Datenanalyse 22.07.2020, 10:55 Uhr

Datenbasiertes Krafttraining gegen Muskelschwund

Forschende der ETH Zürich und der ZHAW erarbeiten eine einfache Methode, um das Krafttraining an Geräten exakt zu beschreiben und fehlende Vergleichsgrössen zu erfassen. Das könnte künftig helfen, Trainingsstrategien auch gegen Muskelschwund zu entwickeln.
Zu Recht als Medizin bezeichnet: Krafttraining ist die wichtigste Massnahme gegen Muskelschwund im Alter.
(Quelle: Walter Röllin/Pixabay)
Muskeln sind fürs Leben unabdingbar. Allein die Skelettmuskulatur macht bis zu vierzig Prozent unseres Körpergewichts aus. Sie wandelt chemische in mechanische Energie um und erzeugt die Kraft, mit der wir atmen und uns bewegen. Muskeln dienen zudem als Reservoir für Kohlenhydrate, Proteine und Fettsäuren und tragen wesentlich zum Stoffwechsel und Energiehaushalt bei.
Die Muskelmasse nimmt allerdings etwa ab dem vierzigsten Lebensjahr kontinuierlich ab. Dieser altersassoziierte Muskelschwund, in der Fachsprache Sarkopenie genannt, beträgt ungefähr sechs Prozent in zehn Jahren. Bis Achtzig verliert eine Person dadurch rund ein Drittel ihrer maximalen Muskelmasse. Die Leistungsfähigkeit nimmt deutlich ab, die Lebensqualität sinkt.

Muskeltraining als Medizin

Es ist gemeinhin bekannt, dass körperliche Aktivität das Muskelwachstum stimulieren kann. Krafttraining gilt denn auch als die wichtigste Massnahme, um den negativen Folgen der Sarkopenie entgegenzuwirken. Weitgehend unbekannt ist jedoch, wie ein zielgerichtetes Muskeltraining genau aussehen muss, damit es seinen Zweck optimal erfüllt.
«Das liegt daran, dass man das Krafttraining in der Praxis zu wenig genau beschreibt. Rückschlüsse auf die Muskelbildung sind damit kaum möglich», sagt Claudio Viecelli, Doktorand am Institut für Molekulare Systembiologie bei ETH-​Professor Ernst Hafen.
Diese Lücke will Viecelli schliessen. Im Rahmen seiner Dissertation hat der Molekular-​ und Muskelbiologe zusammen mit Kollegen der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) sowie von der Kieser Training AG eine bestechend einfache Methode entwickelt: Sie nutzt die Beschleunigungssensoren in gängigen Smartphones, um den Verlauf von Kraftübungen an Geräten zeitlich hochaufgelöst zu erfassen. Über ihre Methode berichten die Forscher aktuell im Fachmagazin PLOS ONE.

Gesucht: Zeit unter Spannung

Bis anhin werden beim Krafttraining nur die mit einem Gewicht geleistete Arbeit anhand der Anzahl Sätze und Wiederholungen protokolliert. Solche Trainingsdaten sind jedoch unzureichend vergleichbar und damit suboptimal, um mögliche Effekte des Trainings auf die Muskelbildung zu untersuchen. Für die Muskelphysiologie ist das zeitliche Muster der Kraftübung relevant.
Die dazu notwendigen Beschreibungsgrössen sind in der Theorie seit längerem bekannt: Es sind dies unter anderem die «einzelne Wiederholung», welche aus dem Anheben und Absenken der Last besteht; dann die «spezifischen Kontraktionszeiten», welche die jeweilige Spannungsdauer der Muskeln für das Anheben und Absenken angeben; und schliesslich die «totale Spannungsdauer» – sie beziffert, wie lange die Muskulatur während einer Übung insgesamt angespannt ist.

Von der Beschleunigung zur Kontraktion

Bislang gibt es jedoch keinen geeigneten Ansatz, um diese Grössen im Kraftraum zuverlässig zu erfassen. «Dazu wären mehrere Stoppuhren oder sogar mehrere Helfer nötig – doch das ist kaum praktikabel. Deshalb fehlen diese Angaben meistens in Trainingsprotokollen wie auch in wissenschaftlichen Publikationen», erklärt Viecelli, der selber begeistert Krafttraining macht. Auf der Suche nach einer Lösung kam er auf die Idee, das Smartphone als digitales Analysewerkzeug zu benutzen.
Um die Idee zu prüfen, untersuchte Viecelli Trainingsübungen von 22 Probanden auf neun Kraftgeräten im ASVZ Irchel. Das Smartphone befestigte er jeweils am Gewichtsblock, damit es die Beschleunigungen während den Übungen registriert. Eine eigens programmierte App zeichnete die Daten der Sensoren auf. Aus den Beschleunigungsprofilen konnte Viecelli tatsächlich die fraglichen Kontraktionszeiten bestimmen. Durch den Vergleich mit Videoaufnahmen zeigte er zudem, dass die Methode hinreichend exakt ist und zuverlässig funktioniert.

Fernziel: digitalisierter Kraftraum

Die neue Analysemethode erlaubt es, Muskelübungen wesentlich genauer als bisher zu beschreiben und die relevanten Vergleichsgrössen standardisiert zu erfassen. Erst damit wird es möglich, das Krafttraining als Stimulus für die Muskelbildung zu quantifizieren und anhand von Vergleichsstudien trainingsinduzierte Veränderungen in der Muskelphysiologie zu identifizieren. Das könnte nicht zuletzt helfen, die altersassoziierte Sarkopenie und deren Folgeerscheinungen zu bekämpfen.
In erster Linie ist die Methode denn auch für die Forschung gedacht. In Zukunft ist es laut Viecelli aber denkbar, dass auch Trainierende das Werkzeug nutzen, um selbständig Daten mit ihrem Smartphone zu erfassen. Damit könnten sie beispielsweise Trainingspläne besser an ihre Bedürfnisse anpassen.
Solche Anwenderdaten sind wiederum für die Wissenschaft interessant. Viecellis Vision ist ein digitalisierter Kraftraum mit einer Fülle an Trainingsdaten, die man mit dem Körper korrelieren kann. «Unser Ziel ist, personalisierte Trainingsstrategien zu entwickeln, um die Muskelmasse, die Kraft oder beides zusammen effizient und effektiv zu erhöhen», so der Molekular-​ und Muskelbiologe.
Dieser Artikel ist zunächst auf ETH-News erschienen.

Autor(in) Michael Keller, ETH-News



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