Start-up-Check
08.04.2021, 10:53 Uhr
Wie Dokumente neuen Wert erhalten
Unternehmen sitzen heute oftmals auf einem Berg ungenutzter Daten. Dieses Problem will das Winterthurer Start-up Acodis mit seiner Lösung zur Datenextraktion beheben. Denn damit lassen sich dokumentenintensive Geschäftsprozesse durchgängig digitalisieren.
Nicht immer finden Gründerinnen und Gründer auf direktem Weg zur vielversprechenden Geschäftsidee. Manchmal braucht es Umwege, damit man schliesslich auf der richtigen Spur landet. Diese Erfahrung machten auch Benjamin von Deschwanden, Patrick Emmisberger und Martin Keller, die Gründer des Winterthurer Start-ups Acodis. Ihre Reise führte sie zunächst zu einer App für Bergsteiger, die sie ursprünglich gemeinsam entwickeln wollten. Um an die Inhalte für ihre App zu kommen, klopfte das Gründerteam beim Schweizer Alpen-Club an. Und bei diesem lief zu dieser Zeit gerade eine Digitalisierungsinitiative, wie der Acodis-Mitgründer und CEO Martin Keller erzählt. «Die Autoren der Bergtouren- und Skitourenführer mussten dabei den Inhalt noch von Hand aus PDF- oder InDesign-Dateien über Erfassungsmasken in Datenbanken ‹abspitzen›.» Für ihre App hätten die Unternehmer aber den strukturierten Inhalt benötigt. «So gab es für uns zwei Optionen», sagt der Acodis-CEO, «entweder abwarten oder Unterstützung bieten.»
Sie entschieden sich schliesslich für Letzteres und machten sich an die Entwicklung eines Prototyps. Das Team setzte sich zum Ziel, ein System zu bauen, dem man lediglich ein Buch beibringen muss, damit es im Anschluss selbstständig Buch um Buch analysieren und die entsprechenden strukturierten Daten ausspucken kann. «Relativ schnell merkten wir dann, dass dieser Ansatz nicht nur für den Anwendungsfall der Kletterbücher spannend ist, sondern auch für viele andere», sagt Keller. Dementsprechend habe man die Idee der Bergsteiger-App schnell verworfen und die Technologie weiterentwickelt, um Dokumente automatisiert in strukturierte Informationen zu überführen.
Firmen sitzen auf wertvollen Daten
Heute ist das Thema Digitalisierung im Business-Umfeld hochaktuell. Keller erklärt, dass rund 80 Prozent der Daten in Unternehmen unstrukturiert sind. Heisst: Sie liegen brach und können nicht automatisiert durch Computer- Applikationen verarbeitet werden. Dabei geht es sowohl um Informationen aus Dokumenten in Papierform als auch um PDFs, Scans, Excel-Dateien oder E-Mails. «Unternehmen brauchen also ein Mittel, um effizient und mit möglichst wenigen Klicks an die gewünschten Informationen zu kommen und sie in einer strukturierten Art aufzubereiten, damit diese mit Reporting-Tools sowie ERP- oder CRM-Systemen weiterverarbeitet werden können.»
Um Anwender bei der Datenextraktion zu unterstützen, entwickelten die Acodis-Gründer eine Plattform zur automatisierten Verarbeitung von Dokumenten. Durch den Einsatz von Machine Learning ist sie den Angaben zufolge flexibler als herkömmliche Lösungen, da auch Dokumente mit unterschiedlichen Layouts und Strukturen ausgelesen werden können. Dabei geht die Software gemäss Keller weit über klassische OCR-Lösungen (Optical Character Recognition) hinaus. Denn im Gegensatz zu Acodis würden solche Tools nur begrenzt strukturelle Informationen und keine semantischen Informationen liefern. So kann zwar beispielsweise eine Stichwortsuche durchgeführt, aber relevante Informationen noch nicht automatisch ausgelesen werden.
Technik von Acodis, Fachwissen der Kunden
Genau hier setzt das Winterthurer Jungunternehmen Acodis an. Bei der Lösung steht das «Document Understanding» im Vordergrund, wie es Keller bezeichnet. Im Kern geht es darum, dass die Lösung Informationen in ihrem Kontext genau so verstehen kann wie zum Beispiel Mitarbeitende, die beispielsweise eine Lohnabrechnung oder auch eine Bestellung verarbeiten. Dafür sind dann auch die vom Start-up eingesetzten Machine-Learning-Algorithmen zuständig. Die Technik bringt laut dem Acodis-CEO sehr viele Vorteile mit sich – insbesondere punkto Flexibilität und Benutzerfreundlichkeit.
Allerdings müssen solche Algorithmen auch trainiert werden. Für bestimmte Dokumententypen bietet das Start-up bereits vortrainierte Modelle an, alternativ kann man selbst eines trainieren. Das empfiehlt sich gemäss Kellers Angaben insbesondere bei komplizierten Anwendungsfällen. «Wenn mit komplexeren Dokumenten gearbeitet wird, gilt das Prinzip ‹one size fits all› nicht mehr. Jeder möchte dort selbst bestimmen können, welche Informationen für ihn relevant sind und ausgelesen werden sollen.»
Zudem unterlaufen auch maschinell lernenden Systemen manchmal Fehler. «Unser Ziel ist es deshalb immer, menschliche Qualität zu erreichen. Denn auch wir Menschen arbeiten im Umgang mit Dokumenten nicht fehlerfrei», erklärt Keller. Das Team führt mit Kunden, die ein eigenes Machine-Learning-System trainieren, zum Start deshalb jeweils eine Übung durch. Dabei lesen drei Personen die gleichen Dokumente, beispielsweise Versicherungsausweise. Im Anschluss wird geprüft, ob sie alle Datenpunkte genau gleich interpretiert haben. Das sei schliesslich der Benchmark für die Software. Zusätzlich zeigt die Plattform den Kunden pro Datenpunkt an, wie zuverlässig das System arbeitet – inklusive Lernkurve. Daraus könne man ablesen, ob allenfalls noch mehr Dokumente nötig sind, um das System zu optimieren. Denn gemäss dem CEO gilt die Grundregel: Je komplexer das Dokument, desto mehr Trainingsmaterial wird benötigt.
“Wir liefern unseren Kunden die technische Basis, damit sie das menschliche Fachwissen – das Domain Knowledge – möglichst zielgerichtet einsetzen können„
Martin Keller
Das Start-up sieht sich dem Mitgründer zufolge im ganzen Prozess als Enabler und Sparringspartner für die Anwenderinnen und Anwender. «Wir liefern unseren Kunden die technische Basis, damit sie das menschliche Fach-wissen – das Domain Knowledge – möglichst zielgerichtet einsetzen können», sagt Keller. Die Software könne dabei wahlweise On-Premises oder – und das sei der Standard- fall – in der Cloud betrieben werden. Als Partner setzt das Start-up dabei auf Microsoft Azure. Für Microsoft habe man sich bei Acodis nicht zuletzt aufgrund der Schweizer Rechenzentren des Konzerns entschieden.
Aus dem Start-up wird eine etablierte Firma
Ein Blick in das Kundenbuch von Acodis zeigt, dass die Gründer mit ihrer Technologie einen Nerv trafen. Die Lösung hat sich etabliert und wird inzwischen von Unternehmen aus den unterschiedlichsten Branchen eingesetzt – darunter zum Beispiel Rhenus Logistics, die Allianz, Roche Diagnostics, die Stadt Zürich, der Kanton St. Gallen oder auch die ETH Zürich. Hier spielt dem Start-up gemäss Keller in die Karten, dass die Technologie industrieübergreifend eingesetzt werden kann.
In der aktuellen Wachstumsphase wird nun besonders in die Produktentwicklung und in den Vertrieb investiert, wie der CEO des Start-ups abschliessend erklärt. Ein Rebranding, mit dem sich Acodis am Markt klarer positionieren will, steht ebenfalls an.
Zur Firma
Acodis
wurde 2016 gegründet und bietet eine Plattform zur automatisierten Datenextraktion aus Dokumenten an. Zu Hause ist das Jungunternehmen im Winterthurer Technopark, wo derzeit insgesamt 24 Mitarbeitende beschäftigt sind.