Interview mit Christian Keller
04.11.2024, 08:45 Uhr
«Digitalisierung ist ein Lernprozesss»
IBM ist seit fast 100 Jahren in der Schweiz präsent. Christian Keller, CEO von IBM Schweiz, spricht über die Geschichte des Unternehmens, die Herausforderungen und Chancen der Digitalisierung und die Bedeutung von Innovation für die Zukunft.
Die Berge haben es ihm angetan, aber auch die digitale Transformation. Christian Keller ist Vorsitzender der Geschäftsleitung von IBM Schweiz. Kaum jemand kennt die DNA von «Big Blue» besser als er. Keller plädiert für Offenheit und Kooperation, appelliert aber auch an soziale Verantwortung und kritisches Hinterfragen neuer Technologien. Entscheidend dafür sei das Investieren in Bildung und Forschung. Eine Forderung, welche IBM mit dem Research Lab in Rüschlikon vorbildlich erfüllt.
Computerworld (CW): IBM wurde 1911 in New York gegründet und ist seit 1927 in Zürich und seit 1956 hier in der Forschung tätig. IBM hat eine starke geschichtliche Verbindung mit der Schweiz. Wie fühlt sich das heute an? Spürt man da noch Altlasten oder ist das eher zukunftsorientiert?
Christian Keller: Ganz klar zukunftsorientiert. Man kann nur von Zukunft sprechen, wenn man weiss, wo man herkommt. Unsere Geschichte ist für uns keine Altlast, sondern eine wertvolle Grundlage. Wir sind das einzige IT-Unternehmen, das seit fast 100 Jahren in der Schweiz präsent ist. Diese Historie hat uns immer wieder die Chance gegeben, uns neu zu erfinden. Unser Markenname wurde nie auf ein einziges Produkt fixiert, sondern steht für Technologie und Mehrwert in der Geschäftswelt. Diese Flexibilität hat es uns ermöglicht, uns kontinuierlich weiterzuentwickeln und immer wieder neue Technologien und Innovationen hervorzubringen.
Ein Beispiel dafür ist unsere aktuelle Arbeit an Quantencomputern und künstlicher Intelligenz. Unsere lange Geschichte in der Schweiz, besonders in der Forschung und Entwicklung, gibt uns eine starke Basis, auf der wir aufbauen können. Die Schweiz bietet uns dafür ein ideales Umfeld: eine hervorragende Forschungslandschaft, hochqualifizierte Talente und eine Kultur der Innovation. Das gibt uns die nötige Kraft und Inspiration, um uns auch in Zukunft erfolgreich zu behaupten.
CW: Ist es eher ein Vorteil oder ein Nachteil, so ein traditionsreiches Unternehmen zu sein? Speziell im Vergleich mit Startups?
Keller: Es hat definitiv zwei Seiten, und ich würde sagen, es ist sowohl ein Vorteil als auch eine Herausforderung. Auf der einen Seite haben wir als traditionsreiches Unternehmen viele Technologiezyklen durchlebt. Wir verstehen, wie Technologien reifen und wie Hypes sich entwickeln – angefangen von einer anfänglichen Euphorie über eine Phase der Ernüchterung bis hin zur tatsächlichen Wertschöpfung. Diese Erfahrung erlaubt es uns, neue Technologien realistischer zu bewerten und fundiertere Entscheidungen zu treffen.
“Es wird nicht nur darum gehen, was technisch machbar ist, sondern auch darum, wie wir Technologie einsetzen, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.„
Dr. Christian Keller, IBM Schweiz
Gleichzeitig kann unsere Grösse und unser historischer Hintergrund uns auch manchmal im Vergleich zu jungen Startups, die viel agiler sind, bremsen. Startups haben oft eine andere Dynamik, sie sind schnell, flexibel und können neue Ideen oft unkomplizierter testen. Unsere Herausforderung besteht darin, diese Startup-Mentalität in einem so grossen Unternehmen zu fördern. Wir haben gelernt, dass es nicht nur um Geschwindigkeit geht, sondern auch darum, wie man in der Lage ist, Innovationen in einem grösseren Massstab zu implementieren. Das ist ein Balanceakt, den wir jeden Tag aufs Neue meistern müssen.
CW: IBM wirkt für viele wie ein riesiger Flugzeugträger. Gibt es einen Unterschied zwischen diesem Bild und der Realität?
Keller: Ja, das Bild des schwerfälligen Tankers wird uns oft zugeschrieben, aber es entspricht nicht mehr der Realität. Natürlich sind wir ein grosses Unternehmen, und das bringt seine eigenen Herausforderungen mit sich. Aber wir haben in den letzten Jahren erhebliche organisatorische Anpassungen vorgenommen, um flexibler und schneller zu werden. Wir sind uns bewusst, dass unsere Grösse manchmal als Nachteil angesehen werden kann, aber wir sehen es als unsere Aufgabe, die Vorteile dieser Grösse – Ressourcen, Expertise und globale Präsenz – zu nutzen und gleichzeitig agil zu bleiben.
Eine unserer Strategien ist es, regelmässig unser Portfolio zu überprüfen und harte Entscheidungen zu treffen. So haben wir uns zum Beispiel vor ein paar Jahren entschieden, unser Outsourcing-Geschäft mit über 100.000 Mitarbeitern auszugliedern, um uns auf unsere Kernkompetenzen zu konzentrieren. Wir fördern auch interne Unternehmertum-Initiativen, um neue Ideen und Projekte innerhalb des Unternehmens zu entwickeln. So sind wir in der Lage, auf Veränderungen am Markt schnell zu reagieren, ohne unsere langfristigen Ziele aus den Augen zu verlieren.
CW: Sie haben viele wichtige Punkte angesprochen. Wo stehen Ihre Kunden?
Keller: Unsere Erfahrungen mit Technologien und Innovationen machen uns zu einem gefragten Gesprächspartner für viele Unternehmen. Wir sehen uns als Partner, der Unternehmen dabei unterstützt, den richtigen Weg durch den Dschungel der Digitalisierung zu finden. Viele unserer Kunden stehen vor grossen technologischen Veränderungen und wissen oft nicht, wo sie anfangen sollen. Wir bieten ihnen einen klaren Fahrplan an, der auf unseren eigenen Erfahrungen basiert. Unser Ansatz ist es, den Kunden zu helfen, die zugrunde liegenden Kräfte einer Transformation zu verstehen, damit sie nicht nur um der Veränderung willen transformieren, sondern um echten Mehrwert zu schaffen.
Wir ermutigen unsere Kunden, eine flexible und offene Denkweise zu pflegen, sich auf die Bedürfnisse ihrer Endkunden zu konzentrieren und technologiegetriebene Entscheidungen strategisch anzugehen. Dabei helfen wir ihnen auch, die Risiken zu minimieren, indem wir bewährte Methoden und Best Practices teilen, die wir in vielen Jahrzehnten selbst entwickelt haben. Es ist ein kontinuierlicher Lernprozess, und wir sehen uns als Partner, der diesen Weg gemeinsam mit unseren Kunden geht.
CW: Wie erleben Sie die Innovationsbereitschaft der Schweizer Unternehmen? Sind sie eher vorsichtig oder bereit, Risiken einzugehen?
Keller: Die Schweizer Unternehmenslandschaft ist eine interessante Mischung aus Vorsicht und Innovationsgeist. Einerseits sind Schweizer Unternehmen dafür bekannt, sehr gründlich und analytisch vorzugehen, bevor sie grössere Investitionen tätigen oder neue Technologien einführen. Diese Vorsicht hat sicher auch damit zu tun, dass die Schweiz ein relativ kleiner Markt ist, und die Unternehmen wissen, dass Fehler kostspielig sein können.
“Die Schweiz wird im internationalen Kontext oft als Innovationsführer wahrgenommen, und das zu Recht.„
Dr. Christian Keller, IBM Schweiz
Andererseits sehen wir aber auch viele Beispiele für eine bemerkenswerte Innovationsbereitschaft, insbesondere bei Unternehmen, die international tätig sind und sich im globalen Wettbewerb behaupten müssen. Diese Unternehmen wissen, dass sie innovativ bleiben müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Die Schweiz hat eine lange Tradition der Innovationskraft. Das manifestiert sich in vielen Erfindungen, Patenten und Herstellverfahren.
Gleichzeitig gibt es auch Bereiche, in denen wir noch Nachholbedarf sehen, wie etwa in der Cybersicherheit. Hier besteht manchmal noch eine gewisse Sorglosigkeit, die darauf basiert, dass die Schweiz als sicherer Hafen wahrgenommen wird. Die jüngsten Cyberangriffe haben jedoch gezeigt, dass dies eine trügerische Sicherheit ist.
CW: Wie wird die Schweiz im Ausland wahrgenommen, insbesondere im Bereich der Forschung, zum Beispiel in Rüschlikon?
Keller: Die Schweiz wird im internationalen Kontext oft als Innovationsführer wahrgenommen, und das zurecht. Das IBM Research Lab in Rüschlikon ist ein hervorragendes Beispiel für die Art von hochkarätiger Forschung, die hier stattfindet. Rüschlikon gehört zu einem globalen Netzwerk von IBM-Forschungslabors, die eng miteinander vernetzt sind und ihre Erkenntnisse und Technologien austauschen. Besonders stolz sind wir auf unsere enge Zusammenarbeit mit dem Labor in Haifa, Israel, insbesondere im Bereich der Verschlüsselungstechnologien und der Cybersicherheit.
Die Schweizer Unternehmenslandschaft ist eine interessante Mischung aus Vorsicht und Innovationsgeist, so Christian Keller.
Quelle: IBM Schweiz
CW: IBM wirkt von aussen wie ein in sich geschlossener Kosmos. Ist das so?
Keller: Nein, im Gegenteil. Wir haben bewusst unsere Strategie geändert, um IBM als Teil eines grösseren Ökosystems zu positionieren. Offenheit für Partnerschaften, auch mit Wettbewerbern, ist dabei ein zentraler Aspekt. Angesichts der engen Verflechtung von Technologien und Märkten setzen wir auf Zusammenarbeit, um massgeschneiderte Lösungen zu entwickeln und neue Wege der Kooperation zu finden.
CW: Welche Rolle spielt dabei IBM Research? Ein teures Hobby?
Keller: Forschung ist für uns keineswegs ein Hobby, sondern ein zentraler Teil unserer Strategie. IBM Research hat zwei Hauptziele: den direkten Beitrag zum Geschäft und die langfristige Entwicklung neuer Technologien. Unsere Teams arbeiten an Innovationen, die unser Geschäft stärken, sei es durch Optimierungen, neue Produkte oder bessere Dienstleistungen. Gleichzeitig investieren wir in zukunftsweisende Technologien wie Quantencomputing und künstliche Intelligenz, die das Potenzial haben, neue Märkte zu schaffen und die Welt zu verändern.
CW: Glauben Sie, dass die Gesellschaft bereit ist für diese Transformation?
Keller: Schwierig zu sagen. Aus meiner Sicht ist es wichtig, in Bildung zu investieren. Menschen müssen lernen, Technologie nicht nur zu nutzen, sondern sie auch zu verstehen und kritisch zu hinterfragen. Bildung ist der Schlüssel, um die Kluft zwischen technologischem Fortschritt und den Fähigkeiten der Menschen zu schliessen.
CW: Sie sind auch im Stiftungsrat der Schweizer Berghilfe. Was verbindet Sie persönlich damit?
Keller: Die Schweizer Berghilfe ist für mich eine Herzensangelegenheit. Meine Verbindung zu den Bergen und zur Natur ist tief verwurzelt. Ich verbringe viel Zeit draussen und schätze die Ruhe und den Ausgleich, den mir die Natur bietet.
Zur Person
Dr. Christian Keller
ist Vorsitzender der Geschäftsleitung der IBM Schweiz und Mitglied des weltweiten Senior Leadership Teams der IBM. Von 2014 bis 2017 war er Geschäftsführer der IBM Deutschland GmbH und verantwortete in dieser Rolle den Bereich IBM Global Technology Services. Christian Keller besitzt einen Master in Betriebswirtschaft der Universität St. Gallen (HSG) und promovierte an derselben Universität in Betriebswirtschaft.