Schweizer IT-Investitionen nach Branchen
19.05.2021, 06:14 Uhr
Informatik als Krisenhelfer
Die Schweizer Wirtschaft wurde von Lockdown und Pandemie-Auswirkungen schwer getroffen. In vielen Unternehmen erwies sich die IT jedoch als guter Krisenhelfer.
Interlaken Tourismus nutzt die Flaute in der Branche für digitale Weiterbildung
(Quelle: Interlaken Tourismus)
Geht es nach den Beobachtungen des Marktforschungsunternehmens IDC, dann haben die Corona-Krise und der Lockdown die Investitionen der Schweizer Wirtschaft in die IT kaum beeinflusst. Die Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen waren zwar eher zurückhaltend mit den Informatikausgaben, unter dem Strich steht aber ein winziges Plus von 0,3 Prozent. Weniger Geld für IT hatten 2020 insbesondere Transport- und Verkehrsbetriebe (-5,4 Prozent) und die Industrie (-1,3 Prozent), bei den Trägern von Bildungseinrichtungen und Schulen wuchsen die Investitionen dagegen um satte 5,5 Prozent. Solche Steigerungsraten wird es im Bildungssektor erst wieder 2024 geben, prognostiziert IDC. Dann sollen die IT-Budgets der Unternehmen aller Branchen in dieser Grössenordnung wachsen, doppeln die Marktforscher nach. Dann wird die Summe aller IT-Ausgaben in der Schweiz erstmals die Schwelle von 25 Milliarden Franken überschreiten. Zum Vergleich: Im vergangenen Jahr waren es knapp 21,4 Milliarden (vgl. nachfolgende Grafik).
Mehr als 1400 IT-Projekte wurden in den abgelaufenen zwölf Monaten dokumentiert. Laut der Zählung von Computerworld publizierten die Behörden besonders eifrig Berichte über neue IT-Lösungen. Oder mussten eingestehen, dass nicht jeder in IT investierte Franken auch einen Mehrwert für den Bürger bringt. Auf über 500 Projekte kommt die öffentliche Hand im vergangenen Jahr. Beachtliche 225 neue IT-Anwendungen waren im dem sonst so verschwiegenen Finanzdienstleistungsbereich zu registrieren, fast 130 bei den Unternehmen aus dem Dienstleistungssektor. Die IT-Branche selbst kommt auf 120 Projekte und der in diesem Jahr besonders starke Bildungssektor (siehe oben) noch auf nahezu 110 IT-Neuinstallationen. In früheren Erhebungen zählte Computerworld teilweise nur halb so viele Berichte über Investitionen der Schulen in Informatik. Auf hohem Niveau konstant sind die IT-Ausgaben der Industrie: In dem Sektor – laut IDC der grösste Investor in Informatik in der Schweiz – ist alljährlich von knapp 90 neuen IT-Anwendungen zu lesen (vgl. Grafik).
Industrie: näher an die Kunden
Die Grosskonzerne ABB, Bühler, Nestlé und V-Zug machen es vor: Sie trieben im vergangenen Jahr nicht nur ein, sondern gleich mehrere IT-Projekte voran (vgl. Computerworld-Artikel: «Smarte Ware aus Schweizer Fabriken»). Dabei ging es teils auch um die Krisenbewältigung, etwa bei der Augmented-Reality-unterstützten Fabrikplanung bei Nestlé. Der Maschinenbauer Müller Martini half sich im Lockdown mit einer Live-Produktpräsentation via Skype for Business. Einem Kunden in Taiwan wurden die neuen Buchbindesysteme vorgeführt. «Dabei war wichtig, dass die Live-Übertragung nie unterbrochen wurde, um beim Kunden nicht den Eindruck zu erwecken, wir würden etwas verheimlichen», so Lukas Budde, Produktmanager Hardcover/Softcover bei Müller Martini. Die verantwortliche Regional Sales Managerin Inga Wiens zog eine positive Bilanz der Online-Premiere. Und auch der Kunde zeigte sich begeistert. Parallel trieb das Unternehmen aus Zofingen die Zentralisierung der Infrastruktur an den weltweit mehr als 20 Standorten voran. Dafür wurden SAP Business One, SAP ECC als ERP-Basis und SAP Field Service Management eingeführt.
Die Industrie sucht im Lockdown neue Wege der Kundenansprache. Dutzende Projekte des vergangenen Jahres zielten auf die Optimierung der Kundenschnittstelle: Neue CRM-Systeme legten sich beispielsweise der Schokoladenfabrikant Chocolat Stella Bernrain (cobra CRM), der Labormessgeräte-Hersteller Metrohm (Microsoft Dynamics 365 Customer Engagement) und der Baustoffproduzent Saint-Gobain Weber (BSI) zu. Beim Basler Läckerli Huus steuert das tosca-ERP neu den Omnichannel-Vertrieb und der Bekleidungshersteller Mammut erreicht mit dem novomind iShop seine Zielgruppe auch online. Der Getränke-Hersteller Rivella lud seine Kunden an verschiedenen Talstationen in Schweizer Wintersportgebieten zu einem Augmented-Reality-Spiel ein: Virtuelle Rivella-Flaschen sollten so schnell wie möglich ausgetrunken werden, indem ein Strohhalm per Kopfbewegung in die sich bewegende Flasche gehalten wird. «Das Spiel funktioniert per Gestensteuerung und ohne zusätzliches Personal. Das verschafft uns zu Pandemiezeiten mehr Sicherheit und macht trotzdem ein spassiges Produkt-Sampling möglich», sagt Artur Lohrer, Gründer des Spielentwicklers Sensape.
Die Industriegrössen – die allesamt global aufgestellt sind – folgen dem Trend zum Auslagern der Informatikressourcen in die Cloud. Dabei müssen es nicht immer die Hyperscaler sein, wie Outsourcing-Verträge zwischen Amcor und Orange Business Services, Läderach und Upgreat oder Syngenta und BT beweisen. Die Traditionsmarke Bernina hat gleich zwei Cloud-Anwendungen in Betrieb genommen: die Somnitec Private Cloud für das ERP und ein neues Händlerportal auf den Servern von Netrics. Dort laufen neu auch die Geschäftsapplikationen von Daetwyler.
Mobile Banking und Ökosysteme
Der zweitwichtigste Geldgeber der Schweizer IT-Firmen ist der Finanzsektor. In der Branche fehlten zwar in den vergangenen zwölf Monaten die Grossprojekte, die gezählten über 220 neuen Informatiklösungen bei Banken und Versicherungen waren allerdings trotzdem kostenintensiv. Für die Kunden am ehesten sichtbar sind die neuen Implementierungen beim elektronischen Banking: Allen voran Credit Suisse mit «CSX», für das an der Zürcher Europaallee eigens eine Filiale neu eingerichtet wurde: ohne Bankomaten, ohne Bargeld, aber mit viel Platz für die Bankberater, die dem CSX-Kunden bei Bedarf zusätzliche Services bieten können. CSX basiert laut Credit Suisse auf der bestehenden Kernbankeninfrastruktur wie alle anderen Konten der Grossbank, womit sich die Investitionen in Grenzen gehalten haben dürften. Beim Erzrivalen UBS stellten die Software-Entwickler im Juni die digitale Hypothekenplattform «key4» fertig. Sie wurde in den Folgemonaten via Schnittstellen zu dem Immobilienportal Homegate, der Wohneigentümerplattform Houzy und dem Finanzierungsvermittler FinanzScout24 erweitert.
Vorbilder für die Banken sind die Versicherungen in der Schweiz. Die Unternehmen bauen schon seit Jahren an Ökosystemen, in denen Konsumenten versicherungsferne Leistungen angeboten werden. War in den Vorjahren immer AXA das aktivste Unternehmen in diesem Bereich, holte nun die Mobiliar auf. Im Juni kommunizierte das Unternehmen die Übernahme der Handwerkerplattform «Buildigo», im September folgte die Beteiligung an «Carvolution». Dem Schweizer Marktführer für Auto-Abos stellte die Mobiliar 50 Millionen Franken für die Erweiterung der Fahrzeugflotte zur Verfügung. Weiter soll im Sommer dieses Jahres die Wohneigentümerplattform «Liiva» an den Markt gehen, welche die Mobiliar derzeit mit Raiffeisen Schweiz entwickelt.
Tourismus nutzt Krise als Chance
Globale Reisebeschränkungen und lokale Kontaktverbote haben den Tourismus in der Schweiz auf das Niveau der 1950er-Jahre zurückgeworfen. Gemäss den Zahlen des Schweizer Tourismus-Verbandes verzeichnete die Hotellerie im vergangenen Jahr nur rund 23,7 Millionen Logiernächte – ein Minus von 40,0 Prozent. Angesichts dieses Rückschlags verfiel die Branche allerdings nicht in Schockstarre, sondern ergriff schon während des Lockdowns die (digitale) Initiative. Graubünden Ferien etwa erneuerte 2020 zusammen mit der Agentur Unic seine digitalen Kanäle. Ein Resultat waren mehr einheimische Gäste. Die Zahl von 3,6 Millionen Übernachtungen bedeutete sogar einen Allzeitrekord im Kanton Graubünden.
Erfolge wie diese spornten auch andere Tourismusdestinationen an, ihre digitalen Angebote auszubauen. So entstand in Pontresina zusammen mit der Graubündner Kantonalbank im ehemaligen Restaurant an der Diavolezza-Talstation die «Virtual Reality Glacier Experience», ein interaktiver Ausstellungsraum zum Thema Gletscherschmelze. Interlaken Tourismus bietet seit Herbst 2020 den Gastgebern in der Ferienregion Weiterbildungen zu digitalen Kenntnissen und zur Optimierung der virtuellen Auftritte an. Und im Radisson Blu Hotel Zurich Airport beliefert neu der Serviceroboter «Jeeves» die Gäste kontaktlos mit Getränken und Snacks. Schliesslich werden die Attraktionen in Laax auch nach der Pandemie noch viel Anklang finden, beispielsweise die automatisch aufgezeichneten Videos vom Halfpipe-Run, die via 5G-Mobilfunk von Sunrise innert kürzester Zeit auf den Handys der Snowboarder heruntergeladen sind und geteilt werden können.
IT: Millionen-Merger, -Verkauf und -Ausbau
Die IT-Branche ist relativ unbeschadet durch den Lockdown gekommen. Die Informations- und Kommunikationstechnologien waren vielenorts überlebensnotwendig, um den Geschäftsbetrieb aufrechtzuerhalten. Da die Schweizer Informatikunternehmen schon vor der Pandemie grossflächig mit Computern und Infrastruktur ausgerüstet waren, gab es keinen starken Anstieg bei den IT-Ausgaben.
Dennoch flossen in der Branche im vergangenen Jahr Millionenbeträge. Im August liess sich UPC-Besitzerin Liberty Global die Übernahme von Sunrise fast 7 Milliarden Franken kosten. Die japanische NEC zahlte im Oktober für den Banking-Spezialisten Avaloq über 2 Milliarden Franken. Und Sage Schweiz ging für 50 Millionen Franken an die österreichische Infoniqa Gruppe.
Dennoch flossen in der Branche im vergangenen Jahr Millionenbeträge. Im August liess sich UPC-Besitzerin Liberty Global die Übernahme von Sunrise fast 7 Milliarden Franken kosten. Die japanische NEC zahlte im Oktober für den Banking-Spezialisten Avaloq über 2 Milliarden Franken. Und Sage Schweiz ging für 50 Millionen Franken an die österreichische Infoniqa Gruppe.
Ebenfalls Millionen flossen in den Ausbau der Rechenzentrumsinfrastruktur in der Schweiz. Equinix nennt zwar keine Summe, spricht aber von «umfangreichen Investitionen» in die fünf Data Center. Die grösste Erweiterung war das Rechenzentrum ZH5 in Zürich, wo vier neue Komplexe hinzugefügt wurden. Auch die Standorte ZH2 und ZH4 wurden ausgebaut, wobei die Colocation-Flächen erheblich erweitert und die Büro- und Serviceräume renoviert wurden. Weiter habe es in den beiden Rechenzentren in Genf signifikante Erweiterungen gegeben.
Der Marktbegleiter Interxion eröffnete erst vor einem Jahr den 130-Millionen-Bau ZUR2 in Glattbrugg. Kaum waren die ersten Mieter eingezogen, lancierte der Anbieter seine Pläne für ZUR3. Im November begann der Bau der neuen Anlage, für die Investitionen in Höhe von mehr als 200 Millionen Franken kolportiert werden.
Die grösste Einzelinvestition indes tätigt Green: Der Konzern baut in Dielsdorf den «Metro-Campus Zürich», bestehend aus drei High-Density-Rechenzentren, einem Business Park und Grünzonen. Für das Grossprojekt veranschlagt Green rund 500 Millionen Franken. Als ein potenzieller Mieter lässt sich Amazon ausmachen. Die Firma aus Cupertino kündigte im November ihre Expansion in die Schweiz an. Die neue Region «AWS Europe (Zurich)» mit drei Schweizer Verfügbarkeitszonen soll 2022 eröffnet werden.
500 IT-Projekte in den Behörden
Die öffentlichen Verwaltungen der Schweiz berichteten auch im vergangenen Jahr am häufigsten über ihre Informatikvorhaben. Einerseits sind sie ab einer bestimmten Investitionssumme gezwungen, die Fakten zu veröffentlichen. Andererseits sind erfolgreiche Projekte auch ein schönes Signal an den Steuerzahler, dass seine Franken nutzenstiftend und für mehr Bürgernähe verwendet werden. Der Kanton Zürich gibt hier ein plakatives Beispiel: Für die Erneuerung der wichtigsten IT-Anwendungen des kantonalen Steueramts war 2004 ein Kredit von 138,9 Millionen Franken bewilligt worden. Später wurde das Kostenziel des Projekts «ZüriPrimo» auf 126,7 Millionen reduziert. Ende März teilte nun die Finanzdirektion mit, die Gesamtkosten beliefen sich letztendlich auf 110,7 Millionen Franken.
Von grossem Sparpotenzial ist auch beim Zusammenzug der kantonalen Abteilung Informatik im Aargau zu lesen: Die bisher vier Standorte sollen im Bildungszentrum Unterentfelden vereint werden. Die Renovierung des Zentrums wird rund 11 Millionen Franken kosten. Durch den Umzug an den kantonseigenen Standort rechnet der Kanton mit Mietkosteneinsparungen von jährlich 670'000 Franken. Auch würden den Mitarbeitern attraktive Büroräume an gut erschlossener Lage zur Verfügung stehen, argumentiert der Regierungsrat. Der Umzug ist für 2022 geplant.
Bis dahin sollen alle Einwohner der Schweiz einen Umzug selber online melden können. Der Online-Service «eUmzugCH» steht Stand heute in den meisten Kantonen zur Verfügung. Die Kantone Nidwalden und Obwalden meldeten im Mai vergangenen Jahres jedoch, sie seien wegen technischen Schwierigkeiten noch nicht bereit. Das Projekt solle jedoch noch 2020 abgeschlossen werden. Aus dem Baselbiet folgte im September die Meldung, dass neu Umzüge auch online gemeldet werden könnten. Von den 107 Gemeinden des Kantons Solothurn waren im November immerhin 100 parat, den elektronischen Wohnortswechsel zu unterstützen. Im Februar dieses Jahres vermeldete auch der Kanton Bern, das Projekt «eUmzugCH» stehe vor dem Abschluss. Über weitere IT-Grossprojekte der Schweizer Verwaltungen berichtet mein Kollege Luca Perler im Beitrag «Unterwegs zur digitalen Verwaltung».
Handel: online und kontaktlos
Der Schweizer Online-Handel eilte in den vergangenen zwölf Monaten von einem Rekord zum nächsten. Während des Lockdowns im Frühjahr 2020 hatten die Konsumenten den Komfort offenbar zu schätzen gelernt. So blieben Brack, Coop, Digitec, LeShop, Nespresso und Marktführer Zalando auch hinterher die ersten Anlaufstellen für den Einkauf. Wobei der Vorreiter im Online-Lebensmittelhandel, LeShop, im vergangenen September seine virtuellen Türen endgültig schloss: Die Webseite wurde vom Mutterkonzern als «Migros Online» neu lanciert und das Sortiment massiv erweitert. Bei der Transformation der Genossenschaft hilft neu Microsoft mit Ressourcen und Services aus der Azure-Cloud.
Sämtliche Online-Versender stockten angesichts des Kundenansturms in der Pandemie beim Personal auf. Brack hat sein Logistikpersonal fast verdoppelt, die Migros schuf im E-Commerce Hunderte neuer Jobs und auch Konzerntochter Digitec Galaxus rekrutierte für das neue Logistikzentrum in der Region Wohlen 600 zusätzliche Arbeitskräfte. Beim Möbelhaus Ikea werden die Angestellten im Lager Spreitenbach neu von Drohnen bei der Inventarprüfung unterstützt. «Das Zählen der Paletten hat uns jeden Tag mehrere Stunden gekostet. Die Drohnen erledigen dies an einem Sonntag, wenn wir unseren freien Tag geniessen. Somit können sich Drohnen und Mitarbeiter optimal abwechseln», sagt Helge Nilsson, Logistics Manager bei Ikea.
Andernorts werden Verkaufskonzepte ohne Mitarbeiter getestet. Begünstigt durch die Kontaktbeschränkungen folgen immer mehr Detailhändler den Vorbildern Amazon und Avec. In der Region Bern wurde im Sommer das Selbstbedienungs-Hofladenkonzept «Rüedu» realisiert und die Migros-Tochter Voi hat im Dezember in Grenchen einen Verkaufscontainer aufgestellt. Die Hintergründe der neuen Detailhandelskonzepte fasst mein Kollege Volker Richert im Beitrag «Die Nische blüht» zusammen.
Patientendossier: Chance vertan
Seit annähernd einem Jahr hätte jeder Einwohner der Schweiz ein elektronisches Patientendossier besitzen sollen – oder immerhin können. Denn obligatorisch ist das Dossier nicht – genau wie der elektronische Impfausweis und die SwissCovid-App. Während die Tracing-App allerdings gemäss Bundesamt für Statistik BFS aktuell auf 1,8 Millionen Natels aktiviert ist, zählen der Impfausweis (wegen eines Datenschutzproblems) und das Patientendossier (mangels Angebot) beide jeweils null Nutzer. Die Pandemie hätte das Schweizer Gesundheitswesen als Chance nutzen können, um die Digitalisierung voranzutreiben. Dass die Bürger bereit sind, Gesundheits-Apps auf ihrem Smartphone zu installieren und sogar die kostbare Akkuladung dafür zu opfern, beweist die SwissCovid. Aber SwissCovid hätte nur eine Zusatzfunktion einer einheitlichen Schweizer Gesundheits-App sein sollen, genau wie das digitale Impfbüchlein. Wie kläglich die Schweiz nun auch noch beim digitalen Impfpass versagt, steht im nächsten Jahr an dieser Stelle. Die Impfplattform OneDoc stürzte aufgrund der hohen Nachfrage im Kanton Zürich im Januar ab. Das System sei nicht ausgelegt für Hunderttausende gleichzeitiger Zugriffe, hiess es damals seitens der Entwickler. Sie hatten vom Bundesamt für Gesundheit einen (freihändigen) Zuschlag von 1 Million Franken erhalten – hauptsächlich, um die Skalierbarkeit von OneDoc sicherzustellen.
Einen Ausweg aus der Misere möchte die Allianz «Digitale Transformation im Gesundheitswesen» finden. Sie ist Ende März von fast zwei Dutzend Branchen- und Fachverbänden, der Industrie, den Leistungserbringern und Patientenorganisationen gegründet worden. Ihr Ziel ist es, die Prioritäten bei der digitalen Transformation festzulegen, Handlungsempfehlungen und Lösungsvorschläge zu erarbeiten und mit möglichst geeinten Positionen gegenüber der Politik aufzutreten. Auch hier wird Computerworld in einem Jahr berichten, welche Fortschritte erzielt wurden.
Alternative Mobilität
Der öffentliche Verkehr verzeichnete im Corona-Jahr einen nie da gewesenen Fahrgastschwund. Die SBB rapportierte teilweise 50 Prozent weniger Reisende als im Vorjahr, im Nahverkehr sogar über 60 Prozent. Die Bundesbahnen nutzen die ruhigeren Zeiten für grössere IT-Projekte. Das Zugbegleitpersonal wurde für über 50 Millionen Franken mit mobilen Endgeräten ausgestattet, der Outsourcing-Vertrag mit T-Systems für rund 180 Millionen Franken um zehn Jahre verlängert und ein Projekt für eine neue Instandhaltungslösung mit SAP umgesetzt. Die SBB-App wird neu von adesso Schweiz weiterentwickelt, DXC Technology unterstützt die SBB-IT bei der Implementierung von ServiceNow – zunächst für die Informatik, später auch für das Business. Parallel sorgte UMB für die Realisierung der Datendrehscheibe «Info Hub» für SBB, BLS sowie SOB, Paixon programmierte den «SBB Sprachassistent» und Leuchter ersetzte eine Access-Datenbank für Bauprojekte durch eine Web-Applikation.
Die Verkehrsbetriebe der grössten Stadt der Schweiz schickten sich im August vergangenen Jahres an, das Thema Mobilität mit einer eigenen Lösung zu adressieren. «ZüriMobil» sollte die verschiedenen Anbieter vereinen: ÖV, Bikesharing, Carsharing, E-Scooter wie auch Fuss- und Velowege. Kostenpunkt: 1,6 Millionen Franken. Anfang Jahr mussten die Zürcher Verkehrsbetriebe (VBZ) eingestehen, dass die Ziele im Lockdown wohl zu ambitioniert waren. Weder die Anbieter waren auf der Plattform wie gewünscht vertreten noch die Nutzer. Letzteren sagte der neu lancierte «digitale Rufbus» mehr zu. Gemeinsam mit Mobility war im November das Pilotprojekt «Pikmi» gestartet, das in den Randstunden und an Wochenenden den ÖV ergänzen soll. In den Zürcher Quartieren Albisrieden und Altstetten nutzten in den ersten vier Monaten fast 3000 Einwohner die App, um einen Rufbus zu buchen. Der Pilot läuft noch bis April 2022. Bis dahin sind die App-basierten E-Trottis von Lime in Zürich und die Voi-Scooter in Bern allenfalls schon wieder verschwunden – wie während des Lockdowns im vergangenen Jahr.
Für und wider der digitalen Bildung
Bereits im vergangenen Jahr berichtete Computerworld an gleicher Stelle von einem eher holprigen Übergang in die virtuellen Klassenzimmer. Das Beispiel Freiburg zeigte, wie schlecht die Schulen auf den Distanzunterricht vorbereitet sind. Der Kanton kaufte kurzerhand Cloud-Lizenzen bei Microsoft ein, um den Lehrern und Schülern das Home Schooling überhaupt nur zu ermöglichen. Die Stadt Bern zog nach, denn das Schulinformatikprojekt «base4kids2» erwies sich als zu ambitioniert. Zuletzt genehmigte der Gemeinderat einen Nachkredit in Höhe von 2,68 Millionen Franken unter anderem für Microsoft Office.
Bemerkenswert offen diskutierten unter anderem die Kantone Aargau, Schaffhausen und allen voran St. Gallen die Vorzüge und Nachteile des Fernunterrichts. Teils stellten sich die Regierungen gegen die Auflagen des Bundes, teils hinterfragten sie offen den Nutzen der digitalen Transformation für den Unterricht. Fakt ist allerdings nicht nur in den drei Kantonen: Schulen und die meisten Bildungseinrichtungen besitzen schlicht nicht die erforderliche personelle und technische Ausstattung, um Home Schooling als echte Variante zum Präsenzunterricht anzubieten. Anstatt der politischen Grundsatzdebatten sollten der Wille und besser noch konkrete Projekte zur Realisierung von Distanzklassen sichtbar werden – und sei es hemdsärmelig wie in Freiburg. Einen passenden Rahmenvertrag mit Microsoft hatte educa.ch im Juni 2020 erneuert, wenn auch zu schlechteren – sprich kostspieligeren – Bedingungen.
Die Bibliotheken der Schweiz suchten und fanden hinter den im Lockdown geschlossenen Türen neue Wege zu den Besuchern. So nahm die Bibliotheksplattform «swisscovery» Anfang Dezember ihren Betrieb auf. Sie gewährt bis zu einer Million Benutzern aus Forschung und Wissenschaft Zugriff auf mehr als 40 Millionen Bücher und Zeitschriften sowie mehr als drei Milliarden digitale Artikel. «Der Lockdown hatte sein Gutes», sagt Marianne Knechtl von der Stadtbibliothek Basel. «Aufgrund von Kundenrückmeldungen haben wir bereits im Jahr 2018 entschieden, einen Heimlieferservice von Büchern und Medien anzubieten.» Das Projekt kam Ende März 2020 zum Fliegen. Obwohl zuerst Velokuriere den Service ausführten und erst später die Post, fand das neue Angebot bei den Lesern unmittelbar grossen Anklang: Während des Lockdowns versandte die Bibliothek an Spitzentagen bis zu 1000 Bücher. Im Juni zog die Hauptpost-Bibliothek in St. Gallen mit einem Streamingdienst nach. Das «Nidwaldner Volksblatt» ist seit August online zugänglich, im November führte die Zentralbibliothek Solothurn ein neues Bibliothekssystem ein und die Pädagogische Hochschule Zug richtete im März diesen Jahres für Lehrpersonen des Kantons das «Zug Repository» ein.
Smarte Stromzähler allenthalben
Als Nummer drei unter den grössten Energieversorgern der Schweiz hat ewz im vergangenen Jahr sein Smart-Meter-Projekt initiiert. Seit Anfangs Mai werden in der Stadt Zürich und in Teilen Graubündens rund 270'000 herkömmliche Stromzähler durch Smart Meter ersetzt. Dafür hatte der Stadtrat im Mai 2020 Ausgaben von 194,2 Millionen Franken gesprochen. Die circa 180'000 Zähler der CKW werden seit August vergangenen Jahres ebenfalls nach und nach umgerüstet. Beide Energiekonzerne haben noch Zeit bis 2027. Nicht so die Gemeinde Muttenz: Für die alljährliche manuelle Wasserzählermeldung wurde kurzerhand eine Web-App realisiert, in die Hauseigentümer den Zählerstand selber eintragen können. Für die Gemeinde ein «wichtiger Schritt bei der Digitalisierung ihrer Geschäftsprozesse».
Die Stadtwerke Winterthur mussten im abgelaufenen Jahr erkennen, dass Hochtechnologie nicht immer die beste Lösung ist. In einem Pilottest hatte das Unternehmen geprüft, ob die Blockchain-Technologie künftig für Geschäftsprozesse eingesetzt werden kann. Eine Gemeinschaft aus sechs Haushalten hatte Solarstrom verteilt und verwaltet, der auf den Dächern der jeweiligen Wohngebäude produziert wurde. Dabei kam eine Blockchain-Anwendung zum Einsatz, die zwar bei der Vertragsverwaltung sehr nützlich gewesen sei, nicht aber bei der Speicherung der Lastgangdaten. Der Pilottest wurde im November ad acta gelegt. Die Stadtwerke wollen die Entwicklung der Blockchain-Technologie jedoch weiter «beobachten».
Aus dem Beobachtungsstadium heraus ist ewl energie wasser luzern beim Projekt, den Warteggstollen umnutzen zu können. Im Mai vergangenen Jahres gab die Geschäftsprüfungskommission der Stadt Luzern dem Energieversorger grünes Licht, in dem Stollen ein Rechenzentrum nach neusten ökologischen Standards zu erstellen und zu betreiben. Nach Fertigstellung käme die Anlage allenfalls auch für das zweite Rechenzentrum der Stadt Luzern infrage, so die Kommission.
Digitaler Landwirt und Bauherr
Die Digitalisierung der Landwirtschaft machte während des Lockdowns bemerkenswerte Fortschritte. Die wichtigsten Entwicklungen fasst mein Kollege Jens Stark im Artikel «Digitale Power beim Bauer» zusammen. Im Bauwesen, in dem mit Schutzkonzept und Sicherheitsabstand auch während des vergangenen Jahres vielenorts weitergearbeitet werden konnte, sind dann auch viel weniger Digitalisierungsprojekte zu registrieren. Die Techniker der Müller Steinag Element haben beispielsweise die Gunst der Stunde genutzt und lancierten im September einen Konfigurator für Betontreppen. Die Software wendet sich an Architekten und Planer, denen eine «enorme Arbeitserleichterung» versprochen wird. Das Informatik-LeistungsZentrum Obwalden programmierte kurzerhand eine interaktive Webseite zum Tunnel-Bohrprojekt im Sarneraatal. Anstatt einem Besuch vor Ort bekommen Anwohner und Interessierte die Details in einer virtuellen Stollenführung von Baudirektor Josef Hess persönlich erklärt (virtuelle Führung unter www.hochwasserschutz.ow.ch).
Letztendlich auch in der Lockdown-Phase hilfreich waren die IT-Neuerungen bei diversen Bau-Unternehmungen. So starteten die Planungen des Ingenieurbüros Scherler aus Luzern bereits 2019. Die virtuellen Desktops mit teilweise CAD-Anwendungen konnten dank Nutanix-Technologie aber auch im Home Office eingesetzt werden. Ähnlich gelagert waren die Projekte des Baukonzerns Lazzarini und Würth ITensis sowie der Leuchter-Tochter bee365 und Schmid Bauunternehmung. Die neuen IT-Lösungen erwiesen sich schon vor der Krise als hilfreich und spielten während des Lockdowns ihre volle Leistungsfähigkeit aus.