Digitalisierung
21.11.2017, 16:00 Uhr
«Die Schule wird ihren Zielen nicht gerecht»
180 Kinder besuchen am heutigen Digitaltag an der ETH Zürich einen Programmierworkshop des Ausbildungs- und Beratungszentrum für Informatikunterricht. ETH-Professor Juraj Hromkovic erklärt, warum eine gute Informatikbildung für die Jugend so wichtig ist und was heute in den Schulen falsch läuft.
Juraj Hromkovic, Professor für Informationstechnologie und Ausbildung, möchte in den Schulen nicht die fertigen Produkte der Wissenschaft und Technik unterrichten, sondern deren Grundlagen
Herr Hromkovic, die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) hat sich Ende Oktober für die Einführung eines Informatik-Obligatoriums am Gymnasium ausgesprochen. Sind Sie zufrieden?
Juraj Hromkovic: Vor fünf Jahren wäre ich begeistert gewesen. Heute bin ich etwas enttäuscht. Ich hätte mir gewünscht, dass die EDK Informatik als Grundlagenfach einführen will. Nun, wir haben jetzt immerhin ein Gefäss, das wir füllen können. Wenn sich das bewährt, wird der zweite Schritt auch noch kommen.
Warum soll die Informatik in der Schule mehr Gewicht erhalten?
Eine gute Schulbildung sollte die Schülerinnen und Schüler befähigen, die Welt, in der sie leben, zu verstehen, und sie sollte sie auf die Berufswelt vorbereiten. Beiden Zielen wird die Schule ohne Informatik nicht gerecht.
Warum nicht?
Wenn ich die Technik nicht verstehe, dann verstehe ich auch die von Menschen gestaltete Welt nicht, in der ich lebe. Und was die Berufswelt betrifft: Kein Mensch weiss, wie diese in 10, 15 Jahren aussehen wird. Deshalb müssen wir den jungen Menschen Grundsätzliches vermitteln: Wie erzeugt man Wissen und wie entwickelt man Technologie? Wie wandelt man Wissen in Algorithmen um und wie delegiert man die Ausführung dieser Algorithmen mittels Programmierung an Maschinen? Wenn die jungen Leute das verstehen, haben sie später eine Chance, die Zukunft mitzugestalten. Wir müssen Erfinder und Produzenten und nicht nur Konsumenten erziehen.
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Apple-Chef Tim Cook meinte kürzlich, für einen Franzosen sei es künftig wichtiger, Programmieren zu können als Englisch zu sprechen. Teilen Sie diese Ansicht?
Das ist eine medienwirksame Äusserung. Doch mir geht es nicht nur ums Programmieren, ich spreche von Informatik.
Was ist denn er Unterschied?
Programmieren ist nur ein Teil der Informatik. Einfach gesagt: Es gibt keine Mathematik ohne Arithmetik. Aber Mathematik ist mehr als nur Arithmetik. Die informatische Denkweise blickt auf eine 5000 Jahre lange Geschichte zurück.
Damals gab es doch keine Computer…
In Mesopotamien gab es die erste Big-Data-Krise. Wie sollten sie in diesem Millionenreich die Übersicht behalten, wem was gehört und wer wie viele Steuern zahlen muss, wenn alle Informationen nur in den Köpfen der Menschen abgespeichert werden konnten? Deshalb entwickelte man die erste Schrift und erzeugte erste Datenbanken. Dies war die Geburtsstunde der Digitalisierung, denn Digitalisierung bedeutet, Informationen als diskrete Folgen von Symbolen darzustellen. Das war eine viel grössere Revolution als wir sie heute erleben. Die ersten Geheimschriften, die Grundlage des heutigen Datenschutzes, wurden vor 3500 Jahren entwickelt. Und noch bevor die Informatik eine wissenschaftliche Disziplin wurde, entwickelte man Verfahren zur Datenkomprimierung und selbstkorrigierende Kodierungen.
Die Algorithmik ist sogar noch älter: Die Menschheit wurde effizient, weil sie es schaffte, Wissen in Algorithmen umzusetzen. Algorithmen können massenhaft durch Menschen ausgeführt werden, welche nicht die Qualifikation der Erfinder haben. Die Informatik entstand, als man Algorithmen so genau formulierte, dass keine Improvisationsfähigkeit zur Ausführung mehr notwendig war und die Technologie soweit entwickelt wurde, dass man die Ausführung dieser Algorithmen an sie delegieren konnte.Das Fach Informatik soll also solche grundlegenden Konzepte vermitteln?Ja. In der Physik fängt man auch nicht mit der Quantenphysik an. Die Physikerlehrer beginnen bei Archimedes und Newton und vermitteln nach und nach ein Verständnis, wie unsere Welt funktioniert. Genau so müssen wir es in der Informatik machen. Wenn wir den Kindern gleich zu Beginn hochkomplexe Systeme vorsetzen, ist es kein Wunder, wenn der Unterricht an der Oberfläche bleibt.
Wie sieht denn guter Unterricht aus?
Wir unterrichten zum Beispiel nicht eine bestimmte Programmiersprache, sondern wollen Ursprung und Entwicklung der Sprache vermitteln. Wir geben den Kindern zu Beginn zehn elementare Befehle vor, die sie verwenden dürfen. Mit zehn Begriffen ist es natürlich etwas mühsam, sich auszurücken. Die Kinder erkennen so den Bedarf an neuen Begriffen. Wir zeigen ihnen dann, wie sie dem Computer neue Wörter beibringen können. Jedes Kind entwickelt so seine eigene Programmiersprache und lernt dabei, wie Sprachen entstehen und sich ständig verändern.
Sie haben früher in einem Interview erklärt, in den Gymnasien hätte man in den letzten 20 Jahren Informatik falsch unterrichtet…
…das ist nett ausgedrückt.
Was lief denn schief?
Kurz gesagt: Wir dürfen nicht die fertigen Produkte der Wissenschaft und Technik unterrichten, sondern die Prozesse ihres Entstehens.
Und das lernt man in den Gymnasien nicht?
Nein, man lernt dort nur, wie man mit dem Computer umgeht und bestimmte Softwaresysteme bedient. Es gibt keine Vertiefung, keine Nachhaltigkeit, denn die Softwaresysteme werden permanent erneuert. Was man heute in den Schulen im Fach ICT lernt, hat mit Informatik so viel zu tun wie Autofahren mit Maschinenbau. Autofahren ist eine nützliche Tätigkeit, zweifellos, aber das muss man nicht in der Schule lernen. Das war ein Irrweg, den nicht alle Länder mitgemacht haben. Die Schweiz leider schon.
Aber wir brauchen doch nicht nur Maschinenbauer, sondern auch Leute, die Auto fahren.
Aber wie lange noch? Die Entwicklung geht doch dahin, dass alle Tätigkeiten, die keine hohe Qualifikation brauchen, automatisiert werden. Natürlich: Textverarbeitung und Tabellenkalkulation sind wichtig. Aber dafür braucht es wirklich kein eigenes Schulfach.
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Haben wir denn genügend Lehrer für einen solchen Informatikunterricht?
Die ETH bildet schon seit mehr als 15 Jahren Lehrpersonen aus, welche Informatik auf diese Weise unterrichten könnten. Wir beginnen also nicht auf der grünen Wiese.
Sie haben vorhin andere Länder angesprochen, in denen Informatik anders unterrichtet wird. Welche Länder sind das?
Es sind vor allem osteuropäische Länder. Ich selber stamme aus der ehemaligen Tschechoslowakei und genoss in den 1970er-Jahren vier Jahre lang einen echten Informatikunterricht mit vier Stunden pro Woche. In Osteuropa hatten die MINT-Fächer insgesamt einen viel höheren Stellenwert als im Westen. In der Schweiz hat man in den 1990er-Jahren nicht nur die Informatik durch ICT ersetzt, sondern auch die Stellung der Mathematik und der Naturwissenschaften geschwächt. Nun beklagen wir uns, dass wir zu wenig Ingenieure, Mathematiker und Naturwissenschaftler haben…
Was ist die Rolle der ETH in dieser Diskussion?
Die ETH sollte sich dafür einsetzen, dass die MINT-Fächer in den Schulen wieder mehr Gewicht erhalten. Die Jugendlichen wollen etwas leisten, und es gibt für sie tolle Möglichkeiten, in diesen Bereichen Leistungen für die Gesellschaft zu erbringen. Wir sollten auf das Faustische setzen: Der Mensch wird nur zufrieden, wenn er etwas Besonderes leistet, von dem er selber denkt, dass es nicht ohne ist. Diese Denkweise müssen wir wieder in die Schulen tragen.
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