10.10.2012, 16:03 Uhr
Bei Cisco im Entwicklungslabor
Der Netzwerkriese Cisco arbeitet daran, die Kommunikations- und Collaboration-Plattformen der Zukunft zu entwickeln. Jürgen Hill, Redaktor bei unserer deutschen Schwesterzeitschrift Computerwoche, hatte Gelegenheit, sich in Ciscos Entwicklungslaboren in Oslo umzuschauen. Ein Erfahrungsbericht.
Rund fünf Jahre ist es jetzt her, als ich angesichts der ersten Präsentation eines Cisco-Telepresence-Systems in Berlin die provokante These vom «Ende für Bonus-Meilen?» aufstellte. Und heute? Heute fällt mein Urteil ganz klar differenzierter aus, denn Telepresence oder Video ist kein isoliertes Konferenzsystem mehr, sondern lediglich ein Baustein im Collaboration-Angebot, der zwar singulär genutzt werden kann, seinen echten Mehrwert aber erst in Kombination mit anderen Collaboration-Tools wie Presence, Content Sharing und weiteren Systemen entfaltet. Und es kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu, wie sich in den norwegischen Cisco-Labors zeigte: Wozu dient ein Videosystem heute? Soll der Teilnehmer nur visuell Mitglied einer Community/Workgroup werden? Oder soll er virtuell per Video das Gewicht seiner ganzen Person in die Waagschale einer Diskussion werfen? Was hier sehr theoretisch klingt, zeigt sich in der Praxis schnell, wenn man einmal mit den verschiedenen Videosystemen gearbeitet hat, wozu wir Gelegenheit hatten. Oslo ist Ciscos grösster Forschungs-Hub in Europa mit über 3000 Mitarbeitern, darunter um die 400 Entwicklungsingenieure.
Miniaturisierung
Ein Rundgang durch die Labors offenbart schnell, was sich in den letzten fünf Jahren in Sachen Videoconferencing und Telepresence getan hat. So ist bei heutigen Systemen eine HD-Videoauflösung (1080p) mittlerweile Standard und nicht mehr den grossen Raumsystemen vorbehalten. Und die Systeme sind deutlich geschrumpft und in der Bedienung einfacher geworden - etwa durch den Einsatz kleiner externer Touchscreens. Das kleinste Modell «Telepresence SX20» hat gerade mal die Grösse einer sehr flachen Zigarrenkiste. In Sachen Interoperabilität hat sich ebenfalls viel getan: Das Zusammenschalten der unterschiedlichsten Systeme vom grossen Raum-Telepresence (TX9000-Serie) bis hin zum Tablet ist heute zumindest möglich. Allerdings findet eine herstellerübergreifende Verbindung meist nur auf Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners statt: per SIP und/oder H.263, so dass gerätespezifische Features nicht genutzt werden können. Die Grenzen der Interoperabilität zeigen sich in der Praxis schnell: Ein mobiler Client wie ein iPad kann als Endpunkt in einer Videokonferenz nur eine Notlösung sein, denn die Kamera löst zu schlecht auf, und beim De- und Encoden des hochauflösenden Videostreams geht den populären Apple-Tablets schlicht die Puste aus. Mit Videoaussetzern machen sich zudem die Designschwächen des iOS-Betriebssystems (kein echtes Multitasking) bemerkbar. Qualitätsunterschiede, die besonders ins Auge stechen, wenn man den direkten Vergleich zu einem Telepresence-System hat. Lesen Sie auf der nächsten Seite: Dedizierte Systeme
Dedizierte Systeme
Gleiches gilt, wenn auch nicht so ausgeprägt, laut Jonas Rinde, Entwicklungs-Manager bei Cisco, für die PC-Plattformen. «Die Masse der heutigen PCs hat nicht die Rechenleistung, um Full-HD-Video in Echtzeit zu en- und decoden.» Deshalb sind die norwegischen Entwickler fest davon überzeugt, dass dedizierte Videokonferenzsysteme in absehbarer Zukunft weiterhin unverzichtbar bleiben. Zumal diese im Gegensatz zu PCs und anderen Devices über spezialisierte Codecs verfügen, welche die Videoberechnungen schnell und effizient übernehmen. Besonders stolz ist man dabei in Oslo, dass die Codecs Eigenentwicklungen sind. Apropos Qualität: Immense Fortschritte wurden auch bei der Kamera- und Audiotechnik erzielt. Die kleinen Kameras können heute einem Sprecher im Raum folgen und dabei gleichzeitig die Mikrofon-Charakteristik an den neuen Standort anpassen. Die Audioqualität ist dabei mittlerweile sehr gut, und die Sprecher sind hörbar zu orten, so dass selbst ISDN-verwöhnte Ohren ein Aha-Erlebnis haben.
Verknüpfung mit der IT
Allerdings ist die Qualität bei der täglichen Arbeit nur die halbe Miete. Fast noch wichtiger ist die Frage, wie sich die Videosysteme mit der restlichen IT verknüpfen lassen, um eine standortübergreifende Collaboration zu ermöglichen. Dies beginnt mit «einfachen» Dingen wie etwa der Einbindung/Einblendung eines iPads, so dass der Konferenzteilnehmer virtuell in seinem iPad zu sitzen scheint - also vergleichbar mit der Blue-Box-Technik bei Film und Fernsehen. Oder Videokonferenzen werden mitgeschnitten und hinterher per «Show und Share» verteilt, also eine Art Youtube für das Enterprise. Was auf den ersten Blick nach Spielerei klingt, hat unter Compliance-Gesichtspunkten durchaus seinen Nutzen, zumal wenn per Voice Recognition im Mitschnitt gezielt nach dem Statement eines Teilnehmers gesucht werden kann. Andere Möglichkeiten eröffnet etwa die Verknüpfung mit Augmented-Reality-(AR-)Software: Ein virtuelles Meeting per Videokonferenz zum Design eines neuen Produkts erhält eine ganz andere Qualität, wenn ein Teilnehmer per AR die Designentwürfe quasi dreidimensional präsentiert. Lesen Sie auf der nächsten Seite: Virtuelle Zusammenarbeit
Virtuelle Zusammenarbeit
Dass solche Verknüpfungen keine blanke Theorie sind, zeigt das Beispiel Aker Solutions. Das global tätige Unternehmen mit rund 25'000 Beschäftigten hat sich auf die Erkundung und Erschliessung von Öl- und Gasvorkommen spezialisiert. Um nun jederzeit und überall adäquate Lösungen zum Beispiel für Bohrinseln projektspezifisch entwickeln zu können, hat Aker in Oslo ein Videoconferencing-System mit einer entsprechenden Design- beziehungsweise Entwicklungsplattform kombiniert. Die Ingenieure können so in der Zentrale direkt mit den Mitarbeitern vor Ort zusammenarbeiten. Auf Videoconferencing und Collaboration setzt auch eine andere norwegische Ölfirma: Statoil hat an Land einen typischen Kontrollraum einer Offshore-Bohrinsel nachgebaut und mit einem Videoconferencing-System verbunden. Im Störfall müssen so die Experten nicht mehr zeitaufwendig aus aller Welt anreisen, sondern können sofort virtuell an der Lösung des Problems arbeiten. Allerdings trifft die früher oft als Pro-Argument angeführte Behauptung, dass Collaboration-Systeme die Dienstreisen reduzieren, nicht mehr auf jedes Unternehmen zu. So hat die Klassifikationsgesellschaft Det Norske Veritas (DNV) Videokonferenzsysteme angeschafft, damit die C-Level-Manager wieder mehr reisen. «CxOs sollten sich draussen im Markt beim Kunden bewegen, um neue Geschäftsfelder zu erschliessen», begründet Narve Johannessen, IT-Manager bei DNV, die Entscheidung. Mittlerweile hat das Unternehmen mit 300 Büros in rund 100 Ländern 61 Highend-Systeme im Einsatz und plant weitere Anschaffungen, «denn so können unsere Excutives vor Ort sein und dennoch an zentralen Meetings teilnehmen», erläutert Johannessen. Die Einführung entsprechender Collaboration-Tools - neben den Cisco-Systemen für Videoconferencing werden noch Lync, Yammer oder MeetingPlace genutzt - hatte noch einen anderen positiven Effekt: «Ohne hätten wir unsere IT outgesourct», erklärt Johannessen per Videokonferenz aus Shanghai, «jetzt haben wir eine IT-Entwicklungsabteilung in Shanghai.»
Cisco Hosted Services
Zudem seien die Anschaffungskosten der Systeme heute kein Problem mehr, denn mit Leasingangeboten gebe es genügend Offerten, um eine Strategie zu entwerfen, die zur finanziellen Situation des eigenen Unternehmens passe. Cisco will in den nächsten zwölf Monaten in Europa mit einem neuen Service an den Start gehen: Cisco Hosted. Darunter sind laut OJ Winge, Senior Vice President der Cisco Collaboration Technology Group, Collaboration-Services zu verstehen, die Cisco-Partner zwar vermarkten, die aber bei Cisco gehostet und von Cisco betrieben werden - eine Idee, die auch andere Player wie Avaya oder Siemens Enterprise Communications verfolgen.