Gastbeitrag 15.10.2021, 07:30 Uhr

Innovation mit der erweiterten Realität

Unternehmen sind in der Lage mittels Technologie Innovation in Produkte und Services zu bringen. Die AR/VR-Technologie bietet viele Möglichkeiten, bringt jedoch nur bei gezieltem Einsatz den relevanten innovativen Nutzen in der Praxis.
(Quelle: Zühlke)
Spricht man über erweiterte Realität wird zwischen der erweiterten (Augmented Reality oder AR) und der virtuellen Realität (Virtual Reality oder VR) unterschieden. Die AR zeigt Objekte und Informationen mittels Hologrammen an und integriert diese in die reale Welt, die für den Nutzer sichtbar bleibt. Bei der VR befinden sich die Anwender dagegen in einer virtuellen Welt, mit der sie interagieren, die aber von der Realität abgekoppelt ist.
AR ist eine aktuelle Technologie, der sich insbesondere Microsoft mit der HoloLens 2 verschrieben hat. Weitere Geräte auf dem Markt sind die MagicLeap und die ThinkReality A3 von Lenovo. AR ist ein Trend bei den grossen Unternehmen und so hat Facebook kürzlich in Kooperation mit Ray Ban eine AR-Brille mit dem Namen «Ray Ban Stories» herausgebracht. Zuvor waren Google und Snapchat mit ihren AR-Brillen am Markt gescheitert. Beide Unternehmen geben die AR aber nicht auf, wie man an der Google Glass 2 mit Industriefokus und der Spectacles 3 von Snapchat verfolgen kann. Seit mehreren Jahren gibt es zudem Gerüchte, dass Apple an einer AR-Brille arbeitet.
Grundsätzlich wird AR gegenüber VR mehr Potential eingeräumt, wie etwa Aussagen von Apple CEO Tim Cook belegen. Wir stellen fest, dass bei AR die reale Welt weiterhin sichtbar ist und zusätzlich mit digitalen Informationen angereichert werden kann. Damit umfasst diese Technologie nicht nur viel mehr Anwendungsfälle als VR, sondern kann in vielen Bereichen des täglichen Lebens eingesetzt werden.

Massentauglicher Einsatz

Stellen wir uns die Fragen nach der Massentauglichkeit der AR-Technologie. Generell scheinen AR und VR im Massenmarkt angekommen zu sein. Im privaten Bereich werden vor allem zwei Apps mit AR Funktionen verwendet, einerseits die Massband App von Apple und andererseits die Fussgänger Navigation von Google. Bezüglich der massenhaften Anwendung und Durchdringung bleiben aber Zweifel. Die Technologien sind weithin bekannt und in den Industrieländern haben diese viele Menschen ausprobiert. Auch die technischen Herausforderungen wie z.B. das Tracking im Raum, Portabilität, Rendering und Performance sind gelöst. Selbst die Benutzbarkeit hat grosse Fortschritte gemacht und ist mit angenehmem Tragekomfort, verständlicher Interaktion mit Controllern, Gesten und Sprachsteuerung recht intuitiv geworden. Zweifeln darf man jedoch, wenn es um die Verbreitung und den Besitz der Geräte (vor allem im privaten Bereich) geht. Der Aufwand AR oder VR z.B. professionell für Onlinemeetings zu nutzen ist zu hoch, insbesondere für Unbedarfte und Anfänger. Zudem gibt es noch sehr viele Probleme in beiden Welten (AR und VR). Dies sind die beschränkte Dauer der Nutzung, mühsame Kollaboration in der virtuellen Welt, die sog. «Motion Sickness» (Übelkeit bei der Verwendung), unzureichende Display-Auflösungen, die Abkopplung von der realen Welt und das fehlende haptische Feedback. An all diesen Punkten wird geforscht und es bleibt spannend wie sich diese Felder weiterentwickeln.

Potentiale der erweiterten Realität

Ein starkes Argument für das grössere Potential von AR gegenüber VR ist die Verbindung von realer und virtueller Welt über Hologramme, was es den Anwendern erlaubt, sowohl mit der Realität als auch den virtuellen Objekten zu interagieren. Innovationen mit AR sind in vielen Bereichen angedacht und in der Erprobung. Bekannt sind Anwendungsfälle aus Industrie und Medizin wie z.B. die Durchführung von Operationen mit AR-Brillen. Beispiele aus der Automatisierung und Produktvisualisierung schliessen sich an. Weitere Prototypen und Fallstudien gibt es in der Architektur zur Bauplanung oder in Bereichen, die Simulationen, Training oder Prototyping mit AR realisieren. Zu beobachten ist, dass häufig offen bleibt woher die notwendigen Daten kommen und wie die dahinterliegenden IT-Strukturen aufgebaut sind, damit alles funktioniert. Meist handelt es sich um Showcases, die wenig praxisrelevant sind oder offen lassen was den Aufwand rechtfertigt.
“Der Einsatz der erweiterten Realität bringt nur in spezifischen Anwendungsfällen einen praxisrelevanten Vorteil.„
Dr. Fredrik Gundelsweiler
Reduzieren wir die Anwendungsfälle auf den praktischen Nutzen und damit auf Produkte, die tatsächlich im Einsatz sind, so reduzieren sich die vielen Beispiele auf einige grundlegende Funktionen. Dazu gehören etwa AR-Tempo-Anzeigen in Fahrzeugen, Picking und Navigation in Lagerhallen, Remote-Support mit 3D-Unterstützung und Bildtelefonie, Vermessung und Verkauf (Beispiel TKElevator) sowie weitere Anwendungen in Architektur und Städteplanung. Neben Spielen, die auch in der AR ihren Reiz haben können, wird AR bei professionellen Anwendungen vor allem für Training und Simulation, Service und Wartung, Remote-Unterstützung und -Abnahme, 3D-Prototyping, Produktvisualisierungen und -erlebnisse, sowie Live-Datenanzeige im Nutzungskontext der Anwender (z.B. Zustand von Sensoren in einer Fabrikhalle) eingesetzt. Analysiert man diese AR-Szenarien, so ist der Nutzen auf drei Vorteile von AR zurückzuführen: Ein Vorteil liegt in der Brille selbst, da Benutzer die Hände frei haben und mit diesen arbeiten können. Der zweite Vorteil betrifft die visuelle Darstellung. Anweisungen für die Nutzer können in 3D und animiert erfolgen, was gegenüber Papier-Anleitungen grosse Vorteile bzgl. Verständnis und Vermeidung von Fehlern bietet. Der dritte Vorteil ist die Verortung von digitalen Informationen im Nutzungskontext, sodass dem Anwender zum richtigen Zeitpunkt relevante Daten angezeigt werden.

Der praktische Einsatz von AR

Die Technologie gibt bereits einige Rahmenbedingungen für den praktischen Einsatz vor. Dies lässt sich sehr gut am Beispiel der Microsoft HoloLens illustrieren. Die Lichtsituation sollte nicht zu dunkel sein oder im besten Fall kontrollierbar, da sonst das Tracking der Person im Raum nicht gut funktioniert. Zudem sind schwarze Flächen oder Objekte nicht oder kaum vom infrarotbasierten Scanning erfassbar und können so nicht als Teile oder Bereiche des Raumes erkannt werden. Wichtig ist ausserdem, dass die HoloLens für Innenräume gedacht ist. Das bedeutet, dass neben Dunkelheit sowohl Sonne als auch Wasser schlecht für das Gerät sind. Die Sonne stört beispielsweise die Infrarot-Sensorik und es wird zusätzlich schwierig die Hologramme auf dem Display zu erkennen, während Wasser schädlich für die Elektronik ist. Für das Tracking des Raumes ist wichtig, dass möglichst viele sog. «Features» (unterschiedliche und vor allem verschiedene Kontraste) in den verwendeten Räumen vorhanden sind. Sollen die Räume vom Gerät erkannt und unterschieden werden, sollten diese nicht zu weitläufig oder gar gleich aufgebaut sein (etwa ähnliche Büros auf verschiedenen Etagen). Hier besteht für die KI der Brille Verwechslungsgefahr. Ein wichtiger Punkt ist die Genauigkeit der HoloLens-Sensorik und die Möglichkeiten der Computer Vision, die bedacht werden müssen, wenn Objekte erkannt oder getrackt werden oder sogar Vermessungen gemacht werden sollen. Aufgrund der vielen Einflussparameter auf die Genauigkeit und die Sensorik (Licht, Bewegung, Kalibrierung, Software KI und maschinelles Lernen, usw.) kann das Gerät keine absolute Genauigkeit liefern. Hier ist eine Evaluation notwendig, um herauszufinden, ob die Daten genügend genau sind.
Neben diesen technischen Voraussetzungen gibt es zusätzlich die geschäftsrelevanten und die menschlichen Faktoren. Diese umfassen einerseits den digitalen Reifegrad des eigenen Unternehmens bzw. die vorhandene Infrastruktur. Da stellt sich die Frage, ob die notwendigen Daten über Schnittstellen verfügbar sind und die AR-Geräte ins Firmennetzwerk eingebunden und administriert werden können. Gleichzeitig kann AR je nach Unternehmen auch eine kulturelle Veränderung im Zuge der Digitalisierung bedeuten.
Alle Anwendungsfälle, die obige Vorbedingungen nicht oder nur zum Teil erfüllen können, erschweren oder verunmöglichen den Einsatz der AR-Technologie. Anhand der gegebenen Rahmenbedingungen kann der geplante Anwendungsfall von AR-Experten analysiert werden. Eine Kosten-Nutzen-Analyse und die Überlegung, ob die AR-Anwendung bzw. deren Inhalte skalierbar sind, vereinfacht die Entscheidung für oder gegen eine Realisierung wesentlich. Zur Realisierung bieten Unternehmen Out-of-the-box-Lösungen für AR an, sodass nur in bestimmten Fällen eine eigene Entwicklung notwendig wird. Neben Standard-Lösungen von Microsoft wie «Remote Assist» für die HoloLens gibt es z.B. Lösungen von Unternehmen wie https://www.spacific.de/ für Messungen und 3D-Darstellung, https://holo-one.com/ und https://holo-light.com/ für Remote Support und Anleitungen oder den TeamViewer Pilot von https://www.teamviewer.com/.

Innovation mit der erweiterten Realität

Innovation von Produkten und Services in Unternehmen mit der erweiterten Realität sind generell möglich, jedoch nicht immer sinnvoll. Der Schlüssel liegt in der Prüfung der Anwendungsfälle auf die sinnvolle geschäftliche, technische und kulturelle Realisierbarkeit hin. Der User Experience und Usability kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, da sowohl der Nutzungskontext als auch der Umgang mit der neuen und ungewohnten Technologie bedacht werden müssen. Findet man sinnvolle Anwendungsfälle dann besteht die Möglichkeit mittels Digitalisierung und der erweiterten Realität Innovationen zu schaffen, die Effizienz und Geschwindigkeit steigern und fehleranfällige Abläufe verbessern. In bestimmten Fällen ist sogar die Erschliessung neuer Geschäftsfelder mit eigenen Produkten möglich.
Zum Autor
Dr. Fredrik Gundelsweiler
Zühlke
Dr. Fredrik Gundelsweiler ist Principal Consultant und Partner bei Zühlke und beschäftigt sich seit über 10 Jahren mit der erweiterten Realität im Rahmen der Digitalisierung. Dabei begleitet er Innovationsprojekte von den ersten Ideen und Machbarkeitsstudien über die Produktentwicklung bis zum operativen Betrieb. Details zu einem der relevantesten HoloLens Projekte sind unter https://www.zuehlke.com/de/unsere-projekte/digitaler-salesprozess-begeistert-kunden-und-spart-zeit zu finden.



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