25.06.2010, 06:00 Uhr

Ein ERP-System, das wirklich passt

Wie finden Unternehmen ein ERP-System, das optimal zu ihnen passt? Viel zu lange haben sich IT-Entscheider ausschliesslich auf Lastenhefte und Anforderungskataloge konzentriert.
Der ERP-Markt präsentiert sich notorisch unübersichtlich, der Kaufentscheid fällt schwer. Etwa 100 Systeme konkurrieren miteinander, und jeder Anbieter fühlt sich irgendwie als Marktführer, auch wenn die Nische noch so klein ist. «Wir haben deshalb 500 Firmen direkt nach dem betriebswirtschaftlichen Nutzen gefragt, den sie mit ihrer ERP-Lösung erzielt haben», sagt Wolfgang Quelle, Vorstand der Beratungsagentur MQ Result consulting in Reichenau (D). Das Ergebnis: Der Nutzen ist bei den grossen Anbietern relativ gleichmässig verteilt. Obwohl SAP Marktführer sei, könne man nicht sagen, dass ein SAP-System per se nützlicher sei als ein anderes, betont Quelle.
Die ERP-Ausschreibung eines Maschinenbau-Unternehmens mit 150 Anwendern stützt die Behauptung Quelles. Das ausschreibende Unternehmen stellte ein Lastenheft mit etwa 2800 Anforderungskriterien auf, an denen sich die ERP-Systeme der Anbieter beweisen mussten. Gemessen wurde dabei der Prozentsatz der Kriterien, den die unveränderte Standard-Software des Anbieters erfüllt. Mit 97,9 Prozent liegt mySAP Business Suite an der Spitze der Hitparade, dicht gefolgt von proAlpha Business Solutions (97,1 Prozent) und infor ERP LN 6.1 (95,7 Prozent). Die Mehrzahl der restlichen Konkurrenten liegt nicht weit hinter dem Spitzenreiter SAP (siehe Grafik rechts unten).
Faktenhuberei allein reicht jedoch nicht aus, um den Erfolg einer Software zu garantieren. Daneben beeinflusst ein weiterer Faktor den tatsächlich im Unternehmen generierten Mehrwert. Das Realisierungs-potenzial bestimme den Nutzen in einem viel stärkeren Masse als die gewählte ERP-Lösung, betont Quelle. Und die Erfahrung zeigt: Firmen mit einem hohen Realisierungspotenzial haben auch die Kosten viel besser im Griff. Pointiert könnte man sagen: Das beste ERP-System ist dasjenige mit den besten Usern.

Der Sympathie-Bonus

Zu einem weitaus überraschenderen Ergebnis kommt Werner Schmid von der Gesellschaft zur Prüfung von Software (GPS) in Ulm. Die GPS lädt jedes Jahr mehrere Software-Anbieter zum ERP Contest. Dabei müssen die Lösungen einen typischen Geschäftsprozess von der Angebotserstellung, Auftragserteilung, Disposition und Produktion bis hin zur Auslieferung, Beschwerdeannahme und Marktprognose bewältigen. Ein Testdurchlauf zieht sich über zweieinhalb bis drei Stunden hin. Im Publikum bewerten Key-User die präsentierten Lösungen anhand eines Fragebogens. Schmids Erfahrung: Häufig gaben Anwender dem funktional schwächeren System den Vorzug, weil es ihnen «sympathischer» war. In letzter Konsequenz heisst das: Ein funktional schlechteres, aber bedienfreundlicheres, intuitiveres System generiert in der Unternehmenspraxis letztlich einen höheren Mehrwert.
Gute Software macht den Unterschied, aber ob das funktionale Plus auch ausgeschöpft wird, entscheiden die Motivation und das Know-how der Mitarbeiter. «Die Systeme geben ihnen die Chance, aber ob sie produktiv genutzt wird, hängt allein von den Usern ab», sagt Reiner Martin, Professor für Wirtschafts-informatik an der Hochschule Konstanz. Martin befragte 49 mittelständische Fertigungsunternehmen in der DACH-Region, die ein SAP ERP eingeführt hatten und seit mindestens zwei Jahren produktiv damit arbeiten. Sein Ergebnis: Top-User (oberes Drittel) verstehen die Geschäftsprozesse des neuen SAP besser, Poor-User (unteres Drittel) weitaus schlechter. Poor-User fühlen sich durch die neuen Funktionalitäten eher verwirrt und erreichten keine Verbesserung der Auftragsdurchlaufzeiten. Top-User erzielten eine durchschnittliche Verbesserung von 1,31 (Maximum: 2,0).

Top-User entscheidend

«Top-User kommen mit ihrer konsequenteren Methodik und ihrem höheren Know-how zu signifikant besseren Ergebnissen», betont Martin, und das nicht nur bei den Auftragsdurchlaufzeiten, sondern auch bei der Optimierung bestehender und der Implementierung neuer Prozesse (Grafik rechts oben). Versierte Anwender sind zudem mit ihrer Arbeit wesentlich zufriedener und arbeiten häufiger mit anderen Abteilungen zusammen. Sich einen Steinway in den Salon zu stellen, reicht eben nicht aus, man muss auch darauf spielen können.
Martins Untersuchung bestätigt ausserdem den engen Zusammenhang zwischen Know-how, Motivation und Kosten. Die durchschnittlichen Wartungskosten pro SAP-User und Jahr belaufen sich auf 580 Euro. Die cleveren Top-Anwender sind mit durchschnittlichen 440 Euro aber deutlich preiswerter als die Poor-User, deren Support mit 624 Euro pro Jahr zu Buche schlägt. Bei der Einführung von ERP-Systemen ergibt sich ein ähnliches Bild: 13,2 Prozent der Top-User überschreiten den anvisierten Kostenrahmen. Bei den Poor-Usern sind es mit 26,2 Prozent fast doppelt so viele.

Lästigste Sache der Welt

Wie aber wird man ein Top-User? Neben Know-how und Erfahrung entscheidet vor allem eine intuitive Bedienoberfläche (GUI), die Schnittstelle zwischen Mensch und Software, über Erfolg oder Misserfolg. In Sachen GUI aber können jüngere ERP-Lösungen einen Vorteil für sich verbuchen. Der Grund: Lange Zeit galt unter Software-Entwicklern die Bedienoberfläche als lästigste Nebensache der Welt, mit der sich in erster Linie die Anwender herumschlagen sollten. Diese Altlast schleppen die erprobten Lösungen etablierter Anbieter wie SAP immer noch wie einen Klotz am Bein mit sich herum. SAP kann alles, aber um auf seinem Gebiet ein echter Experte zu werden, brauche ein Anwender zwei bis drei Jahre, schätzt Werner Schmid von der GPS. Bedienfreundlichkeit sieht anders aus.
Hinzu kommt: ERP-Systeme wurden ursprünglich entwickelt, um die Geschäftsprozesse von Produktionsunternehmen abzubilden. «Darunter leiden die Projektdienstleister noch heute», meint Christian Wiese von Bison Schweiz. Einer der Gründe, aus denen sich Kunden für SAP entscheiden, sei die Investitionssicherheit, aber die alten Systeme passten nicht mehr, meint Wiese.

Gewaltiger Nachholbedarf

Die Einsicht, dass sich ein intuitives GUI und schlanke Prozesse direkt auf den generierten Mehrwert im Unternehmen auswirken, hat sich erst vor Kurzem richtig durchgesetzt. Die Bedeutung durchdachter Bedienoberflächen wird in Zukunft sogar noch steigen, denn ERP-Systeme werden immer komplexer. Zusätzliche Features wie Smartphone-Anbindung, Web 2.0 oder Business Intelligence müssen unter einer einheitlichen Oberfläche integriert werden.
Alles aus einer Hand sei ein weit verbreitetes Schlagwort, aber die Lösungen vieler Anbieter sähen nur aus wie aus einem Guss, meint MQ-Result-Vorstand Quelle. Häufig hätten Anbieter Rechnungswesen, mobile Lösungen und andere Komponenten dazugekauft und notdürftig angestückelt. Die Bedienoberfläche leidet darunter, zum Nachteil der Anwender. Quelles Fazit: In Sachen Integration haben viele Anbieter
einen gewaltigen Nachholbedarf.



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