Geschäftsführer von ICT-Berufsbildung Schweiz
08.09.2020, 17:52 Uhr
«Fachkräfte wachsen nicht auf Bäumen»
Fachkräfte wachsen nicht auf Bäumen. Man muss sie kultivieren, sagt Serge Frech, Geschäftsführer des Fachverbands ICT-Berufsbildung Schweiz. Im Interview erklärt er, weshalb es für Unternehmen eine lohnenswerte Investition ist, junge Menschen auszubilden.
Serge Frech engagiert sich seit rund zwei Jahren als Geschäftsführer beim Berufsbildungsverband ICT-Berufsbildung Schweiz
(Quelle: ICT-Berufsbildung Schweiz)
Der Schlüssel zum Erfolg der Schweizer Wirtschaft ist die Digitalisierung. Hierfür braucht es Fachkräfte. ICT-Fachkräfte. Doch es fehlen Zehntausende. Einen wesentlichen Beitrag gegen den Fachkräftemangel leistet die Berufsbildung.
Fast 3000 ICT-Professionals schliessen jährlich ihre Lehre ab. Sie ist der grösste Zubringer an Fachkräften für die Schweizer Wirtschaft. Doch die Berufslehre kostet Firmen auch viel Geld. Zumal für komplexe Projekte oft auch Hochschulwissen gefordert wird.
So stellt sich die Frage: Lohnt sich die Lehre? Unbedingt, betont Serge Frech, Geschäftsführer des Verbands ICT-Berufsbildung Schweiz.
Für ihn ist klar: Wenn Unternehmen nur noch Hochschulabsolventen einstellen und keine Ausbildungsplätze anbieten, entziehen sie dem Arbeitsmarkt wertvolle Fachkräfte, die sie wiederum benötigen.
Ein Gespräch über Mittel gegen den Fachkräftemangel, Revisionen der Berufsbildung und mehr Diversität in der Digitalwirtschaft.
Computerworld: Wenn Sie nochmals eine Berufsausbildung machen würden, welche wäre das?
Serge Frech: Eine schwierige Frage, da das Angebot sehr vielfältig ist. Ich würde auf jeden Fall eine Berufslehre mit Berufsmatura machen, wahrscheinlich als Mediamatiker. Durch die Lehre steigt man früh in die Berufswelt ein, sammelt Arbeitserfahrung und verbessert seine Sozialkompetenz. Zusätzlich kann man durch den Berufsabschluss immer auf ein Fallback-Szenario zurückgreifen, falls man später eine Weiterbildung nicht schaffen sollte. Oder wenn man zunächst nicht studieren will, kann man das zu einem späteren Zeitpunkt nachholen, ohne erst noch die Berufsmaturität absolvieren zu müssen.
CW: Welche ICT-Lehrberufe werden besonders von Lernenden nachgefragt und welche Lehrabgänger sind am begehrtesten bei den Unternehmen?
Frech: Das stärkste Wachstum verzeichnen wir im Bereich der Mediamatik. Hier ist die Überlappung optimal, was den Bedarf aus der Wirtschaft und die Attraktivität des Berufs bei den Jungen anbelangt. In der eher klassischen Informatik sind Fachleute für die Applikationsentwicklung sehr gesucht. Hier besteht vonseiten der Wirtschaft ein sehr hoher Bedarf. Was ebenfalls zunimmt, ist die Nachfrage nach dem ICT-Fachmann respektive der ICT-Fachfrau. Die Popularität liegt sicher auch darin begründet, dass sich dadurch vielen ein niederschwelliger Einstieg in die Informatikbranche eröffnet. Die schulischen Ansprüche etwa sind nicht ganz so hoch wie bei den anderen Informatiklehren.
CW: Die Corona-Krise hat in verschiedenen Branchen zu Schwierigkeiten bei der Lehrabschlussprüfung geführt. Wie bewerten Sie den Verlauf der Prüfungen in der ICT?
Frech: Wir haben als Berufsbildungsverband den Vorteil, dass wir sehr professionelle und engagierte Experten haben, die dabei halfen, alle Schwierigkeiten mit viel Improvisationsgeschick innerhalb des rechtlichen Rahmens zu bewältigen. Zudem bot das Prüfungssetting den grossen Vorteil, dass wir grundsätzlich Aufgabenstellungen aus der Distanz vorgeben und prüfen konnten, was in anderen
Berufen, etwa im Handwerk, weniger möglich ist. Insofern bin ich sehr zufrieden damit, wie es lief.
CW: Die Ergebnisse der aktuellen Top-500-Studie deuten darauf hin, dass künftig weniger Unternehmen auf Lehrabgänger und Absolventen höherer Fachschulen setzen werden, um den Fachkräftemangel zu mildern. Deutlicher sind die Daten der Koordinationsstelle für Bildungsforschung des Bundes aus dem Frühsommer. Dort prognostiziert man über alle Branchen hinweg einen Rückgang von 20 00 Lehrstellen bis 2025. Droht ein Lehrstellenkahlschlag in der ICT-Branche?
Frech: Wir haben keinen Rückgang bei den Lehrstellen in der ICT festgestellt. Die Konjunkturforschungsstelle (KOF) hat speziell wegen Corona ein Berufsmonitoring eingeführt und stellt bei den ICT-Lehrstellen einen Rückgang von nur 1 Prozent fest. Dies zeigt uns, dass den ICT-Unternehmen auch in Krisenzeiten bewusst ist, dass das nachhaltigste und quantitativ am meisten Erfolg versprechende Rezept gegen den Fachkräftemangel die Berufsbildung ist.
CW: Was bedeutet das konkret in Zahlen?
Frech: Jedes Jahr werden rund 2600 ICT-Fachkräfte in die Wirtschaft entlassen – Lernende und Abgängerinnen der höheren Berufsbildung. Das schafft kein anderes Instrument am Arbeitsmarkt. Zum Vergleich: Die Hochschulen und Universitäten produzieren jährlich auf Masterstufe etwa 500 ICT-Fachkräfte. Hinzu kommt, dass ein grosser Teil der Abgänger von Fachhochschulen und Unis ihre Wurzeln in der Berufslehre haben. Wenn Unternehmen nur noch Hochschulabsolventen einstellen und keine Ausbildungsplätze anbieten, vergessen sie, dass sie denjenigen den Boden unter den Füssen wegziehen, die sie in Zukunft rekrutieren wollen.
CW: Sie sorgen sich also nicht um künftige Lehrstellen?
Frech: Nein, im Gegenteil! Denn bei den meisten Unternehmen hat man verstanden, dass die Berufslehre das nachhaltigste Mittel gegen den Fachkräftemangel darstellt. Firmen erhalten junge Menschen, die sie gemäss ihrer Arbeitskultur und den betrieblichen Bedürfnissen ausbilden können. Und darüber hinaus sind sie selbst für die Qualität der Fachkräfte verantwortlich. Sie haben also alle Mittel zur Hand, um die idealen Mitarbeitenden auszubilden. Sie wissen, was sie bekommen. Nimmt man Hochschulabsolventen, hat man diese Gewissheit nicht.
CW: ICT-Berufsbildung Schweiz begeht dieses Jahr sein 10-jähriges Jubiläum. Welches Fazit ziehen Sie?
Frech: Wir haben unsere Vision und Mission konsequent verfolgt. In dieser Zeit wurden fast 30 Prozent mehr Lehrstellen geschaffen – ein absoluter Erfolg. Es gibt nach meinem Wissen keinen heimischen Berufsverband, der vergleichbar viele Lehrstellen geschaffen hat. Wir treten heute auch als der bedeutendste Player in der ICT-Bildung gegenüber Unternehmen, dem Bund und den Kantonen auf. Wir sind zudem als innovativer Vorreiter bei den anderen
Berufsbildungsverbänden anerkannt. Es gibt viele zukunftsgerichtete Berufsverbände, die unser Know-how übernehmen und davon profitieren.