Hierarchie versus Holokratie 22.02.2023, 06:15 Uhr

Oft ist eine Mischung die beste Lösung

Viele Fachleute und Studien gehen davon aus, dass Firmen mit flacheren Strukturen und mehr horizontalen Bewegungen leistungsfähiger sind als ihre hierarchischen Gegen­stücke. Bei der Mitarbeiterentwicklung stellen sich jedoch spezielle Herausforderungen.
Flache und hierarchische Organisationsstrukturen haben beide ihre Vor- und Nachteile; oft ergibt eine Mischung von beidem am meisten Sinn
(Quelle: Shutterstock/tomertu)
Die Verschlankung einer Organisation hat sowohl für Unternehmen als auch für Mitarbeitende zahlreiche Vorteile: eine bessere Kommunikation, ein schnellerer Informationsfluss, eine effizientere Entscheidungsfindung, Empowerment, mehr Innovation und sogar höhere Produktivität – natürlich aber auch einige Nachteile, wenn der Wandel nicht richtig oder halbherzig umgesetzt wird. Der weltweite Trend geht dahin, dass ­Organisationen von hierarchischen zu flacheren Struk­turen übergehen, auch wenn einige dies schrittweise tun oder nur bestimmte flache Eigenschaften übernehmen.
Warum also halten immer noch so viele Unternehmen an hierarchischen Strukturen fest, obwohl sich die Hinweise häufen, dass dies nicht mehr der richtige Weg ist? Könnte es sein, dass Mitarbeitende lieber in vertikalen ­Organisationen tätig sind, weil sie – zumindest gefühlt – von strukturierten Aufstiegsmöglichkeiten profitieren oder sich von der Klarheit hinsichtlich Rollen und Funktio­nen Sicherheit versprechen?

Hierarchien sind nicht per se schlecht

Die Verflachung einer Organisation kann so einfach sein wie die Öffnung von mehr Kommunikations- und Kooperationslinien zwischen verschiedenen Mitarbeitenden und Abteilungen. Oder die Möglichkeit für innovativere und schnellere Abteilungen, flachere Strukturen zu übernehmen, in denen Mitarbeitende rascher sinnvolle Entscheidungen treffen können. Wenn sich viele Unternehmen ­dafür entscheiden, die Merkmale von vertikalen und horizontalen Organisationen zu mischen, anstatt sich ganz auf eine der beiden Seiten festzulegen, muss es gute Gründe für Mitarbeitende und Unternehmen geben, ein gewisses Mass an Starrheit und Hierarchie zu bevorzugen.
Ein Indikator für flache Organisationen ist die zunehmende horizontale Mobilität der Mitarbeitenden. Ebenso wie der Wechsel zu horizontalen Organisationen ist auch der Wechsel von Mitarbeitenden zwischen Teams und ­Abteilungen ein neuer Trend. Die Arbeit in verschiedenen Teams und die Übernahme mehrerer Rollen kann es den Mitarbeitenden ermöglichen, vielfältigere Fähigkeiten zu entwickeln und sich stärker am Erfolg des Unternehmens zu beteiligen. Die Förderung von mehr horizontaler Be­wegung in einem Unternehmen kann den Mitarbeitenden helfen, Möglichkeiten zu finden, sich in der Zukunft weiter­zuentwickeln, und den Unternehmen gleichzeitig Geld für Schulungen und Einstellungen sparen.

Die Herausforderung flacherer Strukturen

Da immer mehr Firmen flachere Hierarchien einführen, wird von den Arbeitnehmenden zunehmend erwartet, dass sie sich seitwärts bewegen und in verschiedenen Funk­tionen arbeiten, anstatt die Unternehmensleiter bis in
die Führungsetagen zu erklimmen. Wenn Unternehmen ­Manager und Vorgesetzte abbauen oder abschaffen, besteht natürlich die Gefahr, dass sie den Arbeitnehmenden die Chance vorenthalten, sich innerhalb des Unternehmens weiterzuentwickeln. Horizontale Versetzungen helfen den Mitarbeitenden, neue Fähigkeiten zu erlernen, aber sie sind nicht unbedingt mit mehr Verantwortung oder einer höheren Vergütung verbunden – und schon gar nicht mit der traditionellen Karriere, wie wir alle sie kennen.
Vertikale Organisationen sind zwar offensichtlich schlechter in der Lage, die Mitarbeitenden am unteren Ende der Karriereleiter zu fördern, aber sie bieten einen klaren Aufstiegsweg für die Mitarbeitenden in Bezug auf Autonomie und Verantwortung. Aber reicht das aus? Man kann sich gut vorstellen, dass ein plötzlicher Wechsel zu einer flachen Struktur nach einer Karriere, die in einer starren Befehlskette verbracht wurde, zu einem Zögern führen kann, wenn man beispielsweise mit neuen Befugnissen konfrontiert wird, für die man vielleicht noch keine Kompetenz oder Erfahrung hat.

Drei Bewährte Lösungsansätze

Die beschriebenen Faktoren führen offensichtlich dazu, dass Mitarbeitende es sich zweimal überlegen, ob sie sich einer horizontalen Organisation anschliessen. Aber auch die Organisationen selbst ziehen es vor, weitgehend hierarchisch zu bleiben. Um trotzdem von den Vorteilen einer flacheren, horizontalen Struktur zu profitieren, müssen Unternehmen neue Wege gehen. Folgende Lösungs­ansätze haben sich bereits bewährt:
  1. Organisationen müssen keineswegs von einem Tag auf den anderen komplett zu einer Holokratie (oder Ähnlichem) übergehen oder darauf bestehen, dass alle Strukturen sofort und vollständig flacher werden. Sie können stattdessen die Fülle ihrer qualitativen und quantitativen Daten nutzen, um zu entscheiden, in welchen Bereichen sie zukünftig eher ein horizontales oder eher ein ­vertikales Vorgehen bevorzugen. In vielen Fällen ist sicher ein hybrides System am sinnvollsten. Betrachten wir unter diesem Aspekt das Problem der Mitarbeiterentwicklung und -laufbahn, stellen wir zwar fest, dass eine Abflachung der Hierarchie zu weniger klaren Karrierewegen führen kann, aber Organisationen durchaus trotzdem horizontal vorgehen können. Anstatt das Managersystem ­vertikaler Organisationen beizubehalten, können Unternehmen die Hierarchien abflachen, aber dennoch Stellen­bezeichnungen verwenden, die das Dienstalter der Mit­arbeitenden widerspiegeln. Ältere Mitarbeitende haben vielleicht niemanden, der ihnen direkt unterstellt ist, aber mit der richtigen Unternehmenskultur können diese erfahrenen Teammitglieder als Mentoren und Coaches für weniger erfahrene Kolleginnen und Kollegen fungieren.
  2. Eine andere Strategie besteht darin, ein hierarchisches System nur dann zu verwenden, wenn es um Personalangelegenheiten geht. Stellenbezeichnungen können zur Abgrenzung von Vergütung und Dienstalter verwendet werden, während sie im Tagesgeschäft völlig ignoriert werden, die Teams wirklich rollenbasiert arbeiten und die Interaktionen zwischen den Mitarbeitenden bestimmen, wer situativ zum Mentor und zur Führungskraft wird. Auf diese Weise gehen die Laufbahn und die funktionalen Gehaltsstufen der vertikalen Strukturen nicht völlig verloren.
  3. Eine weitere Möglichkeit, vielleicht die radikalste und wahrhaft holokratische, besteht darin, die ­Mitarbeitenden selbst zu ermächtigen, ihre Rollen und ­Zuständigkeiten abzugrenzen. Dies ist ein Teil dessen, was den kalifornischen Tomatenverarbeiter Morning Star zu einem enorm innovativen und erfolgreichen Unternehmen gemacht hat. Gary Hamel und Michele Zanini beschreiben in ihrem wunderbaren Buch «Humanocracy: Creating Organizations as Amazing as the People Inside Them» («Organisationen kreieren – so erstaunlich wie die Menschen in ihnen»), wie die Teammitglieder von Morning Star untereinander Verträge (CLOUs – Commitment Letters of Understanding, also Verpflichtungen an Kolleginnen und Kollegen, um Klarheit zu erzeugen) abschlies­sen, in denen sie ihre Rollen innerhalb des Unternehmens festlegen. CLOUs sind Verpflichtungen, die sie gegenseitig eingehen und auf denen auch ihre Vergütung basiert.

Fazit

Flache Hierarchien bieten die vielversprechendsten Möglichkeiten, Mitarbeitende weiterzubilden und zu befähigen. Aber es ist nicht nur schwierig, den Absprung von ­einer traditionellen Struktur zu vollziehen, sondern die Teammitglieder vermissen eventuell auch die Vorteile klar definierter Rollen und Aufstiegsmöglichkeiten. Vor allem dann, wenn es um die «Beschäftigungsfähigkeit» ausserhalb des eigenen Unternehmens geht. Letztendlich gibt es nicht das eine richtige System oder die eine richtige Lösung. Es liegt an jeder Organisation, die beste Mischung aus verschiedenen Strukturen für sich zu finden.
Der Autor
Timm Urschinger
ist Mitgründer und CEO von Livesciences, einem Beraterteam mit Sitz in Kaiseraugst, dessen Vision es ist, den Erfolg von Unternehmen und Organi­sa­tionen zu katalysieren. www.livesciences.com



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