Gastbeitrag
15.09.2023, 08:35 Uhr
Potenzial – vor Talent und Motivation
Schweizer Unternehmen beklagen einen Mangel an ICT-Fachleuten. Dennoch ignorieren viele innovative Ansätze wie das Booster-Programm der swissICT, obschon damit vielversprechende Fachkräfte gewonnen werden können.
Arbeitssuchende Software-Entwickler jenseits der 50 sind ein vernachlässigtes Reservoir für Fachkräfte.
(Quelle: midjourney.com)
Das Thema des Fachkräftemangels in der Informatik ist allgegenwärtig. In der Schweiz arbeiten rund 250 000 ICT-Fachkräfte – und gemäss Prognosen sollen bis im Jahr 2030 etwa 39 000 ICT-Fachkräfte fehlen, heisst es in einem Bericht von ICT-Berufsbildung Schweiz 2022. Die Reaktionen von Firmen auf diesen prognostizierten Mangel zeichnen jedoch teilweise ein anderes Bild. Das sogenannte «Booster-Programm» des Informatikverbandes swissICT hat zum Ziel, stellenlose Software-Entwickler über 50 wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Im Programm werden sie mit Informatiktests und individuellen Aufgaben durch erfahrene Software-Ingenieure geprüft. Daraus entstehende Kurzprofile von Entwicklern mit nachweislich guten Fach- und Methodenkenntnissen werden danach potenziellen Arbeitgebern über verschiedene Kanäle im Rahmen einer kostenlosen Vermittlung angeboten – beispielsweise Tausenden Empfängern des swissICT-Newsletters. Die Rückmeldungen auf dieses Angebot fielen bisher aber äussert bescheiden aus. Nur wenige Firmen hatten Interesse, mehr über die stellensuchenden Personen zu erfahren. Der Eindruck: Der Leidensdruck vieler Firmen aufgrund des ICT-Fachkräftemangels entspricht nicht ganz den obigen Zahlen.
Viele Firmen scheinen künftige Mitarbeitende nach einem engen Raster von Anforderungen auszuwählen. Bewerbende sollen genau definierte Fachkenntnisse, Berufserfahrung, Ausbildungen und Zertifikate mitbringen, einem bestimmten Altersrange entsprechen und nicht zu viele, aber auch nicht zu wenige Stellenwechsel im CV haben. Stattdessen wäre die Suche nach Mitarbeitenden mit einem guten Potenzial, die längerfristig bei einem Arbeitgeber bleiben, sinnvoller. Zudem sollten Arbeitgebende auch regelmässig prüfen, wie sie eigene Mitarbeitende kontinuierlich weiterentwickeln können, um deren Wissen auf einem aktuellen Stand zu halten und diese möglichst lange als wertvolle Stützen ihres Unternehmens halten zu können.
Das Zauberwort: Potenzial. Das Potenzial eines Arbeitnehmers kann als Kombination von Talent, Motivation und Fachwissen betrachtet werden. Talent oder Begabung kann man nicht erwerben, nicht durch praktische Übungen verbessern oder anderweitig beeinflussen. Talent ist einfach da. Motivation ist hingegen stark beeinflussbar. Wer kennt sie nicht: Leute, die eigentlich nur eine durchschnittliche Begabung für ihre Tätigkeit mitbringen, dank grossem Einsatz und Freude an einem Thema jedoch Überdurchschnittliches geleistet und erreicht haben. Mit Freude und Motivation kann eine Person unter Umständen wesentlich mehr erreichen als manche unmotivierte Person mit einer herausragenden Begabung.
Booster-Programm für ältere Entwickler
Im Rahmen des Booster-Assessments prüft swissICT gemeinsam mit der Partnerfirma M&F Engineering das Potenzial stellensuchender Software-Entwickler. Ein Online-Programmiertest mit einer Programmiersprache eigener Wahl liefert Informationen über Programmierkenntnisse, wobei zusätzlich zur erreichten Punktzahl auch der Code – ist er sauber, verständlich und nachvollziehbar? –, die Variablennamen und Verschachtelungstiefe geprüft werden. Im Rahmen des «SI-Professional Kompetenzchecks» der beiden Informatikverbände SI und swissICT werden die Berufserfahrung und Ausbildung mit Punkten bewertet, wobei der Wert über die Jahre abnimmt – eine Art «Halbwertszeit» von Ausbildung und Erfahrung wird in die Bewertung eingebaut. Mit diesem standardisierten Verfahren kann beurteilt werden, wie gefragt eine Person auf dem Arbeitsmarkt ist. Zudem wird anhand eines Multiple-Choice-Tests das Wissen zu sechs Fachgebieten der Informatik geprüft und schliesslich mit einem weiteren Multiple-Choice-Test zu kognitiven Fähigkeiten das Lernpotenzial einer Person beurteilt. In einem ersten Interview werden berufliche Interessen, die Bereitschaft, Neues zu lernen sowie Kommunikation und Auftreten abgeklärt; in einem zweiten Interview mit je einer Modellierungs- und einer Programmieraufgabe schliesslich Methoden-, Design- und Architekturkenntnisse geprüft.
Anstellung nach dem «Try & Hire»-Prinzip
Vor drei Jahren entwickelten der Informatikverband swissICT und das Software-Unternehmen M&F Engineering gemeinsam mit dem Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Zürich und in Absprache mit dem Staatssekretariat für Wirtschaft SECO das Booster-Programm, um ältere stellenlose ICT-Fachkräfte in den Arbeitsmarkt zurückzuführen. Dabei wurde entschieden, sich in der Startphase auf Fachpersonen der Software-Entwicklung zu konzentrieren. Mit dem ausführlichen Assessment werden im ersten Schritt Fachwissen und Weiterbildungsbedarf einer Person beurteilt. Anschliessend werden geeignete Einsatzmöglichkeiten bei interessierten Arbeitgebern gesucht. Um allfällige Bedenken auszuräumen, können die Fachkräfte zuerst befristet eingestellt und geprüft werden – das «Try & Hire»-Prinzip. Ziel ist eine Festanstellung. Die Einarbeitung wird dabei durch einen Mentor begleitet und unterstützt. Die Beurteilung durch erfahrene Software-Engineers und Tests erlaubt eine realistische Einschätzung der Einsatzmöglichkeiten respektive des Potenzials und Weiterbildungsbedarfs einer Person. Kurz: Alle Kandidaten und Kandidatinnen werden gründlich auf Herz und Nieren geprüft.
Beim aktuellen Fachkräftemangel wird es zunehmend schwieriger, neue Mitarbeitende mit sehr spezifischen Fachkenntnissen und Erfahrungen zu finden. Umso wichtiger wird deshalb eine Beurteilung, wie schnell sich eine Person in ein neues Fachgebiet einarbeiten kann und welche zusätzlichen Aus- und Weiterbildungen dazu benötigt werden, nach dem Motto «Hire for potential instead of skills».
Der Software-Dienstleister M&F Engineering kann auf eine zehnjährige Erfahrung mit jungen Fachkräften und fachfremden Personen zurückgreifen. Im firmenübergreifenden Software-Trainee-Programm wurden bereits über 150 Arbeitseinsätze organisiert und knapp 30 Software-Engineers erfolgreich vermittelt. Dabei ist die Entwicklung der Fachkräfte essenziell. Dieses wird häufig erst nach einer gewissen Zeit ersichtlich. Beispielsweise gibt es viele Hochschulabsolventen der Physik, Mathematik oder aus dem Maschinenbau, die während des Studiums wenig Fachwissen im Software-Engineering mitgenommen haben, aber dennoch in die Software-Entwicklung einsteigen möchten und ein enormes Potenzial mitbringen.
Investiert ein Unternehmen in solche Fachkräfte und unterstützt sie bei der Einarbeitung, können sich daraus wahre «Perlen» für den Arbeitsmarkt entwickeln. Genau da knüpft das Konzept des «Booster-Programms» an. Dank des vorgängigen Probeeinsatzes geben die Unternehmen gerade auch jenen Fachkräften eine Chance, bei denen das Potenzial nicht von Anfang an ersichtlich ist. Zusätzlich zur Software-Entwicklung plant swissICT, das Programm auf die Beurteilung von ICT-Fachkräften im System-Umfeld (System-Engineers, System-Spezialisten, Supporter) sowie auf ICT-Projektleitung auszudehnen. Dazu prüft der Verband geeignete Fachtests und führt Gespräche mit weiteren möglichen Partnerorganisationen.
Zudem erhält swissICT regelmässig Anfragen von unterschiedlichsten Personen, die als Quereinsteiger beruflich in die Informatik wechseln möchten, jedoch Mühe haben, interessierte Arbeitgeber zu finden. Daher kooperiert er mit dem Partnerverband digitalswitzerland, um ein Programm für Quereinsteiger:innen aufzubauen.
Ältere stellenlose Informatiker in den Arbeitsmarkt zurückführen, langjährige ICT-Mitarbeitende kontinuierlich weiterentwickeln, Einstiegsmöglichkeiten für ICT-Quereinsteiger schaffen – das sind Mittel und Wege, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.
Der Autor
Paul Brodmann ist zuständig für das Booster-Assessment beim Informatikverband swissICT und leitet die Arbeitsgruppe Saläre, welche die Grundlagen für die jährliche ICT-Gehaltserhebung erarbeitet. www.swissict.ch