IT-Projekte der Industrie 29.04.2021, 07:07 Uhr

Smarte Ware aus Schweizer Fabriken

In Digitalprojekten der Schweizer Industrie geht es um mehr als nur Effizienz. Produkte werden angereichert – oft mit Daten und häufig aus der Cloud. Unternehmen wieABB, Bühler, Nestlé und V-Zug sind Vorreiter.
(Quelle: Shutterstock/Zapp2Photo)
Digitale Technologien sind in der grossen Mehrheit der Schweizer Industriebetriebe angekommen. Entwicklungen wie Pandemie und Lockdown haben die Digitalisierung noch beschleunigt, ergab zuletzt eine Umfrage der Initiative «Industrie 2025» unter 112 Unternehmen. «Durch Corona hat die Digitalisierung für Industriefirmen weiter an Bedeutung gewonnen», sagt Boris Ricken, Head of Manufacturing bei der AWK Group, die an der Umfrage mitwirkte. Die Ergebnisse stützen seine Aussage: Fast drei Viertel (70 Prozent) stimmten zu, dass die Digitalisierung durch die Corona-Krise noch mehr Gewicht bekommen hat. Gleichzeitig berichteten gerade einmal 6 Prozent von einem Stopp der laufenden Digitalisierungsprojekte im eigenen Unternehmen.
“Durch Corona ist Digita­lisierung für die Industrie wichtiger geworden„
Boris Ricken, AWK Group
Viele der Digitalisierungsvorhaben dienen anfangs der Optimierung operativer Prozesse. So gab die Schweizer Industrie am meisten Geld für CRM-, ERP-, MES- oder auch PLM-Systeme aus. In der Umfrage gaben 61 Prozent an, «hohe» oder sogar «sehr hohe» Investitionen zu tätigen. Diese Aussagen decken sich mit den publizierten IT-Projekten der vergangenen zwölf Monate: Die meisten der fast 80 Informatik-Neuerungen in den Betrieben des verarbeitenden Gewerbes hatten klassische IT-Implementierungen zum Ziel. Die grossen Player in der Branche sind schon weiter. Konzerne wie ABB, Bühler, Nestlé und V-Zug reichern ihre Produkte und Dienstleistungen mit Technologie an – und schaffen so Mehrwerte.

ABB: Cloud und die Blockchain

Alec Joannou, der Group CIO von ABB, gab Mitte vergangenen Jahres der Computerworld zu Protokoll, dass eine seiner grössten Herausforderungen die Befähigung der Mitarbeiter im Umgang mit dem permanenten technologischen Wandel sei. Sein Konzern wird vom Industriekonzern zum Technologieanbieter. Dabei spannt ABB seit Juli 2020 noch stärker mit Accenture zusammen. Eines der Hauptziele ist es, die «Ability»-Lösungen von ABB weiterzuentwickeln. «Wir werden uns auf fortschrittliche Zustandsüberwachungsdienste zur Vermeidung von Maschinenausfällen durch vorbeugende Wartung und auf Fertigungsautomatisierungslösungen für noch mehr Effizienz in der Fabrik konzentrieren», so Bernd Heisterkamp, Digital Leader im Geschäftsbereich Antriebstechnik von ABB. Hierfür soll Accentures Know-how insbesondere im Bereich der Azure-Technologien vermehrt eingesetzt werden.
Die Stromzähler von ABB liefern Messwerte in Echtzeit an die Blockchain von Ormera
Quelle: ABB
Die in jüngerer Vergangenheit häufiger lancierten Angriffe auf Industrieanlagen will ABB gemeinsam mit IBM abwehren. Eine Kooperation beider Unternehmen wurde im Oktober 2020 angekündigt, zusammen mit einem Monitoring- und Überwachungsservice. Die während der Attacken gesammelten Daten können an die Spezialisten von IBM weitergegeben werden, um Schwachstellen zu erfassen respektive proaktiv zu schliessen. Die neuen Partner planen, in Zukunft weitere Services für den Schutz vor Cyberbedrohungen zu entwickeln.
Für die Informatikinfrastruktur setzt ABB neu auf Google Cloud. Der Hyperscaler soll helfen, mit Methoden aus Data Science, künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen die interne IT-Qualitätssicherung zu vereinfachen und zu verbessern. Im Rahmen der Rationalisierung des IT-Betriebs – «Programm Rio» – verfolgt ABB einen Cloud-First-Ansatz: Sowohl in den strategischen Rechenzentren als auch in entfernten Niederlassungen sollen bestimmte Dienste automatisiert respektive konsolidiert werden. Die IT-Abteilung des Konzerns arbeitet weiterhin mit Tata Consultancy Services (TCS) zusammen für die Umgestaltung der Hosting-Infrastruktur und das Cloud-Service-Management.
Gemeinsam mit dem Start-up Ormera setzt ABB auf die Blockchain-Technologie für ein neues Endprodukt: Smart Meter für die Stromabrechnung. Die Hardware von ABB erfasst die Daten zu Stromproduktion und -verbrauch von Solaranlagen. Sie werden automatisch auf die Blockchain-Applikation von Ormera übertragen. Die Applikation ordnet die Daten dem jeweiligen Verbraucher zu und verrechnet den Tarif automatisch über die hinterlegte Zahlungsverbindung. Durch die in Echtzeit verfügbaren Informationen können die Stromtarife flexibel nach Jahreszeit oder Tagesverlauf gestaltet und der Preis dynamisch an Strompreisbörsen und Wetterlagen angepasst werden. Als weitere Einsatzgebiete sieht ABB beispielsweise die Gas- und Wasserrechnung oder die Verrechnung des bezogenen Stroms an Auto-Ladestationen.
Zusammen mit dem Hyperscaler Amazon Web Services (AWS) entwickelt ABB ausserdem eine Cloud-basierte Lösung für das Echtzeit-Flottenmanagement von Elektrofahrzeugen. Die Lösung soll den effizienten Einsatz der Fahrzeuge ermöglichen und es den Flottenbetreibern zukünftig erlauben, die Geschäftskontinuität bei der Umstellung auf vollelektrische Fahrzeuge aufrechtzuerhalten. Die beiden Partner wollen die Plattform bereits in der zweiten Hälfte dieses Jahres lancieren.

Bühler: ERP und Reismühle

Laut Aussage von CEO Stefan Scheiber investierte der Industriekonzern Bühler im abgelaufenen Jahr «antizyklisch» in die Informatik. Mit der ERP-Migration wurde ein mehrjähriges Grossprojekt gestartet. Die seit 1998 betriebene SAP-Software R/3 wird abgelöst. Die Dimension veranschaulichen folgende Eckdaten: 33 Niederlassungen rund um den Globus sind auf einem einzigen SAP-Mandanten integriert. Über dieses System laufen pro Jahr mehr als 13 Millionen Finanztransaktionen, 2,5 Millionen Einkaufsprozesse, 65 000 Produktionsaufträge, 140 000 Auslieferungen und 2500 Kundenprojekte. CIO Manfred Goetz hat im Vorfeld der Migration schon Daten bereinigt und die Geschäftsprozesse vereinfacht respektive weiterentwickelt. Die Transformation auf S/4Hana soll etwa eineinhalb Jahre dauern. Bühler verspricht sich, mit dem neuen System Geschäftsdaten in Echtzeit verarbeiten zu können, Abläufe zu automatisieren sowie Simulationsszenarien zu erstellen, zum Beispiel Prognosen für die Lagerhaltung, Liquidität oder den Vertrieb. Die Anwender können ihre Arbeit auf neuen Bedienoberflächen an Dashboards beginnen, generierte Daten anhand operativer Kennzahlen in Echtzeit priorisieren und vom Dashboard aus direkt in die jeweilige Zielanwendung navigieren.
“Wir investieren antizy­klisch in der Pandemie, um uns künftig fit zu halten„
Stefan Scheiber, Bühler
Die neuen Systeme werden in Bühlers neuen «SwissSafe» installiert. Das Rechenzentrum bei Interxion in Glattbrugg wurde Mitte des vergangenen Jahres in Betrieb genommen. Es ersetzt die Serveranlagen, die früher ausschliesslich auf dem Bühler-Werksgelände in Uzwil betrieben wurden. Während eines externen Audits wurde klar, dass der Betrieb vor Ort nicht länger ohne grössere Risiken haltbar war. Deshalb zügelte Bühler seine IT-Infrastruktur zu Interxion. Dank 10-Gigabit-Leitungen kann hier das eigene, globale Netzwerk fit gemacht werden für die Datenströme der Zukunft – und findet Anschluss an viele Internet Service Provider sowie an die grossen Cloud-Anbieter, die ebenfalls Untermieter von Interxion sind.
Bühlers TopWhite-Schleifer justiert sich dank der eingebauten Computertechnologie selbst nach
Quelle: Bühler
In Microsofts Azure-Cloud betreibt Bühler schon seit mehreren Jahren unter anderem die Industrieplattform «Bühler Insights». Sie verbindet die Anlagen und Maschinen bei den Kunden via Azure IoT Edge mit Applikationen in der Cloud. Mit Azure Data Explorer aufbereitete Telemetriedaten vermitteln dann den Betreibern beispielsweise von Mühlen, wie die Maschinen ausgelastet sind, ob ein baugleiches Modell besseren Output liefert oder welche Teile allenfalls gewartet werden müssen. Cédric Menzi, Solution Architect for Bühler Insights, programmiert derzeit Algorithmen mit künstlicher Intelligenz und Machine Learning, die den Kunden auf der «Bühler Insights»-Plattform noch zusätzliche Benefits bringen sollen: Weniger Anlagenausfälle, weniger Stillstandzeiten und ein geringerer Stromverbrauch sind Beispiele.
Der optische Sortierer DS-C von Bühler nutzt maschinelles Lernen für die Ausschusserkennung
Quelle: Bühler
Die grösste Schweizer Reismühle, die Migros-Tochter La Riseria Taverne im Tessin, testet in diesen Tagen die voll integrierte digitale Reismühle von Bühler. Das System aus optischem Sortierer, Schleifer und Sensoren für die Qualitätssicherung ist mit maschinellem Lernen angereichert – direkt in der Anlage.
Der neue Sortierer DS-C vermeidet beispielsweise Auswurfspitzen, die zum Verlust von guten Produkten führen können. Bei sehr geringen Verunreinigungen muss das Produkt möglicherweise nicht neu sortiert und kann direkt verpackt werden. Bei einem Durchsatz von 3500 Kilogramm pro Stunde mit einer Auswurfspitze könnten bis zu 42 Kilo gutes Produkt verloren gehen, wenn die Fehler nicht erkannt und behoben werden. Die monatlichen Einsparungen durch die verbesserte Sichtbarkeit könnten sich auf bis zu 15 000 US-Dollar belaufen, rechnet Bühler beispielhaft vor. Der Pilotkunde kann das nachvollziehen: «Der neue Aufbau, bestehend aus digital verbundenen optischen Sortierern, einem Schleifer und RiceLinePro-Sensoren, hat uns Transparenz über den gesamten Prozess verschafft. Erste Ergebnisse deuten auf signifikante Kosteneinsparungen, eine Reduzierung des Energieverbrauchs und einen erhöhten Qualitätsausstoss hin», sagt Stefania Dolci, Leiterin der Qualitätssicherung bei La Riseria Taverne.

Nestlé: BI und Augmented Reality

Der Westschweizer Konsumgüterriese Nestlé hat gemäss der Bilanzrechnung das Krisenjahr gut gemeistert. Dabei hat auch die IT geholfen, wie der Global Head of IT Plattforms, Robert Müller, schrieb: «In weniger als einem Monat wurde die Zahl der simultanen VPN-Leitungen auf 105 000 vervierfacht, sodass die Angestellten im Heimbüro mit den Nestlé-internen Systemen arbeiten konnten. Das hauseigene Videokonferenzsystem wurde zunächst für 13 000 und später für mehr als 200 000 User ausgerollt – innerhalb einer Woche. Parallel stellte das IT-Team sicher, dass alle Systeme adäquat gewartet wurden und die Schutzmechanismen trotz der höheren Kapazitäten intakt waren.»
“Augmented Reality hilft uns, Effizienz in unseren Fabriken zu steigern„
David Findlay, Nestlé
Nestlés positiver Jahresabschluss wurde unter anderem auch getragen vom starken Zuwachs im Online-Business. Das Geschäft legte um fast 50 Prozent zu – und erreichte einen Anteil von mittlerweile 12,8 Prozent am Gesamtumsatz. Um die digitalen Verkaufskanäle abzusichern, partnert das Unternehmen neu mit Microsoft. Die Eigenentwicklung «PhishScreener» aus Nestlés Global Security Operations Center nutzt unter anderem Machine-Learning-Technologie aus der Azure-Cloud zur Identifikation und Abwehr schadhafter E-Mails. Die Lösung wacht gemäss Microsoft mittlerweile über die mehr als 300 000 E-Mail-Konten des Industriekonzerns.
Eine weitere Microsoft-Lösung ist schon einige Jahre bei Nestlé in Betrieb: Power BI hilft dem Business bei datengetriebenen Geschäftsentscheiden. Was mit einer Gruppe von 700 Power Usern vor drei Jahren begann, ist mittlerweile auf über 45 000 monatliche Anwender gewachsen. Die Anwendung nutzt einerseits Informationen aus dem konzerneigenen SAP Data Warehouse, aber andererseits auch externe Datenquellen wie Marktforschungsresultate. Azure Machine Learning wird bei der Datenaufbereitung eingesetzt, sodass die Anwender auf Dashboards selbstständig Analysen vornehmen können. So lassen sich die Absätze der Marken und Produkte aus dem Nestlé-Portfolio steuern, gezielt neue Kundengruppen adressieren und auf lokale Besonderheiten wie Trockenperioden reagieren. Erst jüngst berichtete Microsoft von Plänen des Konsumgüterkonzerns, in Zukunft fortschrittliche weitere Analytik-Anwendungen mit Azure und Power BI realisieren zu wollen.
Nestlé konnte durch den Einsatz von Smart Glasses auch während des Lockdowns neue Fabriken aufbauen
Quelle: Nestlé
Bereits umgesetzt hat Nestlé den Einsatz von Augmented-Reality-Technologie in Forschung und Produktion. Via Remote Desktop, Computer-Brillen, 360-Grad-Kameras und 3D-Software beraten die Spezialisten bei komplexen Aufgabenstellungen, ohne dabei zum jeweiligen Standort zu reisen. Die Technologien werden vor allem zur Einrichtung oder Neugestaltung von Fabriken, für die Umsetzung neuer Produkte an bestehenden Produktionslinien, für Wartungsarbeiten oder für die Überprüfung neuer Maschinen bei den Lieferanten eingesetzt. Quasi nebenbei konnten so auch während der Covid-19-Pandemie die Fabriken reibungslos am Laufen gehalten und Investitionsprojekte pünktlich umgesetzt werden, berichtet Nestlé. «Der Schutz unserer Mitarbeiter hat für Nestlé oberste Priorität. Die Einführung beispielsweise von Augmented-Reality-Technologie hilft uns dabei, Effizienz und Geschwindigkeit in unseren Fabriken zu steigern und unsere Reisetätigkeiten insgesamt zurückzufahren», so David Findlay, Global Head of Manufacturing bei Nestlé. So arbeiteten Forscher in der Schweiz beispielsweise mit an der Erneuerung einer Produktionslinie für eine Fabrik für Milchprodukte im thailändischen Navanakorn. Da die Anlage früher fertiggestellt wurde als geplant, konnten die Schweizer Experten auch noch bei der Umsetzung einer neuen Produktionsanlage für Säuglings-Cerealien im chinesischen Shuangcheng helfen.

V-Zug: ERP und smarter Ofen

Der Haushaltsgerätehersteller V-Zug ist seit Mitte vergangenen Jahres ein selbstständiges Unternehmen. Der Mutterkonzern Metall Zug hatte den Geschäftsbereich abgespalten und an die Börse gebracht. Zuvor war die IT von V-Zug mit einem ERP-Projekt stark beschäftigt. Einige Probleme bei der Einführung von SAP gipfelten im Sommer 2019 in einer Gewinnwarnung des Industriekonzerns. Gemäss dem Head IT, Jean-Claude Flury, arbeiten die Systeme mittlerweile einwandfrei. Nun hat Flury als neuer Schweiz-Vorstand der Deutschsprachigen SAP-Anwendergruppe mehr Zeit, sich für die Belange seiner CIO-Kollegen einzusetzen.
Metall Zug musste im vergangenen Jahr noch einen weiteren IT-bedingten Rückschlag hinnehmen. Der Geschäftsbereich Medical Devices sei im April 2020 zudem in den USA Opfer eines Cyberangriffs geworden, teilte das Unternehmen mit. Eine konzerninterne Zahlung sei auf ein falsches Konto überwiesen worden. Dabei sei ein Schaden in Höhe von 2,5 Millionen Franken entstanden. Die Untersuchungen zum Auffinden der Täterschaft seien allerdings wenig Erfolg versprechend gewesen.
Häufig genutzte Funktionen lassen sich bei V-Zugs «Excellence Line» als App-Favoriten speichern
Quelle: VZug
Der neue V-Zug-Konzern konnte auf Basis stabiler IT-Systeme die Digitalisierung forcieren. Ende 2020 lancierte das Unternehmen «V-Connect», eine Ferndiagnoselösung, die das Auslesen und Übermitteln von Gerätestatusmeldungen ermöglicht. So konnte die Notwendigkeit von Service-Einsätzen beim Kunden reduziert werden. Die erst im März neu vorgestellten Backöfen und Steamer der «Excellence Line» besitzen ein Touchdisplay, dessen Bedienung sich an der von Smartphones orientiert: Häufig genutzte Funktionen und individuelle Einstellungen lassen sich als Favoriten abspeichern. Sie werden zu Apps und können frei platziert sowie per Fingerzeig gestartet werden.



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