Near- versus Farshoring
24.10.2022, 06:12 Uhr
Der Trend geht in die Nähe
Die ZHAW zeigt auf, welche Nearshoring-Standorte besonders attraktiv sind und weshalb Asien und Osteuropa beim Offshoring an Bedeutung verlieren. Zudem erklärt die Software-Firma BBV, wie sie On-, Far- und Nearshoring kombiniert.
Das Schwingen (hier am 1. August auf dem Rütli) ist - anders als die ICT-WIrtwschaft - eine rein innerschweizerische Angelegenheit
(Quelle: Keystone/Urs Flüeler)
Der Mangel an Fachkräften ist (nicht nur) für die Schweizer IT-Branche eine riesige Herausforderung. Dies zeigt auch die diesjährige «Top 500»-Umfrage der Computerworld, bei welcher der Fachkräftemangel als der mit Abstand grösste Bremsklotz genannt wird. Gegenüber dem Vorjahr hat sich die Situation sogar nochmals verschärft (vgl. nachfolgende Grafik). Rund ein Viertel der Befragten (25,7 %) gibt auch an, dass in ihrem Unternehmen im letzten Jahr ein Geschäft oder Projekt gescheitert ist, weil das qualifizierte Fachpersonal gefehlt hat.
Bremsklötze der Schweizer ICT-Industrie
Quelle: ICT Analytics (2022: n = 263, 2021: n = 270, 2020:n = 309)
Nearshoring gewinnt an Bedeutung
Eine weitere Möglichkeit bietet jedoch das Offshoring von Workloads, also das Auslagern von Geschäftsaktivitäten ins Ausland – entweder in weiter entfernte Weltregionen (Farshoring) oder innerhalb von Europa (Nearshoring). Das ist nichts Neues – Offshoring wird schon seit Ewigkeiten betrieben –, jedoch war der Treiber früher mehr finanzieller Natur, während es mittlerweile immer stärker darum geht, genügend Fachkräfte zu finden, damit die Nachfrage der Kundschaft befriedigt werden kann.
Dieser Umstand hat auch geografische Auswirkungen: Die Lohndifferenz zur Schweiz nimmt an Bedeutung ab, wogegen das lokale Fachkräfteangebot, gut funktionierende grenzüberschreitende Arbeitsabläufe, institutionelle und soziale Faktoren und so weiter immer wichtiger werden. Entsprechend führte dies in den letzten Jahren – ganz nach dem Motto «Warum in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah» – zu einem Trend in Richtung Nearshoring.
Asien verliert an Stellenwert
Das bestätigt auch Benedikt Zoller-Rydzek, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Center for Global Competitiveness (CGC) an der School of Management and Law (SML) der Zürcher Fachhochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW), das die Erfolgsfaktoren im Nearshoring untersucht.
«In den 1990er-Jahren lag es für Schweizer Industriefirmen im Trend, nach China zu gehen», erklärt er. «Nach rund zehn Jahren haben sie dann gemerkt, ups, China ist vielleicht doch nicht so toll, wie wir uns das vorgestellt haben.» Es habe sich dann eine Verschiebung zurück in die nähere Umgebung, insbesondere nach Osteuropa, eingestellt. «Das wiederholt sich seit zehn Jahren nun auch in der IT-Industrie, nachdem sie zuvor vieles in die grossen IT-Zentren Indien, Bangladesch und so weiter ausgelagert haben.»
Das Offshoring in ganz weit entfernte Länder sei eben doch nicht so einfach, wie sich das viele vorstellen. «Die Schwelle, ein erfolgreiches Farshoring zu betreiben, ist hoch und umso höher, je weiter die Entfernung ist», sagt Zoller-Rydzek. «Der Zeitunterschied ist grösser und auch die Kulturen sind unterschiedlicher.»
“Es gilt, immer abzuwägen, wie erfolreich man sein kann und wie viel Ersparnis man hat„
Benedikt Zoller-Rydzek, ZHAW
Wenn man regelmässig morgens um 2 oder 3 Uhr aufstehen müsse, um einen Call mit Leuten in Japan zu machen, die dann kurz vor dem Feierabend sind, sei das extrem aufwendig und nervig. Praktischer sei es, wenn sich die Arbeitszeiten möglichst stark überlappen. Auch sei die Schnittstelle zur asiatischen Kultur anders, was oft unterschätzt werde: «Das gilt für die Art der Teamführung, das Qualitätsbewusstsein und teilweise auch für die Art des Programmierens», sagt er. «Es wird anders gelehrt an den Hochschulen und das merkt man.»
Gerade die kulturelle Komponente werde oft unterschätzt: «Einer der Hauptgründe, weshalb Offshoring fehlschlägt, ist denn auch, dass sich die Unternehmenskultur an den fernen Standorten nicht so etablieren lässt, wie sich eine Schweizer Firma das wünscht.» Wichtig sei deshalb, dass sich die Unternehmen persönlich vor Ort ein Bild machen, ob der Offshore-Standort auch wirklich zu ihnen passt.
Erfolg versus Ersparnis
Natürlich kann nun ins Feld geführt werden, dass das Lohnniveau in Europa höher als in Asien ist. Doch das ist nur eine oberflächliche Betrachtung. «Es gilt, immer abzuwägen, wie erfolgreich man sein kann und wie viel Ersparnis man hat», sagt Zoller-Rydzek. «Wenn man 10 bis 20 Jahre braucht, bis man beispielsweise in Myanmar produktiv ist, und das in Österreich oder Ungarn deutlich schneller geht, können die um 20 bis 40 Prozent höheren Löhne meist verkraftet werden.»
Auch die Suche nach Arbeitskräften spiele hier mit: «Wenn ich neue Arbeitskräfte nicht gut in die Firma einbinden kann, ist es zwar schön, dass diese verfügbar und günstig sind, aber sie können nicht effektiv genutzt werden. Dann wird das Farshoring schnell teurer, als es das Nearshoring wäre.»
ZHAW erforscht das IT-Nearshoring
Das CGC führt – gemeinsam mit den Umsetzungspartnern swissICT und Information Security Society Switzerland (ISSS) – seit 2019 jährliche Umfragen bei Schweizer IT-Unternehmen durch. «Wir wollen aufzeigen, aus welchen Gründen sie unterschiedliche Nearshoring-Standorte gewählt haben und welche Erfahrungen sie dabei machen», erklärt Zoller-Rydzek. «Ebenfalls wollen wir herausfinden, was die Treiber von optimalen IT-Nearshoring-Lokalisationen sind.» Aus der Umfrage wird dann ein Nearshoring-Attraktivitätsindex für knapp 100 Regionen innerhalb von Europa evolviert: «Dieser erlaubt es den Firmen, ihre Nearshoring-Entscheidung objektiver und datenbasierter zu treffen.»
Der Nearshoring-Index ist frei zugänglich: «Wir sind ein Hochschulinstitut und haben entsprechend einen Öffentlichkeitsauftrag», erklärt Zoller-Rydzek. «Man kann sich deshalb als Schweizer IT-Firma auf unserer Website anschauen, wie eine durchschnittliche Schweizer IT-Firma die verschiedenen Nearshoring-Standorte einschätzt.» Gleichzeitig mache das CGC auch Unternehmensberatungen: «Firmen können uns sagen, was bei ihnen anders als beim Durchschnitt ist, beispielsweise was die Löhne, die Unternehmenskultur oder den Datenschutz anbelangt. Wir erstellen dann für den Kunden eine individualisierte Datenanalyse und daraus personalisierte Indizes.» In Anspruch genommen werde dieser Service hauptsächlich von IT-Firmen oder Firmen, die ihre IT nearshoren wollen. Meist handle es sich um IT-lastige Finanzfirmen.
Verlagerung von Ost- nach Westeuropa
Laut Zoller-Rydzek zeige sich derzeit ein Trend weg vom klassischen Nearshoring in Osteuropa. «Die Firmen gehen eher wieder nach Westeuropa», sagt er. «Regionen wie Barcelona, Kopenhagen und Manchester sind sehr attraktiv, beispielsweise was die Verfügbarkeit von IT-Fachkräften anbelangt.» Auch seien die kulturellen Unterschiede beispielsweise zum Norden von England nochmals geringer als etwa zu Moldawien. Auch böten sich Vorteile in Dingen wie Sprache und Erreichbarkeit.
Besonders betroffen ist kriegsbedingt die Ukraine. «Diese war ein absolutes Erfolgsmodell für Nearshoring», erklärt Zoller-Rydzek. «Sie hat sehr viele sehr fähige Programmierer, die auch Highlevel-Programmiersprachen beherrschen.» Die meisten Schweizer Firmen seien im Moment sehr kulant, was dortige Auftragsarbeiten anbelangt.
Schwieriger sei es für jene, die in der Ukraine Nearshoring-Standorte betreiben: «Momentan gibt es einen Ausreisestopp für Männer aus der Ukraine», sagt er. «Schweizer Unternehmen bemühen sich deshalb um Ausnahmegenehmigungen, mit denen fähige Programmierer in die Schweiz geholt werden können.» Und jene, die es schaffen, selbst zu fliehen, würden oft mit Handkuss in der Schweiz eingestellt: «Der Krieg unterstützt einerseits den Trend der Nearshoring-Verschiebung nach Westeuropa und andererseits den Brain-Drain aus der Ukraine», so Zoller-Rydzek. «Und ich gehe davon aus, dass es, wenn sich der Konflikt beruhigt, eine grosse Welle von IT-Fachkräften in die Schweiz und nach Westeuropa geben wird – insbesondere, weil ihre Familien oft schon hier und die Löhne höher sind.»
Deutschland und Grossbritannien sind top
Im Nearshoring-Index haben insbesondere Regionen in Deutschland und Grossbritannien die Nase vorn: «Zwar gibt es auch dort einen Fachkräftemangel, aber auf einem tieferen Niveau als in der Schweiz.» So sei die Hochschulquote deutlich höher: «Es gibt mehr hochschulausgebildete Informatiker und damit eine wahre Ansammlung von Fachkräften», sagt Zoller-Rydzek. «Gerade in Nordengland wird sehr viel in die Ausbildung von IT-Fachkräften investiert. Dies bereits schon in der Grundschule, um Schüler dazu zu bringen, später in den IT-Sektor zu gehen.» Die politischen Bemühungen seien dort wesentlich stärker, als er sie in der Schweiz wahrnehme.
Für Deutschland spreche natürlich die kulturelle Nähe: «Man muss nicht Englisch sprechen, sondern kann es direkt auf Deutsch machen. Zudem muss man nicht nach Deutschland fliegen, sondern man kann auch den Zug oder das Auto nehmen.» Auch Grossbritannien sei verkehrstechnisch gut an die Schweiz angebunden. Die Löhne befänden sich zwar in beiden Ländern auf westeuropäischem Niveau, seien aber immer noch deutlich tiefer als in der Schweiz.
BBV kombiniert Near- und Farshoring
Eine Firma, die seit einigen Jahren sowohl Near- als auch Farshoring betreibt, ist die BBV Software Services AG mit Hauptsitz in Luzern. Das Software- und Beratungsunternehmen hat – neben Niederlassungen in Zürich, Zug, Bern, München und Berlin – zwei eigene Shoring-Standorte in Ho-Chi-Minh-Stadt (Vietnam) und Thessaloniki (Griechenland): «Alles in allem beschäftigt BBV rund 300 Angestellte, davon sind 200 in der Schweiz und ca. 100 in Griechenland, Vietnam und Deutschland tätig», erklärt Richard Beständig, Business-Area-Manager für Shoring.
BBV unterstützt und berät Kunden bei der Realisierung ihrer Visionen und Strategien und stärkt sie in der digitalen Transformation von der Ideenfindung bis zum Markterfolg. «Dabei analysieren wir auch, wie und wo die beste Wertschöpfung erzielt werden kann», sagt Beständig. Das könne eine reine Wertschöpfung in der Schweiz sein, falls gewisse Abhängigkeiten etwa bezüglich des Datenschutzes bestehen, oder auch eine ganze oder teilweise Wertschöpfung im Ausland. Beispielsweise wenn es darum gehe, trotz Fachkräftemangel in der Schweiz schnell Kapazitäten aufzubauen.
Offshoring-Teams sind gleichberechtigt
«Die Entwicklerteams aller BBV-Standorte sind gleichberechtigt», so Beständig. «Schliesslich ist es unser klares Ziel, dass wir an allen Standorten die gleiche Qualität und dieselben agilen Prinzipien anbieten können.» Dies ermöglicht Entwicklungen einerseits eigenständig in der Schweiz, in Griechenland oder in Vietnam, andererseits aber auch durch gemischte Teams – ganz wie es dem Bedürfnis des Kunden und seiner Vorhaben am besten entspricht. «Diese Kombination von Onshoring in der Schweiz, Nearshoring in Griechenland und Farshoring in Vietnam nennen wir Best Shoring», erklärt er. «Dank der zentralen Mandatsleitung und unserem agilen Management läuft alles sauber zusammen, zudem kann der Kunde die gewünschten Kapazitäten genau zu dem Zeitpunkt abrufen, an dem er sie benötigt.» Beispielsweise lässt ein Kunde aus dem E-Commerce-Bereich seine Middleware am einen Standort anfertigen, den Shop hingegen am anderen.
“In Thessaloniki sowie in Ho-Chi-Minh-Stadt haben wir ein gutes universitäres Umfeld„
Richard Beständig, BBV
Bis 2013 hatte BBV Ableger in der Schweiz und Deutschland. Doch das Software-Unternehmen erkannte, dass es zusätzliche Gefässe benötigt, um beim damals schon antizipierten Fachkräftemangel über genügend Fachkräfte zu verfügen, die gewünschten Leistungen in der gewohnten Qualität erbringen zu können und der Globalisierung im Markt gerecht zu werden. In der Folge übernahm BBV eine Schweizer Software-Spezialistin mit Büro in Vietnam und entwickelte sie strategisch weiter. 2018 kam schliesslich die Niederlassung in Griechenland hinzu: «Es zeigte sich, dass manche unserer Kunden und ihre Vorhaben von einem kulturell oder geografisch näheren Standort profitieren», sagt Beständig. «Natürlich spielt dabei auch die Zeitverschiebung eine Rolle, wenn auch eher eine untergeordnete.» Zwar bestehe zu Griechenland ein Unterschied von nur einer Stunde, während es bei Vietnam fünf oder sechs Stunden sind (Sommer- respektive Winterzeit). Doch am Morgen (Schweiz) würden sich die regulären Arbeitszeiten überlappen. Zudem könne in Vietnam etwas vorbereitet werden, das dann am Morgen schon für die Schweiz bereitsteht.
Zusammenarbeit richtig aufgleisen
Angesprochen auf den Umgang mit Kulturunterschieden, sagt Beständig, gäbe es drei elementare Faktoren für die Zusammenarbeit: Es sollte eine einheitliche Sprache festgelegt werden, bei BBV ist es grundsätzlich Englisch, damit alle Beteiligten vom Gleichen sprechen und vom selben Punkt ausgehen.
Gemeinsam mit dem Kunden wird ein Kick-off typischerweise vor Ort organisiert, um die Menschen und Kultur kennenzulernen. «Das geht in diesem Jahr glücklicherweise wieder besser als in den letzten zwei Pandemiejahren», erklärt er.
Elementar ist ein enger Austausch zwischen den Kunden und den Projektmitarbeitenden an unseren Standorten in Vietnam und Griechenland. Dabei unterscheidet sich die grundsätzliche agile Herangehensweise nicht von Projekten, die lokal durchgeführt werden. So können typische Projektherausforderungen schnell erkannt und gelöst werden.
Organisches Wachstum angestrebt
BBV arbeitet kontinuierlich am Ausbau seines Shoring-Angebots. «In Thessaloniki haben wir im Frühling ein neues eigens entwickeltes Büro für Co-Kreation mit unseren Kunden gebaut, das die neusten Erkenntnisse der modernen Zusammenarbeit ideal unterstützt», erklärt Beständig. «Das macht uns nicht nur für Kunden attraktiver. Durch den modernen Standard sind wir für die bestehenden und zukünftigen Mitarbeitenden noch attraktiver geworden.»
Auch am Standort in Vietnam ist für das angestrebte Wachstum vorgesorgt. «Für beide Standorte ist aber – ganz nach BBV-Credo – klar eine organische Entwicklung angestrebt, wie wir es auch in der Schweiz immer gelebt haben», sagt er. «Zusätzliche Standorte sind aktuell nicht in Planung.» Die Fachkräftesituation vor Ort sei gut: «In Thessaloniki und Ho-Chi-Minh-Stadt haben wir ein gutes universitäres Umfeld und dementsprechend gibt es auch viele motivierte Experten, die bei uns die Visionen unserer anspruchsvollen Kunden umsetzen helfen.»