Jinn-Bots «Joey»
23.10.2020, 08:00 Uhr
Pflegeroboter versteht Schweizerdeutsch
Das Personal in Pflegeheimen und Spitälern wird demnächst von einem Roboter unterstützt, der Schweizerdeutsch versteht. Dafür spannen zwei Schweizer Technologieanbieter zusammen.
Der Roboter «Joey» soll künftig auch dem Pflegepersonal in Schweizer Spitälern zur Hand gehen
(Quelle: Jinn-Bot)
Sprachcomputer sind im Alltag omnipräsent. Alexa, Siri & Co. haben allerdings gemeinsam, dass sie weder Mundart verstehen noch sprechen können. Was im Alltag zuerst mal keine grosse Herausforderung ist, kann in Pflege-und Spitalszenarien durchaus ein Problem sein. Mehr noch: Siri & Co. sind bekannt dafür, sehr «geschwätzig» zu sein. Amazon hört mit, Apple und Google speichern die Konversationen ebenfalls zumindest temporär auf ihren Servern in Übersee – und sei es nur, um die Spracherkennung zu trainieren. Diese Mechanismen erschweren zumindest oder verunmöglichen sogar den Einsatz von Sprachtechnologie im Zusammenhang mit sensiblen Patientendaten im Gesundheitswesen.
Die zwei Herausforderungen adressiert die Aarauer Entwicklerfirma Jinn-Bot. Sie setzt gemeinsam mit Professorin Theresa Schmiedel von der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) in Basel ein Projekt mit dem humanoiden Droiden «Joey» um. Der Roboter der mittlerweile dritten Generation soll besondere Eigenschaften bekommen, haben Professorin Schmiedel und Jinn-Bot-Geschäftsführer Roger Seeberger festgelegt: Er soll Mundart verstehen und alle Daten für sich behalten.
Dann wird unter anderem folgendes Szenario realistisch: «Joey, bitte hol mer doch en Kafi.» Diese Bitte könnte in Pflegeheimen künftig nicht ausschliesslich an einen der Mitarbeiter, sondern auch an den Roboter «Joey» gerichtet sein. Wie sein Kollege aus Fleisch und Blut würde «Joey» die Bitte auch auf Schweizerdeutsch verstehen – und ihr speditiv nachkommen können.
Mundart mit Schweizer Technologie
Die vermutlich sonst Hunderte Lehrstunden in den schweizerdeutschen Dialekten sollen «Joey» erspart bleiben. Jinn-Bot setzt stattdessen auf die Sprachtechnologie des Zürcher Spezialisten Spitch. Gemäss Seeberger hätte ein speziell für die Pflege konzipierter Roboter ohne eine schweizerdeutsche Spracherkennung im hiesigen Markt keine Chance. «Spitch ist der einzige Anbieter einer Mundart-Sprachsteuerung – und ein Schweizer Unternehmen», sagt er. «Das Sprachtalent von ‹Joey› basiert auf der Spitch Lingware Suite», sagt Jürg Schleier, Country Manager DACH bei Spitch. «Mit dem erstmaligen Einsatz im Gesundheitswesen stellt Lingware seine breite Anwendbarkeit unter Beweis», doppelt er nach. Auf dem Roboter wird die lokale Version der Spitch-Software zum Einsatz kommen, bei der alle Daten unter der Kontrolle des Kunden bleiben. So kann der Droide den strengen Sicherheitsrichtlinien im Pflegebereich genügen.
“Der ‹Joey› zeigt, dass die Sprachtechnologie auch branchenübergreifend funktioniert„
Jürg Schleier, Spitch
Für herkömmliche Einsatzszenarien des Roboters etwa in der Gastronomie oder Industrie nutzt Jinn-Bot einerseits auch Googles Sprachalgorithmus. Nach den Worten Seebergers sei die Technologie bereits sehr präzise, benötigt allerdings erstens Zugang zu Google-Servern und zweitens werde alles aufgezeichnet. Diese Einschränkungen waren inakzeptabel für den Gesundheitsbereich. Die andererseits auf den «Joey»-Droiden verwendete Technologie «Sphinx» sei zwar Open Source und arbeite lokal auch auf Devices ohne Internetzugang. Wie der Jinn-Bot-Chef sagt, müssten neue akustische Modelle allerdings zunächst trainiert werden. In englischsprachigen Anwendungsszenarien sei Sphinx einsetzbar, bei Dialekten gäbe es jedoch grosse Probleme.
Der Roboter und das Personal
Der Aarauer Hersteller hat seinen Roboter nicht nur hinsichtlich der Sprachtechnologie offen konzipiert. Die Droiden sind dank Paketen wie OpenCV für die Bildverarbeitung, Keras und PyTorch sowie TensorFlow für Deep Learning und Scipy für die Visualisierung flexibel programmierbar. Und auch die Hardware ist variabel, wie Seeberger sagt. Die Herstellung der Roboter geschieht im 3D-Druckverfahren in Mikrofabriken in der Nähe des jeweiligen Kunden. Dieses Verfahren drücke nach Aussage des Entwicklers den Preis und erlaube kundenspezifische Anpassungen.
“Pflegeroboter setzen sich nur durch, wenn sie Schweizerdeutsch verstehen„
Roger Seeberger, Jinn-Bot
Im aktuellen Projekt ist «Joey» nicht für die Erledigung der eigentlichen Pflegetätigkeiten ausgelegt. Vielmehr soll der Roboter das Pflegepersonal entlasten durch die Erledigung von Handreichungen wie Getränkeservice, Botengänge oder die Erinnerung der Patienten an bevorstehende Termine. Dabei seien die Kenntnisse der schweizerdeutschen Dialekte von grosser Bedeutung. Vor allem ältere Patienten wollen oder können ihre Bedürfnisse nicht in Hochdeutsch formulieren oder sprechen schlicht lieber Schweizerdeutsch. Die Möglichkeit, mit «Joey» in Mundart zu kommunizieren, erhöhe nach den Worten Seebergers ausserdem die Akzeptanz des technischen Helfers.
Roboter im einjährigen Praxistest
Eine erste Bewährungsprobe im Pflegealltag wird «Joey» demnächst in einem einjährigen Praxistest in einem Alters- und Pflegeheim zu bestehen haben. Die Gruppe von Professorin Schmiedel wird den Feldversuch mit einer wissenschaftlichen Studie begleiten. Parallel will Jinn-Bot den Roboter in verschiedenen Situationen testen. Nach den Worten von Geschäftsführer Seeberger ist weiter geplant, unterschiedliche Applikationen für den Pflegebereich zu entwickeln, die dann als Open-Source-Projekt anderen Kunden zur Verfügung gestellt werden können.
Bis anhin lief nicht alles nach Plan. Denn die Covid-19-Pandemie durchkreuzte auch Seebergers Vorhaben, den Feldtest schon im Frühjahr oder spätestens Sommer dieses Jahres zu lancieren. Er hat die Zeit genutzt, den Roboter über einige Monate persönlich in Mundart zu trainieren. Das Resultat kann sich nach seiner Aussage durchaus hören lassen. Nun ist der Droiden-Spezialist aber guter Dinge, das Projekt im ersten Quartal des nächsten Jahres starten zu können.