Gastbeitrag
16.11.2018, 10:20 Uhr
Kennen Sie Ambidextrie?
Unternehmen konzentrieren sich noch immer stärker auf die Entwicklung des Kerngeschäfts als auf die Förderung neuer Geschäftsfelder. Dies ungeachtet der aktuellen Herausforderungen des digitalen Wandels. Das sind die Ergebnisse einer neuen Studie von Hays und Pac.
Der Autor: Frank Schabel ist Head of Marketing und Corporate Communications bei Hays. www.hays.ch
Die Kunst der Ambidextrie, «Beidhändigkeit», bietet alles, was es braucht, um zum echten Renner zu werden: Die Versäumnisse einst marktbeherrschender Firmenimperien als Fallbeispiele, kombiniert mit unterschwelligen Zukunftsängsten und dem allgegenwärtigen Bauchgefühl, doch irgendwo etwas Wichtiges übersehen zu haben – das alles wird mit einem Schlagwort zusammengefasst: Ambidextrie.
Worum geht es? «Organisationale Ambidextrie» beschreibt die Fähigkeit von Organisationen, Bestehendes zu nutzen und gleichzeitig Neues zu erkunden – also das Kerngeschäft auszubauen und trotzdem auch neue Produkte und Verfahren zu entwickeln. Dieser Spagat fordert Unternehmen seit Anbeginn der Industrialisierung heraus. Warum ist das Thema aber zurzeit so aktuell? Unsere neue Studie mit dem Titel «Zwischen Effizienz und Agilität – Unter Spannung: Fachbereiche in der Digitalisierung» zeigt auf, wie sich die Gleichzeitigkeit von Produktion in der Linienorganisation und den laufenden Projekten auswirkt. Ihre empirischen Befunde zeigen, dass die meisten Unternehmen noch in alten Organisationsstrukturen verharren, obwohl die neuen digitalen und innovativen Themen – das unterstreichen die Befragungsresultate – schon den Geschäftsalltag prägen. Nahezu alle Unternehmen haben dieses Thema heute auf der Tagesordnung. Knapp zwei Drittel der Führungskräfte sehen ihre Firma in diesem Feld sogar mittlerweile als «fortgeschritten» an, indem sie den Stand der Digitalisierung mit Werten zwischen 40 und 80 (auf einer Skala von 100) bewerten.
Digitaler Wandel unter der Lupe
Pac und Hays erarbeiteten bereits 2015 erstmals eine Bestandsaufnahme zum digitalen Wandel in ausgewählten Fachbereichen. Analog zu dieser Pionierstudie vor drei Jahren stützt sich der aktuelle Bericht auf eine telefonische Befragung von insgesamt 226 Führungskräften, allesamt mit Personalverantwortung. Etwa je ein Drittel der Unternehmen umfasst 500–2000, 2000–10 000 bzw. über 10 000 Mitarbeiter. Ebenso stammen etwa je ein Drittel der Ansprechpartner aus den Fachbereichen IT, Finance sowie Forschung und Entwicklung.
www.hays.de/studie-effizienz-und-agilitaet
www.hays.de/studie-effizienz-und-agilitaet
Fokus auf das Kerngeschäft
Die meisten Führungskräfte konzentrieren sich der Untersuchung zufolge allerdings noch immer auf die Automatisierung von Geschäftsprozessen und die Optimierung bestehender Abläufe. Die Sicherung des Kerngeschäfts wird offensichtlich höher gewichtet als die Beschäftigung mit neuen Themen. Das kommt auch in den Resultaten der Studie zum Ausdruck: Die Mehrzahl der Befragten sieht den mit Abstand grössten Bedarf bei der Verbesserung der Prozessautomatisierung. Performance respektive Effizienz wird (im Gesamtbild) dreimal so hoch bewertet wie Agilität. Führungskräften in Grossunternehmen ist es ungleich wichtiger, das Kerngeschäft weiterzuentwickeln (52 %), als neue Geschäftsfelder anzugehen (26 %). Statt die Selbstorganisation von Teams zu fördern (17 %), werden deshalb eher die bestehenden Abläufe optimiert (64 %). Die Effizienzsteigerung steht in Unternehmen deutlich höher im Kurs (62 %) als der Ausbau der Agilität (48 %).
Zwei Drittel der Unternehmen bevorzugen es, die neuen Themen aus der bestehenden Organisation heraus zu entwickeln – mit Mitarbeitern, die sowohl in der Linie als auch in innovativen Projekten aktiv sind. Nur etwa jedes fünfte Unternehmen – darunter überproportional viele Grossunternehmen – priorisiert eine Etablierung der zuletzt viel diskutierten Innovation Labs (auch Digital Labs). Die Idee dahinter klingt zunächst einleuchtend: Wenn die neuen Themen andere Regeln und Abläufe erfordern als das Kerngeschäft, dann lohnt es sich, diese separat anzugehen. Vordenker dieser Herangehensweise war, wie so oft, Steve Jobs. Er brachte das iPod-Entwicklungsteam in einer Scheune unter, «um es vor meiner eigenen Organisation zu schützen», wie er sagte. In jedem dritten Konzern mit mehr als 10 000 Mitarbeitern sind laut Umfrage solche unabhängigen Einheiten heute etabliert. Allerdings häuft sich inzwischen die Kritik an dieser Strategie. Wenn nämlich die Mitarbeiter in verschiedenen Teilen des Unternehmens nach unterschiedlichen Standards und Kulturen arbeiten, sorgt dies für Unfrieden innerhalb der Belegschaft. Zudem lassen sich die Ergebnisse dieser Corporate Labs oft nur schwer in das Kerngeschäft integrieren.
“Die Sicherung des Kerngeschäfts wird höher gewichtet als die Beschäftigung mit neuen Themen„
Frank Schabel
Stolpersteine der digitalen Transformation
Aus Sicht der Befragten behindern vor allem vier Punkte die digitale Transformation. Erstens fällt es Führungskräften schwer, ihren Führungsstil zu ändern (61 %). Zweitens nimmt das Kerngeschäft nach wie vor zu viel Zeit in Anspruch (60 %). Drittens sind die Fachbereiche noch immer durch Insel- und Konkurrenzdenken geprägt (59 %) und viertens ist die IT-Landschaft unzureichend integriert.
Insgesamt vermitteln die Resultate der Studie den Eindruck, dass die Bereitschaft zum Perspektivenwechsel, einschliesslich des kritischen Blicks auf die eigenen Komfortzonen, nur wenig ausgeprägt ist. Organisationen streben nach Stabilität und nicht nach Wandel. Nicht ohne Grund finden sich unter den digitalen Vorreitern kaum etablierte Unternehmen. Auch gibt es kein Drehbuch oder Muster für einen digitalen Wandel, der sowohl das Kerngeschäft sichert als auch die Entwicklung neuer Themen begünstigt. Überhaupt das Kerngeschäft: Es bindet nach wie vor zu viel Zeit und erweist sich daher in der Studie als der Faktor, der den digitalen Wandel am meisten behindert.
Kein Wunder, dass es dann kracht, wenn das operative Geschäft, welches das Kerngeschäft sichert, mit innovativen Projekten kollidiert, die für die Zukunft stehen. Was ist wichtiger, was hat Vorrang? Wer entscheidet über diese Fragen? Genau dies sind – nicht weiter überraschend – die grossen Spannungen, wenn Linien- und Projektaufgaben parallel laufen. Ansätze, die diese Spannungen auflösen, sind bis auf Weiteres jedoch nicht in Sicht.
Mut zu Experimenten und Innovation
Ein Lösungsweg, wie mit der heutigen spannungsreichen Arbeitswelt umzugehen wäre, lautet wohl: mehr Experimente wagen, mehr Spiel- und Freiraum für Mitarbeiter und Teams eröffnen. Dort, wo es sinnvoll ist, neue Ansätze ermöglichen und darüber reden, was sie bewirken. Dies sehen die Befragten ähnlich: Über 80 Prozent halten mehr Experimentierfreude für erforderlich – dabei sind aber auch über die Hälfte der Ansicht, dass sie in ihrem Unternehmen nicht gelebt werde. Experimente zuzulassen und für frischen Wind in der Organisation zu sorgen, das ist nach wie vor Aufgabe des Top-Managements.