09.10.2012, 11:32 Uhr

Belastungsprobe für die ERP-Architekturen

Steigende Geschäftsanforderungen bezüglich der Flexibilität und neue Techniken rund um Cloud Computing, Mobility und In-Memory-Computing fordern die ERP-Systeme. Anwender müssen reagieren.
Belastungsprobe für die ERP-Architekturen.
Dieser Artikel wurde ursprünglich in unserer Schwesterpublikation Computerwoche.de veröffentlicht.  Unternehmenswachstum ankurbeln, neue Kunden gewinnen, Betriebskosten senken und die Entwicklung neuer Produkte und Services sicherstellen - das sind die wichtigsten Business-Prioritäten, um die sich CIOs in diesem Jahr kümmern wollen, haben die Analysten von Gartner ermittelt. Wie wichtig dabei eine solide Basis rund um das Enterprise-Resource-Planning-System (ERP-System) ist, zeigt ein Blick auf die technischen Prioritäten der IT-Verantwortlichen. Neben Business Analytics, Mobility und Cloud Computing taucht in der Top-Ten-Liste 2012 erstmals seit Jahren wieder das Thema ERP auf. Die Herausforderungen Experten sind sich einig, dass der Druck auf die Verantwortlichen wächst, sich in Sachen Business-Software besser aufzustellen. "Die Unternehmen stehen vor der Herausforderung, dass sie ihre ERP-Systeme in immer kürzeren Zyklen anpassen müssen", konstatiert Frank Niemann, Principal Consultant für den Bereich Software bei Pierre Audoin Consultants (PAC). Dabei gerate ERP von verschiedenen Seiten unter Druck. Der immer härtere Wettbewerb erfordere, die eigene Geschäftsstrategie kontinuierlich zu hinterfragen. Unternehmen müssten ihre Produkte und Preise laufend den Gegebenheiten des Markts anpassen. Darüber hinaus stellten immer mehr Nutzer immer höhere Anforderungen. "Sie wollen nicht mehr nur Transaktionen abwickeln, sondern mehr Entscheidungsunterstützung", sagt Niemann. Um diese Herausforderungen meistern zu können, brauchen die Unternehmen moderne ERP-Systeme. Doch davon sind die meisten weit entfernt. "In vielen Unternehmen werden noch ältere Versionen von ERP-Systemen eingesetzt, die in ihrer Architektur historisch bedingt eher monolithisch und somit den aktuellen Anforderungen nur eingeschränkt oder nicht gewachsen sind", ziehen Vertreter der Deutschen Baan Usergroup (DbuG) Bilanz.  Viele Anwendungen entstammten einer über Jahre hinweg gewachsenen ERP-Landschaft, bestätigt Uwe Günzel, Vice President im Bereich Application Services von Capgemini. Dabei liessen sich zwei Ausprägungen unterscheiden: zentral mit einem starren, monolithisch geprägten ERP-System, mit dem das gesamte Unternehmen arbeitet, oder     dezentral mit vielen lokalen oder funktio-nal spezialisierten ERP-Systemen. "Beide Ausprägungen sind nur bedingt dafür geeignet, sich mit neuen Techniken auseinanderzusetzen", lautet das Fazit des Capgemini-Experten. "Mit den herkömmlichen Architekturen stossen viele Unternehmen an die Grenzen." So sollte modernes ERP aussehen  Geschäftsprozesse wandeln sich immer schneller. Die Unternehmen müssen daher von ihren ERP-Systemen ein hohes Mass an Flexibilität und Reaktionsschnelligkeit einfordern. Norbert Gronau von der Universität Potsdam hat sieben Kriterien definiert, anhand derer sich die Wandlungsfähigkeit von ERP-Systemen bestimmen lässt:  ! KASTEN ! Lesen Sie auf der nächsten Seite: Funktion oder Architektur? Funktion oder Architektur? Die Notwendigkeit, ERP-Architekturen zu modernisieren, scheint jedoch noch nicht überall erkannt worden zu sein. Viele Anwender hätten sich in der Vergangenheit meist nur mit der funktionalen Erweiterung ihrer Systeme beschäftigt und die zugrunde liegende ERP-Architektur vernachlässigt, bilanziert Norbert Gronau vom Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und Electronic Government an der Universität Potsdam. "Die typische Anwendersicht ist fast nie architekturgeprägt." Für Unternehmen in einem dynamischen Marktumfeld könnte das ein Problem werden, mahnt der Professor. "Wer Flexibilitätsbedarf hat beziehungsweise haben wird, muss sich unbedingt mit Architekturfragen beschäftigen." "Eine moderne Software-Infrastruktur, die sich auf die im Unternehmen vorhandenen Prozesse abstimmen lässt und auch auf Änderungen flexibel reagiert, kann zu einem entscheidenden Wettbewerbsvorteil werden", bekräftigt Michael Gottwald, Geschäftsführer des Hamburger Beratungshauses Softselect. "Aber auch zu einem Hemmschuh im umgekehrten Fall." Es sei daher schlichtweg zu kurz gedacht, eine Software nur nach funktionalen Gesichtspunkten zu bewerten. Funktionen liessen sich in Release-Zyklen erweitern beziehungsweise nachrüsten, eine offene und flexible Basisarchitektur nicht. Auf Anwenderseite will man sich indes nicht vorwerfen lassen, das Architekturthema vernachlässigt zu haben. "Anwender beschäftigen sich mit dem Thema Architektur", stellen die Vertreter der DbuG klar. Schliesslich sei das ERP-System die zentrale Geschäftsanwendung und die Architektur als ein wesentliches Mittel zur Integration mit anderen Geschäftsanwendungen zu betrachten. Zwar gehe es im Rahmen von ERP-Modernisierungen auch immer um funktionale Erweiterungen, aber "dies ist ein Teilaspekt, jedoch nicht der primäre Fokus". Was letztlich eine moderne ERP-Architektur ausmacht, scheint in Anwenderkreisen zumindest teilweise auch Ansichtssache zu sein. In der Konzern-IT schaut man durchaus auf die ERP-Architekturen und analysiert die Softwarelandschaften hinsichtlich ihrer "Bewirtschaftbarkeit" sowie "Nachführbarkeit bei strukturellen Veränderungen", berichtet Karsten Sontow, Vorstand der Trovarit AG. "Der klassische Mittelständler fordert zwar lautstark ein flexibles und anpassbares ERP, sieht aber nicht, dass dies eigentlich Architekturthemen sind." Ausserdem gibt es unterschiedliche Kriterien für Flexibilität. Für so manchen IT-Leiter sei ein ERP-System bereits flexibel, wenn er die Feldlängen in Formularen variieren könne. "Ob das immer originär eine Frage der Architektur sein muss, sei dahingestellt", lässt der ERP-Kenner offen. ERP kommt in die Jahre Laut dem aktuellen ERP-Trendbarometer von Softselect hat rund die Hälfte der etwa 250 befragten Unternehmen ihr ERP-System vor dem Jahr 2000 angeschafft.      ! KASTEN ! Lesen Sie auf der nächsten Seite: Neue Technik fordert das ERP Neue Technik fordert das ERP Anlässe, das eigene ERP zu modernisieren, gibt es aus Sicht der Experten genug. "Derzeit kommen einige neue technische Möglichkeiten ins Spiel, die das Zeug haben, ERP-Systeme alter Prägung - ich will nicht sagen, in Frage zu stellen -, aber doch Anlass geben, diese zu überdenken", sagt Capgemini-Manager Günzel. Jenseits von kleineren Pilotprojekten liessen sich Techniken rund um In-Memory-Computing, Virtualisierung, die Cloud und Mobile Solutions erst dann umfassend nutzen, wenn die Architektur entsprechend angepasst sei. Doch zuvor müssten erst einmal grundlegende Hausaufgaben erledigt werden. Die Unternehmen fänden es zwar toll, wenn man mit SAPs HANA zwei Milliarden Datensätze innerhalb von Sekundenbruchteilen auswerten könne. "Doch solange keine Datenharmonisierung über die verschiedenen Unternehmensteile hinweg erfolgt ist, bringt die neue Technik erst einmal gar nichts." Günzel mahnt deshalb als ersten Schritt auf dem Weg zu einer neuen ERP-Architektur eine Harmonisierung von Prozessen und Daten an. Erst dann könne man sich überlegen, an welchen Stellen im Unternehmen Techniken wie HANA wirklich Sinn geben. Günzel geht davon aus, dass sich die an die IT-Abteilungen herangetragenen Anforderungen massiv erhöhen werden - speziell von Seiten des Business.  Die neuen Möglichkeiten für schnelle Auswertungen und die Nutzung schicker mobiler Devices weckten Begehrlichkeiten: "Der Druck aus der Anwenderschaft in die IT-Abteilung steigt enorm." Doch dort sieht man die neuen Techniken eher pragmatisch. "Aktuelle Trends erzeugen in der Anfangsphase immer einen Hype, der dann auch sehr schnell wieder verschwinden kann", relativieren die Verantwortlichen der DbuG. Innovationen seien immer darauf abzuklopfen, ob sie bei einer Integration auch einen Vorteil für das Business brächten. Auch in den Reihen der SAP-Anwender gibt man sich eher abwartend. Laut der jüngsten Umfrage der Deutschsprachigen SAP-Anwendergruppe (DSAG) investierten die Anwender zwar in Infrastrukturthemen wie die Integrationsplattform Netweaver, Virtualisierungslösungen und Mobilsysteme. Kaum Budgets gebe es dagegen für Bereiche wie In-Memory-Computing und Cloud. Lesen Sie auf der nächsten Seite: Gefahr der Komplexität steigt Gefahr der Komplexität steigt DSAG-Vorstand Marco Lenck warnt an dieser Stelle vor den Gefahren steigender Komplexität. Mit den neuen Techniken kämen Dinge hinzu, die über Schnittstellen angebunden werden müssten: "Gerade im mobilen Bereich nimmt die Komplexität mit Sicherheit massiv zu." In-Memory stelle zunächst einmal eine sehr neue Lösung dar, die mit gewissen Risiken behaftet sei. Den Unternehmen falle es noch schwer, die damit verbundenen Möglchkeiten richtig einzuschätzen. Dazu komme, dass die Technik in der Regel sehr teuer sei: "Die Hürden für den Business Case in diesem Bereich liegen sehr hoch." Dagegen könnten sich Investitionen in Cloud-Lösungen rechnen. Beispielsweise könne es interessant sein, Tochtergesellschaften mit Hilfe des Cloud-ERP-Systems "Business ByDesign" von SAP an eine zentrale ERP-Instanz anzubinden. Der Weg zu einer modernen ERP-Architektur ist indes alles andere als einfach. "Eine ERP-Landschaft stellt per se ein hohes Investitionsvolumen dar", rechnet Günzel vor. In Softwarelizenzen, Einführungsprojekte, Anpassungen und Umstellungen sowie Mitarbeiterschulungen seien zum Teil Millionen Euro geflossen. Kein Unternehmen könne angesichts des notwendigen Investitionsschutzes sagen: "Das schmeissen wir weg und machen alles neu." Es gehe letztlich nicht nur um die idealtypische ERP-Architektur, warnt der Capgemini-Mann. "Die viel schwierigere Frage ist: Wie komme ich mit planbaren und vor allem finanzierbaren Schritten dorthin?" Softselect-Chef Gottwald spricht von einem stufenweisen Prozess, an dessen Ende erst der vollständige Umstieg auf eine zukunftsgerichtete Lösung stehe. Ein Technologiewechsel sei oft mit grossem Aufwand und hohen Kosten verbunden. Nur wenige Unternehmen seien daher bereit, ihre Systeme aus technologischen Gründen abzulösen. Besser lasse sich eine Ablösung über eine fehlende oder mangelhafte Prozessabdeckung rechtfertigen. "Da aber Funktionen beziehungsweise Prozesse über viele Jahre mühevoll im System ergänzt wurden, halten mittelständische Unternehmen häufig an ihren alten Lösungen fest", beobachtet der Berater, "bis die Schmerzgrenze erreicht ist." Lesen Sie auf der nächsten Seite: Satellitensysteme ablösen Satellitensysteme ablösen Wie aufwendig es ist, eine moderne ERP-Architektur aufzubauen, hängt von der Ausgangssituation ab, sagt PAC-Analyst Niemann: "Es ist nicht immer erforderlich, das System im Rahmen eines Grossprojekts zu erneuern." Beispielsweise lasse sich eine Finanzbuchhaltung, die keinem besonders starken Veränderungsdruck unterworfen ist, durchaus auf einem Altsystem weiterbetreiben, während man sich bei der Modernisierung zunächst auf andere Bereiche wie die Produktion oder das Kunden-Management konzentriere. Wesentliche Vorteile ergäben sich für die Unternehmen aber erst, wenn die verschiedenen Funktionsbereiche gut miteinander verbunden seien. Betreibe ein Unternehmen schlecht integrierte Satellitensysteme, stelle sich die Frage, einen Schnitt zu machen und auf eine integrierte Lösung zu wechseln. Dabei lasse sich nicht alles aus der alten in die neue ERP-Welt hinüberretten. Niemann verweist auf die Chancen, im Rahmen eines solchen Wechsels auch die eigenen Abläufe zu überprüfen und an der einen oder anderen Stelle die Prozesse zu modifizieren und effizienter zu machen. ERP-Fragen in EAM einbinden Grundsätzlich müssten die Unternehmen auch überlegen, Architekturfragen weiter zu fassen. Die Problematik rund um Komplexität, Schnittstellen und Integration betreffe letztlich nicht nur das ERP-System, sagt Jörg Blom, Senior Manager bei Deloitte. Für immer mehr Anwender werde ein Enterprise-Architecture-Management (EAM) interessant. Dafür gebe es mittlerweile eine Reihe von Frameworks und Methoden am Markt. "Es geht darum, die eigene IT-Landschaft zu dokumentieren und ihre Weiterentwicklung mit einer Methode zu begleiten." Dazu gehörten Architektur-Guidelines und -Prinzipien, aber auch ein Governance-Prozess, wie Architekturentscheidungen im Unternehmen getroffen werden. "Das Ziel ist es, durch diesen Ansatz die Komplexität der Architekturen in den Griff zu bekommen."



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