer, Taschenrechner usw.) oder Informationen anzeigt (Uhr, Ticket, Identifikationsmittel wie Ausweise, Kreditkarten, Reisepass, Schlüssel usw.), das Potenzial hat, in eine App oder einen Dienst in der Cloud oder auf unserem Smartphone dematerialisiert oder virtualisiert zu werden.
Zur Person
Patrick Naef
war von 2006 bis 2018 der Konzern-CIO der Fluggesellschaft Emirates in Dubai. 2011 wurde er von den Lesern des deutschen Magazins «CIO» zum «CIO der Dekade» gewählt. Zuvor amtete der Schweizer als CIO bei SIG sowie Swissair und hatte Führungspositionen bei der Zurich Versicherung, HP und Bank Julius Bär inne. Heute begleitet Naef Organisationen bei der Digitalisierung, unterstützt Geschäftsleitungen bei IT-Themen und coacht IT-Führungskräfte und Start-ups. Er ist Managing Partner bei der Executive-Search-Firma Boyden in Zürich sowie Partner bei Acent in Deutschland und sitzt im Verwaltungsrat der Franke.