Wachstumsbranche ICT 04.10.2023, 07:00 Uhr

«Man hat uns den Dialog verweigert»

Judith Bellaiche, Geschäftsführerin des ICT-Verbands Swico und National­rätin (GLP), im Gespräch über den Stand der Branche, Tabu-Lösungsansätze für den Fachkräftemangel, transparente KI – und ihren Unmut gegenüber der Zürcher Bildungsdirektion.
Judith Bellaiche ist erfreut, dass die ­Digitalisierung durch die Pandemie und das Aufkommen von künstlicher ­Intelligenz angekurbelt wird.
(Quelle: Thomas Entzeroth)
Judith Bellaiche ist als Geschäftsführerin von Swico die Stimme der Schweizer ICT-Industrie. Ein Rückblick auf alle Themen, welche die Branche in den letzten Jahren besonders beschäftigt haben.
Computerworld: Frau Bellaiche, wie würden Sie die aktuelle Lage der ICT-Branche in aller Kürze beurteilen?
Judith Bellaiche: Unsere ICT-Industrie ist sehr gut aufgestellt und wir haben alle Gründe, optimistisch in die Zukunft zu schauen. Aber als ICT-Industrie sind wir eine internationale Branche, die von der Grosswetterlage und von unseren Kunden im Ausland abhängig ist. Die Prognosen sind deshalb ein wenig durchzogen. Es gibt Hinweise darauf, dass es möglicherweise zu einer Rezession kommen könnte.
CW: Die Warnglocken einer Rezession schallen von überall her. Sogar beim SECO. Die deutsche Wirtschaft befindet sich gerade so auf der Kippe. Und trotzdem sind Sie optimistisch.
Bellaiche: Wir sind eine Wachstumsbranche. Das können nicht alle Branchen von sich behaupten. Darum glaube ich, dass wir nach wie vor Wachstum verzeichnen werden, das ist für mich keine Frage. Die Digitalisierung ist nicht mehr zu bremsen und der Appetit danach ist in allen Branchen riesig. Nicht zuletzt ist die Digitalisierung noch lange nicht abgeschlossen. Die Situation ist vergleichbar mit jener der Elektrifizierung. Das wird noch Jahre und Jahrzehnte dauern – und so lange wird unsere Industrie eine Wachstumsindustrie sein. Aber wie hoch und schnell das Wachstum ausfallen wird, das ist die eigentliche Frage. Mit unseren Prognosen sind wir nun etwas vorsichtiger.
CW: In den meisten Sektoren fällt aktuell die Auftragsakquisition eher schwer.
Bellaiche: Ich glaube, dass das auf der Kundenseite mit einem wahnsinnigen Fachkräftemangel zu tun hat. All die Erneuerungsprozesse und Innovationsprojekte brauchen auch Fachleute.
CW: Das ist eine spannende Beobachtung. Es handelt sich um Probleme, die man zusammendenken muss.
Bellaiche: Ich sehe es in der Bundesverwaltung, aber auch in der Banken- und Finanzindustrie. Es wird um Leute gekämpft, die überhaupt Software- oder Digitalisierungsprojekte vorantreiben können. Das ist ein Flaschenhals.
CW: Rückblickend auf das letzte Jahr, was hat Sie am meisten gefreut?
Bellaiche: Es hat mich gefreut, dass die Frage der künstlichen Intelligenz mit allem, was dazugehört, im vergangenen Jahr endlich in der Öffentlichkeit angekommen ist. Wir haben uns bemüht, die Digitalisierung auf die Agenda der Öffentlichkeit zu setzen – mit allen Pros und Cons, mit allen Fragen, die damit einhergehen. Jetzt ist, für die meisten Leute zumindest, ChatGPT wie vom Himmel gefallen. Auch die Medien haben endlich darüber berichtet.
CW: Gibt es etwas, was Sie besonders überrascht hat im letzten Jahr? Oder war das auch KI?
Bellaiche: Wir reden schon seit Jahren über künstliche Intelligenz, den Strukturwandel und was wir im Bereich Digitalbildung machen müssen. Das waren lange Nischenthemen, aber jetzt sind Fragen wie zum Beispiel jene nach der Automatisierung von Jobs oder nach den Veränderungen im Bildungssystem in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Insofern ist das eine positive wie negative Überraschung. Ich hoffe jetzt, das kommt auch in den Köpfen der Politik und auch vor allem der Bildungsdirektionen endlich an.
CW: Das klingt, als ob Sie politisch unzufrieden mit dem Bildungssystem sind.
Bellaiche: Wir haben wiederholt das Gespräch mit der Bildungsdirektion im Kanton Zürich gesucht, um überhaupt Grundsatzfragen zur Digitalisierung zu klären. Aber das interessiert dort niemanden.
CW: Warum glauben Sie, dass das dort niemanden interessiert?
Bellaiche: Weil da die Welten auseinandergehen. Einerseits sind die Bildungsdirektionen wirtschaftsfern, andererseits stammen sie noch aus einer anderen Generation. Den Lehrpersonen kann man das aber nicht übelnehmen. An den pädagogischen Hochschulen ist die Digitalisierung noch nicht dominant. Auch Lehrpersonen müssen befähigt werden, die Digitalbildung in der Grundschule zu etablieren.
CW: Was war denn die Reaktion der Bildungsdirektion auf das Gesprächsangebot?
Bellaiche: Die Zürcher Bildungsdirektorin hat uns schlicht den Dialog verweigert. In einem Schreiben haben wir unsere Anliegen erklärt, gestützt auf eine breite Bevölkerungsbefragung. Ungefähr zwei Drittel der Eltern sind gemäss dieser Umfrage noch unzufrieden mit dem Bildungsniveau auf Ebene der Digitalisierung. Die Bildungsdirektion aber sagt, man tue bereits alles, was nötig sei. Für uns ist diese Gesprächsverweigerung eine Realitätsverweigerung. Dass ich an den relevanten Ansprechpartner gar nicht herankomme, ist sehr ernüchternd. Dabei ist gerade das unsere Aufgabe als Verband.
CW: Das heisst wohl, das Thema ist auf der Agenda der Bildungsdirektion weit unten.
Bellaiche: Ja, es geht sicher auch um Prioritätensetzung.
“Das Problem [des Fachkräftemangels] hat sich mittlerweile verschärft, weil wir es nicht angepackt haben.„
Judith Bellaiche, Geschäftsführerin Swico und Nationalrätin (GLP)
CW: Und warum sieht man das nicht prioritär?
Bellaiche: Das Bildungssystem kämpft vor allem im Kanton Zürich mit anderen Dingen, insbesondere mit dem Lehrkräftemangel. Aber stellen wir uns unsere Bedürfnisse vor wie die Bedürfnispyramide nach Maslow, verorten wir die digitale Bildung ganz anders. Für uns gehört die digitale Bildung auf die unterste Stufe als Grundbedürfnis. Auf den Lehrplänen wird sie hingegen ganz zuoberst platziert, als Sahnehäubchen. Die Bildungsdirektion hat meiner Meinung nach eine veraltete Sicht auf die Pyramide. Dass sich das nicht entwickelt, hat auch etwas mit Überforderung zu tun. Ist man überfordert, weicht man der Diskussion aus.
CW: Viele IT-Entscheider sehen gemäss unserer Top-500-Umfrage den Fachkräftemangel in den nächsten Jahren als riesiges Problem.
Bellaiche: Auch in Gesprächen mit Mitgliedern von Swico wird das Thema Fachkräftemangel als grösstes Problem immer wieder genannt. Das Problem hat sich mittlerweile verschärft, weil wir es nicht angepackt haben.
CW: Verfolgt man diese Diskussion, scheint es manchmal, als gäbe es keine Lösung.
Bellaiche: Die Lösung muss vierschichtig sein. Erstens bietet die Wirtschaft nicht genug IT-Lehrstellen an. Das betrifft nicht nur unsere eigene Branche, es ist ein Querschnittproblem. Wir brauchen mehr IT-Lehrstellen in allen Industrien, in den Banken, Versicherungen, Spitälern, im Retail. Die ICT-Industrie alleine kann nicht genügend Lehrstellen für die ganze Wirtschaft zur Verfügung stellen. Ein strukturiertes, einheitliches Quereinsteigerprogramm würde den Strukturwandel begünstigen. Zweitens haben wir Nachholbedarf bei unserem Bildungssystem. Drittens: Fachkräfte aus dem Ausland. Andere Arbeitsmärkte stehen vor den gleichen Herausforderungen wie wir. Eine Zeit lang war es möglich, Fachkräfte zum Beispiel in Osteuropa zu sourcen, aber auch diese Länder sind mittlerweile ausgetrocknet. Es handelt sich nicht mehr nur um einen Fachkräftemangel, sondern einen Arbeitskräftemangel. Die arbeitsfähige Bevölkerung in den EU- und EFTA-Staaten schrumpft und die Boomer-Generation verabschiedet sich vom Arbeitsmarkt. Die Option, auf Drittstaaten in Afrika oder auf Indien zurückzugreifen, ist in der Schweiz – gerade im Wahljahr – tabu, aber wir als Verband müssen out of the box denken. Eigentlich müssten wir mit diesen Arbeitsmärkten strategische Allianzen andenken. Langfristig könnte das ein Ausweg sein. Viertens: Wir müssen auch das inländische Arbeitspotenzial besser ausschöpfen. Darin sind wir noch nicht gut genug. Hierbei geht es beispielsweise um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Individualbesteuerung und flexible Arbeitszeiten. Das sind meiner Meinung nach die vier Fehler, an denen wir arbeiten müssen.
CW: Ein anderes Ergebnis aus unserer Umfrage: Sehr viele IT-Entscheider schätzen die Corona-Krise positiv ein und sehen die Veränderungen gar als längerfristig nachhaltig. Teilen Sie diesen Eindruck? Und: Wie fühlen Sie sich dabei?
Bellaiche: Gut. Ich bin total begeistert von der Digitalisierung. Die Digitalisierung hat sich durch die Pandemie noch einmal stärker verbreitet. Die angesprochene Nachhaltigkeit zeigt sich in den Innovationsprojekten innerhalb der Unternehmen und vor allem auch innerhalb der Bundesverwaltung. Die Corona-Pandemie hat einige Player entblösst, wenn nicht sogar blossgestellt. Sie hat gezeigt, wie wenig digitalisiert wir sind und wie gross der Nachholbedarf ist. Auch der Konsument wird ungeduldig, denn er ist mittlerweile voll digitalisiert und akzeptiert nicht mehr, dass das auf Anbieterseite noch nicht der Fall ist. Der Druck wächst.
“Auch Lehrpersonen müssen dazu befähigt werden, die Digitalbildung in der Grundschule zu etablieren.„
Judith Bellaiche
CW: Als ich gefragt habe, wie Sie sich dabei fühlen, meinte ich: Es ist ja nicht schön, dass es dafür so eine gewaltige Krise gebraucht hat.
Bellaiche: Alle grossen Innovationsschritte sind aus Krisen entstanden, auch bei uns. Es hat immer eine totale Drucksituation gebraucht, bis sich die Schweiz bewegte und Gas gab. Insofern finde ich das nicht schlimm. Innovationsschübe kommen aus einer … – Haben Sie Kinder?
CW: Nein, warum?
Bellaiche: Hat man Kinder, weiss man, die Wachstumsschübe kommen immer nach einer Krankheit. Sie haben irgendeine beliebige Krankheit und dann wachsen sie zwei Zentimeter. Wachstumsschübe kommen aus einer Krise heraus. Das ist auch historisch beobachtbar.
CW: Wenn wir schon bei Krisen sind – der Xplain-Hack. Nicht wenige Stimmen sagen, das sei eine Zäsur beim Thema IT-Security in der Schweiz. Wie sehen Sie das?
Bellaiche: Wir haben alle geahnt, dass es noch viel Handlungsbedarf bei der Sicherheit gibt. Was mich aber wirklich erschüttert, ist, dass es beim Fedpol passiert ist. Ausgerechnet das Fedpol, das über so viele personenbezogene und heikle Daten verfügt. Ich verstehe nicht, wieso sich das Fedpol dazu berufen glaubt, uns zu überwachen, gleichzeitig aber dazu bereit ist, Live-Daten aus der Hand zu geben. Es geht im Kern nicht um einen rein technischen Sicherheitsbruch. Es geht um ein völlig mangelndes Bewusstsein im Umgang mit Daten. Das ist etwas in den Köpfen, das ist eine Kulturfrage, eine Bewusstseinsfrage.
CW: Sie haben am Anfang des Gesprächs begeistert von KI gesprochen. KI wird eminent wichtig, das sehen auch die IT-Entscheider in unserer Top-500-Umfrage. Swico hat kürzlich Positionen zu KI gefasst. So haben Sie sich gegen Regulationen ausgesprochen. Zum Beispiel Forderungen nach Moratorien seien, so formulieren Sie es, «Angstmacherei». Sie hingegen wollen Vertrauen in die Algorithmen fördern. Aber verdankt sich die Angst nicht gerade der Tatsache, dass wir eben, Stichwort Black-Box-Problem, noch gar nicht so genau wissen, wie und warum KI funktioniert?
Bellaiche: Wir wollen den Algorithmen natürlich nicht einfach blind vertrauen. Swico hat deshalb einen Digital Ethics Circle geschaffen, in dem die schwierigen Fragen im Umgang mit KI diskutiert werden. Ich bin nicht grundsätzlich gegen Regulierung. Das ist schliesslich mein Job als Parlamentarierin, als Gesetzgeberin. Irgendwann wird es Regulierungen brauchen, aber Regulation muss gezielt und zielführend sein. Im Moment reden alle von Regulierungen, aber keiner kann mir genau sagen, welches Rechtsgut überhaupt geschützt und reguliert werden soll. Der Ruf nach Regulierung kommt aus einem Angstmoment heraus, weil uns ChatGPT unerwartet vor viele schwierige Fragen stellt. Wir müssen aber zurück zu einem intellektuellen Prozess, nicht zu einem emotionalen.
“Es geht im Kern nicht um einen rein technischen Sicherheitsbruch. Es geht um ein völlig mangelndes Bewusstsein im Umgang mit Daten.„
Judith Bellaiche
CW: Swico möchte Vertrauen schaffen durch Transparenz. Was meinen Sie damit genau?
Bellaiche: In erster Linie muss ein Konsument wissen, wann er es mit KI zu tun hat. Interagiere ich am Computer mit einem System, muss ich wissen, ob dahinter ein Mensch oder ein automatisierter Prozess steckt. Weiss ich, dass das kein Mensch ist, gehe ich ganz anders damit um, habe vielleicht ein anderes Sensorium. Und der Konsument soll auch verstehen: Wieso braucht es für diesen Prozess eine KI und keinen Menschen? Das kann auch Vorteile haben, so kann eine KI gerechter entscheiden, denn das diskriminierende Wesen ist immer noch der Mensch. Das sind Dinge, die offengelegt werden müssen.
CW: Wobei die Datensätze erwiesenermassen auch ihre diskriminierenden Biases haben und die Algorithmen von Menschen geschrieben werden.
Bellaiche: Richtig, und genau bei Datensätzen müssen wir ansetzen. Manche Anbieter von KI wissen gar nicht mehr, woher ihre Datensätze eigentlich stammen. Einige Tech-Unternehmen haben bereits Anwendungen, mit denen sie versuchen, die Traceability wiederherzustellen, um überhaupt verstehen zu können, auf welchen Datensätzen sie ihre KI basieren. Das könnte dereinst für Haftungsfragen relevant werden – wenn eine KI zum Beispiel Schäden anrichtet. Das Thema Traceability wird aus meiner Sicht eine zentrale Rolle spielen. Darum fordern wir Transparenz, denn dadurch schafft man Traceability. Und genau hier können wir anfangen. Indem sich Transparenz in der KI durchsetzt, werden viele Folgefragen freigelegt. Und erst dann wird klar, was überhaupt sinnigerweise reguliert werden kann und soll.
Zur Person
Judith Bellaiche ist Geschäftsführerin von Swico und sitzt seit vier Jahren im Nationalrat für die Grünliberale Partei. Dort engagiert sie sich für innovationsfreundliche Rahmenbedingungen und setzt digitale Themen auf die politische Agenda.




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