Die Chancen der Digitalisierung 26.07.2018, 11:35 Uhr

Wilhelm Petersmann von Fujitsu: «Jetzt geht es an die Umsetzung»

Digitalisierungsprojekte stehen 2018 zuoberst auf der Agenda von IT-Verantwortlichen. Auch fallen immer mehr Routinearbeiten an – für Innovation bleibt wenig Zeit. Wie bewerten Anbieter die Entwicklung? Die Redaktion hat bei Wilhelm Petersmann nachgefragt, Managing Director Schweiz und Österreich bei Fujitsu.
Wilhelm Petersmann leitet die Geschäfte von Fujitsu in der Schweiz und Österreich
(Quelle: George Sarpong/NMGZ)
Computerworld: Die digitale Transformation begleitet uns seit mehreren Jahren. Wo stehen Schweizer Firmen heute?
Wilhelm Petersmann: Über digitale Transformation wurde in den letzten Jahren viel gesprochen, man hat sie aber noch nicht in allen Unternehmen konsequent in Angriff genommen. Es gibt daher deutliche Unterschiede in den verschiedenen Branchen. Ich sehe, dass im Bereich der Fertigung und Services weniger Transformationsprojekte in der Umsetzung sind. Banken und Versicherungen, die traditionell eigentlich eher konservativ agieren, nehmen hingegen eine Vorreiterrolle ein.
CW: Können Sie ein Beispiel nennen?
Petersmann: Der Versicherer Axa hat in Frankreich ein Projekt auf Basis der Blockchain gestartet. Kunden können digital eine Versicherung gegen Flugverspätungen abschliessen. Dahinter steht ein KI-System, das die Flugverbindungen von Air France analysiert und bei einer Verspätungsmeldung der Fluggesellschaft Einträge in eine Blockchain vornimmt. Der Kunde erhält im Fall der Fälle automatisch über die bei der Versicherung hinterlegten Kundendaten die Entschädigungssumme auf sein Konto überwiesen. Der gesamte Prozess kommt gänzlich ohne menschliches Interface aus. Das ist für mich ein Beispiel für ein innovatives Digitalprojekt, das über Unternehmensgrenzen hinausgeht. So etwas sehe ich in der Schweiz eher selten, obwohl Banken und Versicherungen hier sicher schneller sind als etwa die Industrie.
CW: Inwieweit haben sich bei Ihren Kunden die Fragestellungen verändert?
Petersmann: Noch vor wenigen Jahren war die digitale Transformation vor allem als ein neuer Begriff in aller Munde. Man fragte sich: Was ist das? Die Zeit der Aufklärung ist vorbei. Heute befinden wir uns in der Anwendungsphase. Es wird nach dem Wie und der konkreten Umsetzung gefragt, nach neuen Ansätzen und deren Wirtschaftlichkeit. Allerdings tun sich Firmen zum Teil noch schwer, wenn es darum geht, die richtigen Business Cases zu entwickeln.
CW: Inwiefern?
Petersmann: Nehmen wir den Bereich Industrie 4.0. Unternehmen erhoffen sich beispielsweise Vorteile durch Predictive Maintenance. Hierbei müssen oft enorm viele Daten in Echtzeit verarbeitet werden, um signifikante Prognosen zu erstellen und so den Produktions­ablauf zu verbessern. Die auftretenden Datenmengen bringen aber hohe Leitungskosten mit sich und erfordern neues Equipment. Das bremst beispielsweise die Umsetzung solcher Projekte.
CW: Wie unterstützen Sie Ihre Kunden?
Petersmann: Im Bereich des Internet of Things bieten wir Lösungen wie Edge Computing an. Bleiben wir für ein Beispiel mal beim Thema Industrie 4.0: Bei einer Flaschenabfüllanlage mit zehn Maschinen werden Signale verschiedener Parameter im Sekundentakt abgenommen. Auf diese Weise entsteht schon in einer Minute ein richtig grosses Datenvolumen. Da stösst man mit herkömmlichen Datenleitungen schnell an Grenzen. Am Ende kann es passieren, dass der Business Case, etwa Vorteile in der Wartung, an den Kosten für die Datenübertragung scheitern kann. Anstatt grosse Datenmengen über teure Leitungen zu übertragen, bieten wir Edge Computing als Lösung, unterstützt durch KI. Daten werden dezentral vor Ort verarbeitet und aus­gewertet. Letztlich werden nur jene Daten an die Zentrale übertragen, die tatsächlich relevant sind. So verkürzt sich die Transportzeit stark, Verfügbarkeit und Sicherheit nehmen enorm zu. Stellen Sie sich als Vergleich einfach eine Vor­lesung an der Uni vor, bei der Sie am Ende nur noch ein Skript mit den relevanten Informationen für die nächste Prüfung erhalten.
CW: Wie reif ist das Edge Computing?
Petersmann: Wir haben die Technik bei verschiedenen Kunden bereits im Einsatz, insbesondere in Deutschland. Dort laufen viele der­artige Projekte. In München betreiben wir ein Industrie-4.0-Center, wo Spezialisten Kunden beim Aufbau entsprechender Geschäftsprozesse beraten. Darüber hinaus bieten wir die entsprechende IT-Technik an. Man darf auch nicht vergessen, dass Fujitsu selbst produziert. Wir digitalisieren und automatisieren unsere eigenen Prozesse immer weiter. Auf diese Weise vergrös­sern wir unseren Erfahrungsschatz, der wiede­rum in unsere Beratung zum Vorteil unserer Kunden einfliesst. In unserer Fabrik in Augsburg haben wir viele Werksbesichtigungen. Unsere Kunden interessieren sich dafür, welche Konzepte von uns umgesetzt werden. Auf diese Weise liefert Fujitsu nicht nur die Lösungen für Industrie 4.0, Fujitsu verkörpert diese.

Transformationsprojekte in der Schweiz

CW: An welchen Transformationsprojekten arbeiten Sie in der Schweiz?
Petersmann: Ein gutes Beispiel ist unser Social Command Center. Das ist eine unterstützende Lösung für den Helpdesk, um Aktivitäten wie das Zurücksetzen eines Passworts zu automatisieren. Unser System Zinrai, das ist quasi die Kollegin von IBMs Watson oder Amazons Alexa, nutzt Deep Learning. Zinrai lernt beständig hinzu und verbessert im Laufe der Zeit ihren Service. Die Lösung kann natürlich noch viel mehr. Sie soll helfen, Ressourcen einzusparen oder aus­serhalb der üblichen Arbeitszeiten des Helpdesks rasch reagieren zu können. In der Schweiz arbeiten bereits zwei Kunden damit, bei einem dritten machen wir derzeit den Rollout.
CW: Woran arbeiten Sie noch im Bereich KI?
Petersmann: Über Video- und Bildanalysen verknüpft mit KI können wir auch Sicherheitslösungen wie Objektüberwachung anbieten. Unser System erkennt beispielsweise Ansammlungen von Menschen oder verlassene Gepäckstücke. Zusätzlich bieten wir Venen- und Irisscanner an. In der Schweiz sichert eine Bank auf diese Weise ihre Schliessfächer. Ein namhafter Schweizer Hersteller steuert den Zutritt zu einer Etage über den Lift mit unseren Venenscannern. Hierfür kooperieren wir stark mit unserem Partner BWO. Im europäischen Ausland ist Siemens Gamesa ein Kunde von uns. Der produziert Rotorblätter für Windkraftanlagen. Die Rotorblätter können bis zu 75 Meter lang sein und werden in der Qualitätssicherung von Menschen auf Abweichungen oder Schäden hin untersucht. Diesen Prozess haben wir mittels Bilderkennung und künstlicher Intelligenz abgebildet. Nur arbeitet die Kamera genauer und schneller. Der Hersteller konnte mit dem System die Wartungsdauer von rund drei Manntagen auf eine Stunde verkürzen bei einer wesentlich höheren Trefferquote, als dies der Mensch vermag.
CW: Laut der Swiss-IT-Studie 2018 ist einer der grössten Pain Points für CIOs, dass sie noch immer mit Routineaufgaben eingedeckt sind. Dadurch haben sie wenig Zeit für Innovation, was aber nötig wäre für die digitale Transformation. Wie erklären Sie sich das?
Petersmann: Ein Problem ist sicherlich noch immer ein Silo-Denken zwischen Fach- und IT-Abteilung, aber auch zwischen Gruppen innerhalb einer IT-Abteilung. Insbesondere in grösseren Betrieben sind die einzelnen Teams nicht immer optimal aufeinander abgestimmt. Ich beobachte auch, dass manche Unternehmen wenig Raum für neue Ideen bieten. Oder es mangelt an einer zuständigen Person oder Gruppe, die sich aktiv darum bemüht, die neuen digitalen Möglichkeiten effizient nutzbar zu machen. Oft fehlen Digitalisierungsspezialisten. Ein Stück weit schwingt auch Besitzstandswahrung mit. Übertrieben und bildlich gesprochen: Manche IT-Abteilungen sind eher noch darauf fokussiert, für Licht, Strom und Wasser im Haus zu sorgen – und haben nicht bemerkt, dass das Business längst ausgezogen ist.
CW: Was könnten denn Hersteller tun?
Petersmann: Wir können die grossartigste Technik anbieten – aber wichtig ist vor allem, dass der Kunde sie auch gezielt nutzt. Cloud- Lösungen werden häufig von IT- und Fachabteilungen eingekauft. Das passiert oft unkoor­diniert. Nur den wenigsten Firmen ist bewusst, dass sie dadurch in die nächste Silo-Falle tappen und Probleme mit der Cloud-Orchestrierung bekommen. Hier kann man viel über Automatisierungslösungen entschärfen. Diese sollten viel mehr zum Einsatz kommen als bisher, damit die Routinearbeit automatisiert werden kann. Wenn sich die IT-Abteilung also in diese Richtung bewegt, wird sie Routineaufgaben los.

Entwicklung der Cloud

CW: Wohin entwickelt sich die Cloud?
Petersmann: Cloud Computing ist kein Allheilmittel, substanzielle Probleme lassen sich nicht einfach outsourcen. Ich muss klar wissen, welche Lösungen ich mithilfe der Cloud flexibilisieren will, wo ich Skaleneffekte möchte und was das dann beispielsweise in Bezug auf Funktionalität, Compliance und Datensicherheit bedeutet. Wir beobachten, dass insbesondere kleine Unternehmen adäquate Partner im Fachhandel benötigen, die sie auf dem Weg in die Cloud begleiten. KMU brauchen Anbieter, die ihnen fle­xible Möglichkeiten bieten. Nun kann es beim Partner wiederum passieren, dass dieser feste Kosten hat, weil er sein Data Center ausbauen muss. Wir bieten unseren Channel-Partnern mit dem Enterprise Service Catalog Manager ein Tool, mit dem sie verschiedene Cloud-Angebote – von Amazon über Google bis hin zur Fujitsu K5 – orchestrieren und ihren Kunden anbieten können. Mit dem Konzept werden wir in den nächsten zwei bis drei Jahren eine stärkere Cloud-Durchdringung im KMU-Segment erleben.
CW: Laut der Swiss-IT-Studie sind Entscheider in den Fachabteilungen offener für ausländische Cloud-Angebote als ihre Kollegen in der IT. Was sagen Sie dazu?
Petersmann: Diesen Trend kann ich bestätigen. Ich möchte das aber nicht werten. Grundsätzlich ist es irrelevant, wo mein Data Center steht. Das kann in der Schweiz, in Polen oder UK sein. Die Leistungsmerkmale sind gleich, ebenso die Sicherheitsmerkmale. In Sachen Datenschutz sind wir alle gleichermassen gefordert und betroffen. Niemand darf sich zu sicher fühlen. Dieses Jahr wurde das Netzwerk des deutschen Bundestages gehackt. Letztes Jahr wurden der RUAG Daten entwendet.
CW: Erklärt das die steigende Nachfrage nach Managed-Security-Providern?
Petersmann: IT-Security ist einer unserer am stärksten wachsenden Bereiche. Das kommt ja nicht von ungefähr. Ein externer professioneller Anbieter setzt normalerweise bessere Security-Mechanismen ein als manche IT-Abteilung. Auch weil externe Dienstleister über genügend Personal verfügen, das sich damit auseinandersetzt. Wir wenden viele Ressourcen auf für No-Single-Point of Failure und High Availability. Das ist etwa für Kunden im Energiesektor wichtig, wo es neben Hochverfügbarkeit der IT auch auf die Sicherheit ankommt. Wir sind hier stärker aufgestellt, als es normale IT-Abteilungen üb­licherweise sein können.
CW: Mit welchen Zukunftsthemen beschäftigt sich Ihr Unternehmen momentan?
Petersmann: Ein Thema ist Quantencomputing. Am Mobile World Congress in Barcelona präsentierten wir unsere Digital-Annealer-Architektur (DAA). Diese ist zwar kein Quantencomputer, verwendet aber ein von Quantenphänomenen inspiriertes digitales Schaltungsdesign und ist dadurch extrem schnell.
CW: Wie muss man sich das vorstellen?
Petersmann: Nehmen wir das Beispiel kom­binatorischer Optimierungsprobleme wie «Das Problem des Handelsreisenden». Dabei wird die optimale Route für die Reisestrecke eines Vertreters über mehrere Orte gesucht – möglichst kurz, ohne mehrmals an der gleichen Stelle zu sein, Ausgangspunkt und Ziel müssen übereinstimmen. Klingt einfach. Wer aber seinen perfekten Reiseweg entlang der 15 grössten Städte Deutschlands sucht, muss sich folglich mit 43 589 145 600, also beinahe 45 Milliarden, Möglichkeiten auseinandersetzen. Damit ist das logistische Problem klar – mit mehr Stationen wächst es exponenziell. Fujitsu Laboratories hat den Fall mit 32 Stationen von einem System auf Intel-Xeon-E5-Basis (3,5-GHz-Taktfrequenz) und von einer DAA berechnen lassen. Das Intel-basierte System benötigte über zwei Stunden für die Lösung. DAA war nach 0,5 Sekunden fertig, also rund 16 000-mal schneller.
CW: Wie praxisnah ist diese Form eines «Quantencomputers»?
Petersmann: Ein praktisches Einsatzfeld von DAA ist tatsächlich das Optimieren von Wegen. Entsprechende Installationen können ermitteln, wie Waren, Werkstücke und Ersatzteile in Lagerhäusern und Fertigungsumgebungen so platziert werden, dass Mitarbeiter möglichst rasch Zugriff haben. Bei Tests in Werken von Fujitsu konnten die Transportwege dadurch um bis zu 45 Prozent gesenkt werden. Auch bei der Forschung in den Bereichen Chemie und Pharmazie leistet die DAA gute Dienste. Forscher suchen häufig nach Molekülen, die einander ähneln. Dadurch ist es beispielsweise möglich, neue Wirkstoffe für Medikamente zu entwickeln oder Behandlungen individuell auf einzelne Patienten zuzuschneiden. Mit der DAA geht das erheblich schneller als bisher. Eine Analyse von Kombinationen mit unterschiedlichen Aktien und Fonds erlaubt es wiederum, sich ein «ideales» Port­folio unter Berücksichtigung aller Risiken, Abhängigkeiten und Unterschiede rasch berechnen zu lassen. Auch die Verkehrs- und Stadtplanung sowie das Steuern bzw. Lenken von Waren- und Verkehrsströmen sind Einsatzfelder für die DAA.
CW: Wo sehen Sie das grösste Potenzial für Fujitsu am Schweizer Markt?
Petersmann: Das klassische Outsourcing-Geschäft nimmt ab, was in der Vergangenheit auch für uns ein Wachstumsmotor war. Es wird dennoch nach wie vor selektives Outsourcing geben. Das Zugpferd ist aber die Cloud. Es gibt heute nur wenige Anbieter, die tatsächlich Landschaften ohne Vendor-Lock-in anbieten. Hier fühlen wir uns sehr gut positioniert. Potenzial sehe ich auch in der Erschliessung von Hybrid Cloud Services sowie im Bereich Application Transformation. Es gibt noch immer viele Legacy-Appli­kationen in Schweizer Unternehmen, die man Cloud-ready machen oder ersetzen muss. Dies kann beispielsweise über Containerization geschehen. Hinzu kommt die Cyber-Security, wo wir eine steigende Nachfrage wahrnehmen.
CW: Wann wird die digitale Transformation abgeschlossen sein?
Petersmann: Niemals. Die digitale Transformation wird uns in den nächsten Jahren intensiv beschäftigen. Sie ist, wie damals die industrielle Revolution, eine rasante Entwicklung. Wir werden zukünftig immer neue Abläufe der Zusammenarbeit erleben, die durch Digitalisierung überhaupt erst ermöglicht werden.
Zur Person
Wilhelm Petersmann
leitet seit 2012 als Managing Director beim Technologieanbieter Fujitsu das Schweizer Business und seit 2016 zusätzlich das in Österreich. Vor seinem Wechsel zu Fujitsu arbeitete Petersmann beim Spezialisten für Datenanalytik SAS. Weitere Stationen seiner Karriere waren CSC, SAP und IBM. Der 59-Jährige spielt in seiner Freizeit gerne Golf und fährt Ski. Der Hobbykoch schätzt gute Weine zum Essen. Petersmann ist Vater zweier Söhne und lebt mit seiner Familie im Kanton Zürich.



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