Gastbeitrag 15.10.2021, 07:55 Uhr

«Wir sind schon längst Cyborgs»

Die Digitalisierung dringt immer stärker in unseren Alltag vor. Der Berner Zukunftsforscher Joël Luc Cachelin erklärt im Interview, wohin die Reise geht und warum er keine Angst vor künstlicher Intelligenz hat.
Vom Roboter Pepper zeigt sich Joël Luc Cachelin wenig begeistert – dafür von digitalen Innovationen, die zu neuen Erkenntnissen führen
(Quelle: Carlos Meyer)
Manuel Bühlmann: Was heisst eigentlich digitale Transformation aus Ihrer Sicht?
Joël Luc Cachelin: Nun, da gibt es wohl so viele Definitionen wie Menschen, die dieses Magazin lesen. Für mich beschreibt sie eine Verlagerung des analogen Lebens in den digitalen Raum. Alles, was im analogen Raum existiert, bekommt einen digitalen Stellvertreter. Dabei geht es wesentlich um die Vernetzung von Menschen, Unternehmen, Maschinen und Daten.
Bühlmann: Die Digitalisierung ist in vollem Gange. Wird durch sie die Welt zu einem besseren Ort?
Cachelin: Langfristig bin ich überzeugt, dass sie uns als Spezies intelligenter macht. Kurzfristig müssen wir einige Zielkonflikte lösen – etwa zwischen Energieeffizienz und neuem Energieverbrauch, zwischen Vernetzung und Überwachung oder auch zwischen einem globalen und mehreren regionalen Internets.
Bühlmann: Einige Menschen fürchten sich vor dem vermeintlichen Fortschritt. Eine berechtigte Angst?
Cachelin: Ja, weil Wandel immer heisst, dass Gewohntes verschwindet. Die Zukunft wird anders sein als die Gegenwart und in diesen Veränderungen verändern wir uns selbst – manchmal mehr, manchmal weniger freiwillig. Doch Angst ist kein guter Treiber, um an der Zukunft zu arbeiten. Sie mindert unsere Fantasie und hetzt uns gegeneinander auf. Leider wird mit dieser Angst auch politisiert. Dazu kommt, dass viele Zukunftsträume viel Zeit benötigen, bis sie tatsächlich realisiert werden.
Bühlmann: Welchen Einfluss hat die Pandemie auf die Weiterentwicklung der Digitalisierung?
Cachelin: Sie verleiht vor allem der alltäglichen Digitalisierung Schub – QR-Codes, Webshops, das digitale CRM. Gleichzeitig ist zu befürchten, dass sich gesellschaftliche Trennlinien verstärken. Die sozialen Medien teilen uns in Wahrheitslager auf. In Kombination mit den Impfungen und den Zertifikaten entsteht eine polarisierte Nutzung neuer Technologien. Während die einen beides begrüssen und selbstverständlich annehmen, lehnen andere diese beiden Hilfsmittel des Pandemiemanagements kategorisch ab. Ich befürchte, diese Spaltungen werden über die Pandemie hinaus wirksam bleiben. Sie spiegelt auch das Verständnis für die Funktionsweise von Wissenschaft und die Haltung ihr gegenüber wider.
Bühlmann: Was können wir aus der Pandemie lernen?
Cachelin: Blicken wir in der Geschichte zurück, erkennen wir, dass jede Pandemie langfristig gesellschaftliche Innovationen hervorgebracht hat – obwohl diese anfangs von Teilen der Bevölkerung abgelehnt wurden. Frühere Innovationen führten beispielsweise zu saubererem Wasser in den Städten oder im Falle von Aids zu einem anderen Diskurs über unsere Sexualität. Dieses Mal könnten zahl­reiche neue Medikamente und Impfstoffe über die geförderte mRNA-Technologie entstehen, beispielsweise gegen Krebs oder Malaria. In der Arbeitswelt lernen wir gerade, in welchen Situationen wir digital kommunizieren können und für welche Formen der Wissensarbeit es auch in Zukunft den analogen Austausch braucht.
Bühlmann: Welche Innovationen beeindrucken Sie?
Cachelin: Mich beeindrucken digitale Innovationen, wenn sie zu neuen Erkenntnissen führen – etwa über unseren Körper oder unseren Planeten. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir in den nächsten Jahrzehnten durch Satellitenbilder sehr viel Wissen über uns, unsere Heimat und den Klimawandel gewinnen werden. Es gibt aber auch viele Pseudo-Innovationen. Sie sehen zwar schön aus oder klingen spannend, aber unsere Leben werden sie nicht verbessern. Ich denke da zum Beispiel an den Roboter Pepper. Es mag lustig sein, mal in einem Hotel von Pepper begrüsst zu werden oder sogar mit ihm Tennis zu spielen. Aber ich glaube kaum, dass jemand von uns davon träumt, mit Pepper in die Ferien zu fahren.
Bühlmann: Wo sehen Sie noch Potenzial?
Cachelin: Ich bin gespannt, welche Interfaces das Smartphone ablösen werden. Intelligente Kontaktlinsen oder Brillen sind durchaus interessant. Sie werden das Leben noch hybrider machen, den analogen und digitalen Raum weiter zusammenwachsen lassen. Möglicherweise wäre der intelligente Fingerring als Schnittstelle zwischen dem Analogen und Digitalen aber ökologisch sinnvoller. Ausserdem glaube ich, dass wir die grüne und die digitale Transformation gleichzeitig denken müssen. Spannend wird es zum Beispiel, wenn wir in der Logistik Leerfahrten verhindern können, weil wir immer genau wissen, welche Lastwagen leer herumfahren. Oder wenn Drohnen in der Landwirtschaft eingesetzt werden, um den Wasser- und Pestizidverbrauch zu reduzieren.
Zur Person
Joël Luc Cachelin ist Ökonom und Zukunftsforscher. Er hat an der Universität St. Gallen Betriebswirtschaftslehre studiert. 2009 gründete er seinen eigenen Think-Tank «Wissensfabrik», der sich mit den Herausforderungen der Digitalisierung befasst. Er hat mehrere Sachbücher zur digitalen Transformation veröffentlicht. Sein jüngstes Werk setzt sich mit der Zukunft der Innovation auseinander («Antikörper – Innovation neu denken», 2021, Stämpfli).

Bühlmann: Denken wir denn die Zukunft richtig? Sind wir auf einem guten Weg?
Cachelin: Ich glaube, dass wir uns etwas vom Denken in Megatrends lösen müssen und stattdessen versuchen sollten, öfter mit viralen – positiven wie negativen – Entwicklungen zu argumentieren. Das 21. Jahrhundert wird unsere Körper, Medien, Maschinen, Wirtschaftssysteme und Städte ganz sicher vor neue Herausforderungen stellen. Und weil wir in einer vernetzten Gesellschaft leben, beeinflussen sich unsere Probleme und Lösungen gegenseitig. Wir werden unsere Organisationen und Infrastrukturen robuster designen müssen. Die aktuelle Pandemie lehrt uns, die Zukunft nicht nur als Ergebnis von menschlichem Handeln zu denken. Auch Tiere, Pflanzen, Viren und Bakterien beeinflussen sie.
Bühlmann: Welche Rolle spielt dabei die künstliche Intelligenz?
Cachelin: Künstliche Intelligenz wird in sehr vielen künftigen Arbeitssituationen eine wichtige Rolle spielen – gerade dort, wo es um die Interpretation von Daten oder Bildern geht. Momentan gibt es noch keine Superintelligenz, die alles kann. Wir haben es vielmehr mit sehr spezialisierten Anwendungen zu tun. Ich gehe aber davon aus, dass viele von uns in chimärischen Teams arbeiten werden, welche die besten Fähigkeiten von Menschen und Maschinen in sich kombinieren.
Bühlmann: Wenn man diesen Gedanken weiterspinnt, führt er zum Cyborg. Sind Mischwesen aus biologischem Organismus und Maschine noch Fiktion oder  vielleicht schon bald Realität?
Cachelin: Ich denke, wir sind schon längst Cyborgs. Allerdings nicht mit einem Kabel im Hinterkopf, wie man sich das vielleicht vorstellt. Unsere Smartphones sind Portale in die virtuelle Welt, in die Zukunft und Vergangenheit. Sie verbinden alle Individuen mit dem Kollektiv, synchronisieren individuelles und kollektives Wissen.
Bühlmann: Werden wir heute schon von Algorithmen gesteuert, ohne es zu merken?
Cachelin: Gesteuert ist vielleicht ein grosses Wort. Das klingt nach einer Supermacht, die irgendwo in einem
Zimmer alle unsere Handlungen kontrolliert. An das glaube ich nicht. Aber selbstverständlich sind Algorithmen
daran beteiligt, wenn unsere Streams auf Instagram und Spotify zusammengestellt oder die Preise, Fahrpläne und Matches auf Dating-Portalen kalkuliert werden.
Bühlmann: Sind Sie grundsätzlich optimistisch, was unsere Zukunft angeht?
Cachelin: Jedenfalls habe ich keine Angst vor künstlicher Intelligenz. Es sind Menschen, welche diese programmieren und erziehen. Wenn schon, muss man vor Menschen oder den Machtstrukturen Angst haben, die sie besitzen und anwenden.
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Der Autor
Manuel Bühlmann
Swisscom
Manuel Bühlmann ist Communication Consultant bei Swisscom



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