Gastbeitrag 17.10.2019, 08:30 Uhr

Von Start-ups lernen

Schweizer Industriefirmen und ihre Produkte geniessen einen ausgezeichneten Ruf. Innovationsmanagement trägt als Schlüsselfaktor zu diesem Erfolg bei. Es gibt jedoch Anzeichen dafür, dass unsere heimische Industrie an Innovationskraft und Konkurrenzfähigkeit einbüsst.
Boris Ricken verantwortet bei der AWK Group die Leitung und kontinuierliche Weiterentwicklung des Geschäftsbereichs Business Consulting. www.awk.ch
(Quelle: AWK)
Eine Innovation bezeichnet aus wirtschaftlicher Sicht etwas Neues, das einen Nutzen für eine Organisation respektive für die Gesellschaft erbringt, während Innovationsmanagement die systematische Planung, Steuerung und Kontrolle von Innovationen umfasst.
In Industrieunternehmen wird Innovation vielfach mit der Entwicklung und Einführung neuer Produkte assoziiert. Innovationen können sich jedoch auf eine grosse Bandbreite von Themen beziehen. Grob unterscheiden lassen sich zwei Bereiche: Innovationen für Kunden und Märkte sowie Innovationen zur Steigerung der operativen Effizienz (vgl. Kasten unten).

Innovationsverlust in der Industrie

Die Schweiz erzielt in internationalen Innovationsrankings Top-Platzierungen und liegt im Global Innovation Ranking seit 2011 auf Platz eins. Bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung, bei der Anmeldung von Patenten und bei internationalen Publikationen ist die Schweiz ebenfalls Spitzenreiter.
Für die Industrie ergibt sich jedoch ein differenziertes Bild. Laut einer Studie der Schweizerischen Akademie der Technischen Wissenschaften (SATW) aus dem Jahr 2018 verlieren viele Schweizer KMU im Industriesektor an Innovationskraft. Viele KMU in der Schweizer Industrie reduzieren ihre Forschungs- sowie Entwicklungsanstrengungen und verzeichnen einen Umsatzrückgang bei neuen Produkten. Dies ist eine beunruhigende Entwicklung für ein Land mit grosser Industrietradition und Innovationskraft.
Computerworld 10/2019
Quelle: AWK Group

Was kann man von Start-ups lernen?

Interessante Ansatzpunkte für die eigene Innovationsentwicklung liefern Jungunternehmen im Technologiesektor, da diese generell sehr innovationsfähig sind. Insbesondere in der Software-Entwicklung werden Innovationen schnell und kosteneffizient entwickelt, mit Kunden getestet und erfolgreich am Markt eingeführt.
Erfolgreiche Start-ups betreiben ihr Innovationsmanagement nach den folgenden Prinzipien:
  • Kundenzentrierung: Der Kunde steht im Mittelpunkt des gesamten Innovationsprozesses und wird in alle Phasen der Produkt- und Serviceentwicklung einbezogen. Der Einsatz nutzerzentrierter Methoden und Tools wie Interviews, Personas oder Customer Journeys ist etabliert und findet breite Verwendung.
  • In Iterationen zum Ziel: Innovationen werden in einem iterativen Prozess realisiert. Zentrale Elemente sind das Testen von Prototypen (Papier, Mockups, Wireframes, Lego Serious Play etc.), die Einführung und Evaluation eines Minimum Viable Products (MVP) in begrenzte Marktsegmente sowie die Markteinführung eines Minimum Marketable Products (MMP). Jeder dieser Meilensteine führt zu neuen Erkenntnissen und kann in der Anpassung, Weiterentwicklung oder Aufgabe einer Innovation resultieren. Statt langer, wasserfallorientierter Projekte stehen viele kleine Schritte im Vordergrund. Gleichzeitig werden kapitalarme Methoden eingesetzt («Fake it until you make it»).
  • Interdisziplinäre Zusammenarbeit: Heterogene Team-Kollaboration ist von zentraler Bedeutung für Innovationen. Kunden, Verkauf, Entwicklung, Produktion und IT arbeiten siloübergreifend zur gleichen Zeit am selben Ort an der Entwicklung neuer Produkte oder Prozesse.
  • Bauen–Messen–Lernen: Eine wichtige Rolle spielt auch die Umwandlung von Ideen in Produkte, die Messung von Kundenreaktionen über definierte KPIs sowie das Lernen aus Kundenfeedbacks in sich kontinuierlich wiederholenden Zyklen.
  • Lean: Start-ups verzichten auf grosse, schwerfällige Projekte. Stattdessen lancieren sie eine Serie kleiner Arbeitspakete und vermeiden so Wartezeiten und Verschwendung durch Blockaden im Innovationsprozess.

“Innovationen müssen kundenzentriert erfolgen„
Boris Ricken

Handlungsempfehlungen für die Industrie

Für Schweizer Industrieunternehmen kann man die nachfolgenden Handlungsfelder ableiten:
Sensibilisierung: Die Sensibilisierung des Kaders und der Mitarbeitenden unter Berücksichtigung des unternehmensspezifischen Reifegrades ist ein erster Schritt und wichtiger Erfolgsfaktor. Mögliche Formate dafür sind beispielsweise Sensibilisierungs-Workshops sowie interne Kommunikationsveranstaltungen.
Innovationsstrategie: Um Fokussierung und Klarheit zu schaffen, sollten Industriefirmen eine individuelle Innovationsstrategie erarbeiten. Diese konkretisiert die übergeordnete Unternehmensstrategie, definiert ein klares Zielbild, formuliert Massnahmen und kanalisiert bestehende Innovationsaktivitäten. Darin ist auch zu adressieren, welche Technologien (beispielsweise Machine Learning oder Data Analytics) zu einer Disruption des eigenen Geschäftsmodells führen könnten.
Innovationsprozess: Auf Basis der entwickelten Innovationsstrategie sollte ein Innovationsprozess mit klar definierten Gates definiert werden, der Struktur vermittelt, die Priorisierung von Innovationen ermöglicht und eine effiziente Ressourcennutzung sicherstellt.
Innovationsmethoden: Schweizer Industriefirmen sollten ihr Methodenportfolio um moderne Innovationsmethoden wie Design Thinking und Lean Startup ergänzen. Diese Methoden zielen darauf ab, aus einem vertieften Verständnis von Kunden und deren Problemen Lösungsideen zu entwickeln und diese in Form von Prototypen schnell und kostengünstig zu testen.
Organisatorische Ausgestaltung: Die Organisation der Innovation kann zentral («Innovation lab»), dezentral in den Business-Einheiten oder auch extern erfolgen. Alle Varianten bieten jeweilige Vor- und Nachteile. Beispielsweise schafft eine externe Einheit grosse Freiräume und Flexibilität, erschwert jedoch den Rücktransfer von Innovationen ins operative Tagesgeschäft.
Open Innovation: Industriefirmen sollten sich zur Steigerung ihrer Innovationsfähigkeit nicht nur auf ihre eigenen Kompetenzen verlassen, sondern durch Öffnung der Organisation auch das Potenzial der Aussenwelt gezielt nutzen. Relevant ist insbesondere das Know-how von Lieferanten, Kunden und externen Partnern, wie etwa Hochschulen, sowie die Zusammenarbeit mit Start-ups.
Inkubatoren: Inkubatoren fördern die Generierung, Weiterentwicklung und Kommerzialisierung radikaler Innovationen, die anschliessend zu selbstständigen Unternehmen (Spin-out) oder ins Unternehmen zurücktransferiert (Spin-in) werden.
Fragestellungen des Innovationsmanagements
Für Kunden und Märkte:
  • Wie schaffen wir ein besseres Kundenerlebnis?
  • Welche neuen Vertriebskanäle wollen wir erschliessen?
  • Welche neuen Märkte und Kunden gibt es für unsere Produkte und Services?
  • Wie können wir innovative Produkte entwickeln und vermarkten?
  • Wie können wir neue Services entwickeln und ausrollen?
  • Wie können wir unser Geschäftsmodell verbessern?
Zur Steigerung der operativen Effizienz:
  • Wie steigern wir unsere Prozesseffizienz (Qualität, Zeit, Kosten)?
  • Was können wir in unserem Ökosystem verbessern (z. B. durch neue Lieferantenbeziehungen und Partner)?
  • Wie optimieren wir die Nutzung unserer Assets und Ressourcen?

Fazit

Der Erfolg von Schweizer Industriefirmen basiert weitgehend auf ihrer Innovationskraft. In jüngster Zeit nimmt diese jedoch besonders bei KMU bestimmter Industriebranchen ab. Schweizer Industriefirmen können gegensteuern und ihr Innovationspotenzial durch eine Reihe von Massnahmen kosteneffektiv steigern, um ihre langfristige Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Erfolgsfaktoren für die Innovation bei Start-ups können auf die eigene Unternehmensstrategie übertragen werden und frische Impulse liefern für den eigenen Innovationsprozess.

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