Bestandsaufnahme
20.03.2019, 11:28 Uhr
Künstliche Intelligenz – zwischen Hype und Praxis
Der Rummel um das Thema künstliche Intelligenz ist riesig, verspricht die Technologie doch grosses Disruptionspotenzial. In der Praxis ist sie zwar auf dem Vormarsch, im grossen Stil kommt sie aber noch nicht zum Einsatz.
Spieglein, Spieglein an der Wand, wann kommt die KI ins ganze Land? Spiegelbild eines Roboters am Forschungsinstitut Idiap in Martigny, das mit dem Kanton Wallis und der Fernuni Schweiz einen neuen Master in künstlicher Intelligenz eingeführt hat
(Quelle: Keystone/Adrien Perritaz)
Künstliche Intelligenz gehört momentan zu den Trend-Themen schlechthin. Kaum ein Tag vergeht, an dem man nicht von Robotern hört, die uns entweder das Leben erleichtern sollen oder in Zukunft den Job streitig machen werden. Doch ist die Technologie wirklich schon so weit, wie reisserische Schlagzeilen teilweise vermuten lassen? Schweizer Unternehmen setzen sich jedenfalls zunehmend mit dem Hype-Thema KI auseinander, wie die Auswertung der Swiss-IT-Studie zeigt. Im Vergleich zum Vorjahr beobachten insgesamt mehr Firmen die Entwicklung in diesem Bereich (vgl. Grafik). Die Anwender sind jedoch nach wie vor deutlich in der Minderheit. Während momentan weniger Unternehmen KI-Experimente durchführen als noch im Vorjahr, nahm dafür der Anteil jener deutlich zu, die bereits erste Projekte gestartet haben. Auch spielt KI nur noch für die Arbeitgeber eines knappen Drittels der Befragten keine Rolle.
Dass die verheissungsvolle Technologie gerade bei Grossbetrieben durchaus bereits eine Rolle spielt, zeigt eine Untersuchung von Microsoft und EY. Das Beraterhaus klopfte im Auftrag des Herstellers europaweit bei insgesamt 277 Konzernen an und fragte nach, wie sie bereits von KI profitieren. Auch 20 Grossunternehmen aus der Schweiz lieferten Antworten. Zwar setzen erst die Arbeitgeber von 4 Prozent der befragten Geschäftsleitungsmitglieder sowie Vertreter des oberen und mittleren Managements KI in einer grösseren Zahl von Prozessen und anspruchsvolleren Tätigkeiten ein. Aber deren Startvorsprung ist wertvoll: «Firmen kommen heute zwar noch ohne KI aus, werden es mittelfristig aber schwieriger haben, sich gegen die Frühanwender zu behaupten», sagt Marc Holitscher, National Technology Officer von Microsoft. «Eine wichtige Rolle spielt die Erfahrung, denn die Lernkurve ist steil», fügt er hinzu.
Kunden und Mitarbeitende profitieren
Geht es um den Fortschritt in der Arbeit mit der Technologie, gehört die Finanzbranche zu den führenden Sektoren, wie die Daten von Microsoft und EY aufzeigen. Computerworld hat deshalb der Credit Suisse den KI-Puls gefühlt und nachgefragt, wie es in dieser Hinsicht um die Grossbank steht. Mario Crameri, Head Swiss Universal Bank IT & Operations, erklärt: «Banken sind prädestiniert dafür, KI einzusetzen. Sie verfügen über Unmengen digitaler Daten. Im Moment ist es aber noch nicht so, dass KI unseren Geschäftsalltag bestimmt. Zurzeit setzen wir KI sehr selektiv ein und gewinnen Erfahrungen zum konkreten Potenzial.» Die Grossbank wende in der Schweiz heute KI-Lösungen in Form selbstlernender, sprachgesteuerter Assistenzsysteme ein, sagt Crameri. «Die Technologie ermöglicht uns, wiederkehrende Muster bei Kundenanfragen zu erkennen und unsere Kunden aktiver zu betreuen, indem wir ihnen auf sie zugeschnittene Informationen automatisiert über unsere Kanäle bereitstellen und auch ausserhalb regulärer Öffnungszeiten Anfragen beantworten können.»
“Im Moment ist es noch nicht so, dass KI unseren Geschäftsalltag bestimmt. Zurzeit setzen wir KI sehr selektiv ein und gewinnen Erfahrungen zum konkreten Potenzial„
Mario Crameri, Credit Suisse
Im fachlichen Support für die Kundenberatung komme zudem ein interaktives System als Schnittstelle zwischen menschlicher und maschineller Kommunikation zum Einsatz, das die Bearbeitung von Standardanfragen «deutlich vereinfache». KI bringe dort «eine enorme Arbeitserleichterung» für die Mitarbeitenden. «Einen grossen Teil ihrer Zeit mussten sie bisher in die Beantwortung sich wiederholender Standardfragen investieren. Dies wird ihnen nun von der KI abgenommen und die Mitarbeitenden können sich um die wirklich kniffligen Probleme kümmern.» Die Kundenberater profitierten so von einem zeitunabhängigen, schnellen Zugriff auf das interne Bank-Know-how.
KI im Front- und Backoffice der UBS
«Ich bin skeptisch, wenn ich lese, dass bei Banken jetzt KI über Kredite entscheidet», sagt Annika Schröder, Direk-torin für künstliche Intelligenz bei der UBS. Zwar habe die Technologie auch bei der UBS eine «gewisse» Relevanz im Tagesgeschäft, «aber vieles steckt auch im Experimentierstadium und die Arbeit mit vielen Algorithmen findet zunächst in abgeriegelten Labs statt». Auch bewege man sich nach wie vor ausschliesslich im Feld der «Narrow AI» (vgl. Kasten). Man arbeitet also mit spezialisierten Anwendungen auf Basis hochqualitativer Daten, die entsprechend reich an Mustern sind und relativ einfache Szenarien mit geringer Umfeldkomplexität darstellen.
“Ich bin skeptisch, wenn ich lese, dass bei Banken jetzt KI über Kredite entscheidet„
Annika Schröder, UBS
Die KI-Expertin fügt zwei Beispiele an, die aufzeigen, wie KI in der Bank angewendet wird: Im Bereich Frontoffice kooperiert die UBS-Investmentbank mit dem New Yorker Start-up Tradelegs und entwickelt optionsbasierte Strategien. Machine Learning wird dort gemäss Schröder angewendet, um in den Optionsmärkten Muster oder Informationen zu erkennen, die Menschen aufgrund der dort verarbeiteten Datenmenge nur schwer mit anderen Methoden entdecken könnten. Letztlich werde mithilfe kombinatorischer Optimierung ein Options-Portfolio zusammengestellt, das den Risiko- und Return-Erwartungen der Kunden entspreche. Im Backoffice installierte die UBS einen Chatbot, der im IT-Support die Mitarbeitenden bei der Lösung von Appli- kationsproblemen unterstützt. Der «Smartbot» gibt im Chat Hilfestellung für übliche Lösungswege. Teilweise könnten damit bereits auch Problemlösungsschritte automatisiert durchgeführt werden, sagt Schröder.
KI ist omnipräsent
Die Finanzindustrie ist mit dem Experimentieren und dem Einsatz von KI freilich nicht allein auf weiter Flur. Im Branchenvergleich liegen Banken und Versicherungen punkto KI-Reife gemäss der Studie von Microsoft und EY insgesamt auf Platz drei. Den ersten Rang belegt in dieser Hinsicht der Bereich TMT (Technology, Media/Entertainment & Telecom), gefolgt vom Dienstleistungssektor. Allerdings beschäftigt das Thema sämtliche Segmente. In allen wurden bereits Projekte realisiert, pilotiert oder sind in Planung.
Mit Methoden aus der KI-Welt beschäftigt sich beispielsweise das Bundesamt für Meteorologie und Klimatologie MeteoSchweiz. Anwendungen seien dort aktuell in Entwicklung, heisst es. Man untersuche verschiedene Einsatzgebiete für neuronale Netze, unter anderem zur Verbesserung der Nebelvorhersage für den Flughafen Zürich, zur statistischen Nachbearbeitung rechnergestützter Wetterprognosen oder für das Nowcasting – die Vorhersage von Niederschlag und Gewittern innerhalb der nächsten Minuten bis maximal sechs Stunden.
Im Bahnverkehr packt die Branche mit «SmartRail 4.0» ein Programm an, mit dem sie die Auslastung auf dem dicht befahrenen Schienennetz bei bestehender Infrastruktur nochmals um bis zu 30 Prozent steigern will. Ein neues Verkehrsmanagement-System soll dabei dafür sorgen, dass bei einer Fahrplanabweichung – etwa aufgrund von Verspätungen – in Sekundenschnelle mehrere Lösungsvarianten bereitstehen und an andere Systeme weitergeleitet werden können. An «SmartRail 4.0» beteiligt sind die SBB, die BLS, die Schweizerische Südostbahn, die Rhätische Bahn sowie der Verband öffentlicher Verkehr.
Und auch in der Konsumgüterbranche, die gemäss Studie am wenigsten KI-Reife aufweist, werden Projekte angegangen. Der Kiosk-Betreiber Valora arbeitet mit dem Silicon-Valley-Start-up AiFi an einem vollautomatisierten Kiosk. Dieser soll ganz ohne Verkaufspersonal auskommen. Das geplante Konzept nennt sich «k kiosk box», eine Auto-Checkout-Lösung übernimmt mittels Kameras, Sensoren und KI die Arbeit der Kassierer.
Erklärung
Starke und schwache KI
Bei der künstlichen Intelligenz wird zwischen einer starken und einer schwachen Form unterschieden. Unter starker KI (engl. «Strong AI») versteht man Ansätze, die versuchen, Vorgänge im menschlichen Gehirn nachzubilden. Eigenschaften wie Bewusstsein oder Empathie werden häufig als entscheidende Merkmale genannt, die starke KI ausmachen. Beispiele der schwachen KI (engl. «Weak AI» oder «Narrow AI») sind in heutigen Software-Lösungen dagegen bereits zu finden. Im Gegensatz zur starken KI geht es hier aber darum, Algorithmen für bestimmte abgegrenzte Problemstellungen zu entwickeln. Beide Ansätze verbindet jedoch die wesentliche Anforderung der Lernfähigkeit.
Quelle: Buxmann und Schmidt, «Künstliche Intelligenz», Springer-Gabler, 2019
Machine Learning ist der Überflieger
Microsoft und EY ermittelten im Rahmen der Studie die KI-Ansätze, die bei den Anwendern am meisten eingesetzt werden. An der Spitze steht hierbei Machine Learning, gefolgt von neuronalen Netzwerken und der Textanalyse. 90 Prozent der Schweizer Unternehmen arbeiten gleichzeitig mit mehr als einem Ansatz. Annika Schröder deutet darauf hin, dass nicht alle Ansätze ohne Weiteres einsetzbar sind. Bei den sogenannten «Black Box»-Methoden wie Deep Learning bzw. neuronalen Netzwerken müsse die UBS beispielsweise ganz genau analysieren, ob eine Umsetzung überhaupt möglich sei. «Wir müssen in den meisten Anwendungsfällen eine Erklärbarkeit gewährleisten können und diese Methoden machen das sehr schwierig.»
Ihren Ausführungen zufolge ist die Wahl der richtigen Methode deshalb grundsätzlich ein wichtiger Schritt. Jedes Projekt werde individuell beleuchtet, wobei angeschaut wird, was das Problem ist, das die Maschine in diesem Bereich lösen soll, wie gut sie es lösen soll, wie die Datensituation ist und wie sensitiv oder stark reguliert das Thema ist. Denn obwohl im Bankbereich viele Daten vorhanden sind, sei es nicht immer möglich, diese zu nutzen, erklärt die UBS-Frau. «Als Bank ist es wichtig, Kundendaten zu schützen. Dazu kommen bestimmte Regeln, die von den Regulatoren aufgestellt werden, wie eine Bank Software entwickeln kann und Daten verwenden darf. Diese Regeln machen es beispielsweise schwierig, sich einfach aus den Produktionssystemen kundenbezogene Daten zu holen und damit zu experimentieren.» Ausserdem, sagt Schröder, sei auch nicht immer maschinelles Lernen des Rätsels Lösung. «Manchmal kommen wir auch einfach zum Schluss, Analytik zu machen.»
Knackpunkt: Change Management
Marc Holitscher rät Unternehmen insgesamt, mit einfachen Anwendungen den Schritt in die KI-Welt zu wagen. Die ersten Projekte müssten aus seiner Sicht besonders eines sein: erfolgreich. «Dies wird genügend Interessengruppen in der Firma überzeugen, in weitere KI-Projekte zu investieren», ist er überzeugt. Entscheidend sei dabei, von Beginn weg eine möglichst konkrete Idee vom erwarteten Resultat zu haben und messbare Erfolgsindikatoren für den Weg dahin zu definieren. Auch die Kultur ist für ihn eine entscheidende Komponente: «Es braucht eine gewisse Offenheit zu experimentieren. Und es braucht Mut, bestehende Prozesse, Produkte und Services zu hinterfragen.» Für Mario Crameri ist aus Erfahrung bei der Einführung von KI nicht die Technologie die grösste Herausforderung, sondern das Change Management. Es gelte deswegen, ein Gebiet auszuwählen, wo das Potenzial von KI schnell ersichtlich wird, und Sponsoren zu finden, die das Projekt tragen – Unterstützer aus der Geschäftsleitung sowie Anwender, die für die Technologie offen sind. «Die Teams müssen lernen, damit umzugehen und sich darauf einzulassen.»
“Es braucht eine gewisse Offenheit zu experimentieren. Und es braucht Mut, bestehende Prozesse, Produkte und Services zu hinterfragen„
Marc Holitscher, Microsoft
Auf die Technologie eingelassen haben sich laut Annika Schröder die Mitarbeitenden der UBS. Denn KI sei in vielen Fällen dazu gedacht, Menschen zu assistieren sowie Arbeit wertvoller und informierter zu machen. «Es geht dabei nicht um die Vollautomatisierung und den Ersatz ganzer Abteilungen oder Funktionen», betont sie. Die menschliche Expertise wird die Bank beibehalten. «Das Bankgeschäft ist ein Vertrauensgeschäft und Vertrauen schaffen Menschen. Auch mit unserem Multikanal-Ansatz werden Kunden ihre finanziellen Ziele weiterhin mit einem Berater besprechen wollen.» Künftig werde es aber dennoch eine stärkere Beimischung von Technologie geben. Für sie ist klar: «KI ist zusammen mit Blockchain einer der wichtigsten Innovationstreiber und wird die Finanzbranche sowie deren Geschäftsmodelle grundlegend beeinflussen.»
Erklärung
Machine Learning in drei Sorten
Das maschinelle Lernen lässt sich grundsätzlich in drei Arten unterscheiden: Supervised Learning (überwachtes Lernen), Unsupervised Learning (unüberwachtes Lernen) und Reinforcement Learning (verstärkendes Lernen). In die Kategorie des Supervised Learning fallen Algorithmen, die – um selbstständig Entscheidungen treffen zu können – erst mit klassifizierten Daten trainiert werden. Der Lernprozess basiert dabei auf einem Trainingsdatensatz, die Evaluierung des Modells erfolgt danach anhand eines Testdatensatzes. Ansätze des Unsupervised Learning versuchen dagegen, Muster in bestehenden Daten zu finden – ohne im Voraus bekannte Zielwerte. Der Algorithmus muss dabei selbst Kategorien finden. Beim Reinforcement Learning soll für ein bestimmtes Problem eine optimale Lösung erlernt werden. Dabei kommt eine maximierende Anreiz- oder Belohnungsfunktion zum Einsatz. Dem Algorithmus wird zwar nicht gezeigt, welche Aktion in einer bestimmten Situation die beste ist, seine Wahl wird aber entweder bestraft oder belohnt.
Quelle: Buxmann und Schmidt, «Künstliche Intelligenz», Springer-Gabler, 2019