Neuer Geschäftsführer, Auticon Schweiz
10.12.2019, 06:19 Uhr
«Autisten, die still ihre Arbeit machen, kommen oft unter die Räder»
Stephan Gutzwiller leitet neu Auticon Schweiz. Das IT-Beratungshaus beschäftigt Menschen im Autismus-Spektrum als Consultants. Im Interview erklärt Gutzwiller wie es zum Wechsel kam und wie Firmen und gemischte Teams von Menschen, die anders denken profitieren können.
Computerworld: Sie haben Anfang November die Führung der Auticon Swiss AG von Markus Weber übernommen. Wie ist es zu dem Wechsel gekommen?
Stephan Gutzwiller: Das war ein glücklicher Zufall. Ich habe bei meinem alten Arbeitgeber zum ersten Mal von Auticon erfahren. Unser Unternehmen war der erste Kunde von Auticon in der Schweiz und ich hatte in meiner Unit einen Auticon-Consultant im Data-Quality Team eingesetzt. Diese Erfahrung und auch das Businessmodell von Auticon haben mich sofort angesprochen. Durch regelmässigen Kontakt mit dem Job-Coach und Markus Weber habe ich immer mehr über die Firma und das Thema Autismus am Arbeitsplatz erfahren.
Markus Weber pendelte mehrmals pro Woche in die Schweiz, was auf Dauer nicht mit einem geregelten Familienleben vereinbar war. Als er dann Ende letzten Jahres auf mich zugekommen ist und gefragt hat, ob ich mir vorstellen könnte die Auticon in der Schweiz zu übernehmen habe ich mir gesagt, dass dies ein Wechsel ist, der mich reizt und herausfordert. Es ist nicht selbstverständlich, dass man in meinem Alter so eine Chance bekommt. Nach 18 Jahren ist mir der Abschied vom alten Arbeitgeber nicht leicht gefallen aber ich habe seit meinem Beginn am 1. November noch keinen Tag bereut diesen Schritt gewagt zu haben.
CW: Wie haben Sie die Auticon Swiss AG vorgefunden?
Gutzwiller: In ausgezeichnetem Zustand. Das Unternehmen ist 2019 stark gewachsen und hat trotzdem alle Finanzziele erreicht und sogar mit einem kleinen positiven Ergebnis abgeschlossen. Wir haben eine gute Kundenbasis und etliche spannende Leads, die ich im 2020 verfolgen werde.
CW: Wie sieht Ihre Strategie für Auticon Schweiz aus?
Gutzwiller: Never change a winning Team. Wir haben ein tolles Team von Consultants und Job-Coaches. Wenn alles läuft wie geplant, dann werden wir in der Schweiz auch im nächsten Jahr weiterwachsen, wie übrigens auch die ganze Auticon Gruppe.
CW: Wo sehen Sie noch Schwächen im Business von Auticon und wie wollen Sie diese angehen?
Gutzwiller: Momentan platzieren wir meistens einzelne Consultants in einzelnen Projekten bei unseren Kunden. Dies führt dazu, dass wir sehr viel unterwegs sind um unsere Aufgaben als Job- und Content-Coach wahrzunehmen. Wenn wir mit schlanken Strukturen weiterwachsen wollen, dann müssen wir es schaffen ganze Teams, die beispielsweise einen ganzen Bereich des Testens abdecken, bei Kunden zu platzieren. Hier ist das Problem, dass die Kunden oft Bedenken vor zusätzlichem Aufwand für das Management unserer Consultants bekunden. Eine Idee, die ich habe ist daher, dass wir nicht autistische Projektleiter einstellen und als Teamleiter bei den Kunden platzieren. Diese würden dann einerseits die Schnittstelle zu den Kunden wahrnehmen und andererseits unser Team von Consultants managen. Je nachdem was der Kunde wünscht könnte man dann einen langsamen Handover zu einem Projektleiter des Kunden umsetzen. In ersten Gesprächen mit Kunden ist diese Idee auf fruchtbaren Boden gefallen, so dass ich gute Chancen sehe sie nächstes Jahr umzusetzen. Es ist aber wichtig, dass die Betreuung durch unsere Job-Coaches weiterhin bestehen bleibt.
CW: Wo wollen Sie mit Auticon in einem Jahr stehen?
Gutzwiller: Wir wollen weiter wachsen eventuell ein bis zwei neue Standorte in der Schweiz eröffnen und bei einer Handvoll Kunden als einer der bevorzugten Provider für Einsätze wo unsere Stärken liegen gelten. Es sollte all unseren Kunden klar sein, dass ein Auticon Consultant zwar teuer ist als entsprechende Leute von Out- oder Nearshoring Providern, dass aber die Nähe zum Einsatzort und die speziellen Fähigkeiten unserer Mitarbeitenden diesen Preisunterschied mehr als wett machen. Ebenso sollte immer mehr Firmen klar werden, dass Neurodiversität und Querdenken einen wertvollen Beitrag für die Firmenkultur leisten können.
Erfolg mit Menschen im Autismus-Spektrum
CW: Ihr Unternehmen beschäftigt ausschliesslich Menschen im Autismus-Spektrum. Worauf müssen Sie dabei besonders achten?
Gutzwiller: Es ist wichtig, dass wir unsere Mitarbeitenden genau kennen und wissen, welche Fähigkeiten und Stärken sie mitbringen, und welche Art von Projekten ihnen besonders liegen. Auch auf die speziellen Bedürfnisse der einzelnen Mitarbeitenden müssen wir achten. Einige brauchen zum Beispiel eine besonders ruhige Ecke, andere arbeiten nicht gerne unter grellem Licht oder schütteln nicht gerne Hände.
CW: Arbeit muss heute agil und flexibel sein. Wie gehen Autisten mit diesen Anforderungen um?
Gutzwiller: Kommt darauf an. Grundsätzlich kümmert sich Auticon darum, dass Autisten nicht mehrere Sachen parallel machen müssen. Agiles Arbeiten per se ist nicht ungeeignet, da es einem Autisten ja erlaubt, sich auf eine Aufgabe zu fokussieren, diese abzuschliessen und dann die nächste anstehende Aufgabe abzuarbeiten. Wichtig ist, dass die Aufgaben hinreichend gut definiert sind.
“Es ist nicht selbstverständlich, dass man in meinem Alter so eine Chance bekommt„
Stephan Gutzwiller, Auticon
CW: Wie können Firmen eine autismusfreundliche Arbeitsumgebung schaffen?
Gutzwiller: Auch das hängt vom jeweiligen Autisten ab. Keine zwei sind gleich. Generell hilft es, wenn die neurotypischen Mitarbeitenden wissen, dass ein Mitarbeitenden Autist ist und offen sind, kleine Anpassungen mit Hinblick auf das Arbeitsumfeld und neue Arbeitsweisen vorzunehmen.
CW: Alle reden von Open Space und Desk Sharing. Ein Albtraum für Autisten?
Gutzwiller: Kann durchaus sein. Auticon sorgt aber dafür, dass ein spezieller Arbeitsplatz für unsere Mitarbeitenden reserviert wird, wenn das für den Consultant nötig ist. Andere wiederum gehen einfach entsprechend früh zur Arbeit, um immer den gleichen Platz zu haben. Letzteres machen aber auch neurotypische Mitarbeitenden.
CW: Wie bewerten Sie Grossraumbüros, Home oder Remote Offices?
Gutzwiller: Home oder Remote Office ist für viele Mitarbeitenden von uns eine gute Option - allerdings nicht ausschliesslich. Bei einem 100-Prozent-Pensum empfehlen wir maximal 2 Tage Home Office. Speziell für IT-Jobs ist es heutzutage zum Glück oft möglich, remote zu arbeiten. Bei der Arbeit im Grossraumbüro müssen die individuellen Bedürfnisse geklärt werden, damit Mitarbeitende so platziert sind, dass sie sich an ihrem Arbeitsplatz wohl fühlen und konzentriert arbeiten können.
Stärken von Autisten im Arbeitsalltag
CW: Welche besonderen Stärken haben Autisten im Arbeitsalltag?
Gutzwiller: Sie haben ein ausgeprägtes logisches Denkvermögen. Es ist eine Voraussetzung, um bei Auticon einen Job zu bekommen. Autisten sind zudem stark darin, Muster, Details, Anomalien und mögliche Fehler zu erkennen. Sie können sich extrem gut fokussieren und sehr konzentriert arbeiten, auch wenn sie repetitive Aufgaben erledigen müssen. Wir schätzen zudem, dass ehrlich und unbestechlich kommunizieren - Autisten reden nicht um den Brei herum. Es gilt aber hier anzumerken, dass diese Stärken auch als Schwächen ausgelegt werden können. Zum Beispiel, wenn zu viele Fehler gefunden werden, weil einer unserer Mitarbeiter zu genau hinschaut.
CW: Was sind die grössten Fehler der Unternehmen im Umgang mit Autisten?
Gutzwiller: Es werden nicht die Fähigkeiten der Autisten gesehen, sondern ihre Andersartigkeit. Wenn jemand seinem Gegenüber nicht in die Augen schauen kann, dann besteht die Möglichkeit, das falsch zu interpretieren. Autisten, die still ihre Arbeit machen, können sich in der Regel schlecht verkaufen und kommen unter die Räder. Hier kann Auticon wiederum helfen.
CW: Wie profitiert ein Projektteam, das autistische und nicht-autistische Mitarbeiter durchmischt?
Gutzwiller: Ein anderer Blickwinkel ist erfrischend. Es werden andere Aspekte von Problemen wahrgenommen. Auch kann es helfen, wenn Feedback sehr direkt kommt. Hier tun sich neurotypische Mitarbeiter oft schwer. Da Autisten nie auf die Person spielen, sondern immer auf die Sache fokussieren, kann dies sehr hilfreich sein. Es hat auch schon Fälle gegeben, wo ein Projektteam realisiert hat, dass es nicht nur für Autisten von Vorteil ist, wenn nicht zehn Sachen parallel abgearbeitet werden müssen. Andere Kunden berichten, dass sich die Kommunikation seit der Zusammenarbeit mit einem autistischen Consultant im gesamten Team in Richtung Ehrlichkeit, Direktheit und Klarheit verbessert hat. So können potenzielle Missverständnisse frühzeitig geklärt und die Effizienz gesteigert werden.