«Eine Bank ist heute ein Tech-Unternehmen»

Videoberatung als Zusatzdienstleistung

CW: Verkauft die Migros Bank also demnächst Hypotheken über den Bildschirm?
Kunzelmann: Das gibt es schon. Der Kunde kann aber entscheiden, ob er lieber für ein persönliches Gespräch in die Filiale kommen möchte. Gerade der erste Hauskauf ist etwas sehr Emotionales. Wir sind trotzdem so eingerichtet, dass wir Hypothekargeschäfte in Selbstbedienung oder auch per Video abwickeln können.
CW: Hat die Pandemie das beschleunigt?
Kunzelmann: Kurz zuvor, im März 2020, hatten wir unseren Piloten bezüglich Videoberatung gestartet. Wir versuchten dann, die Einführung zu beschleunigen.
CW: Gelang das?
Kunzelmann: Die flächendeckende Ausrollung erfolgte dann im August.
CW: Geht Videoberatung von jedem Arbeitsplatz aus?
Wick: Nicht von jedem, aber wir haben in jeder Filiale Räume, die für die Videoberatung eingerichtet sind. Deren Anzahl richtet sich jeweils nach der Grösse der Niederlassung.
CW: Welche Arten von Beratung bietet die Migros Bank per Video an?
Kunzelmann: Heute sind es vor allem Produktberatungen. Aber wenn wir über die Zukunft sinnieren, glauben wir vielmehr, dass die Finanzberatung der Normalfall sein wird und die steckt überall drin. Ich denke, die ganze Bankenindustrie wird in diese Richtung gehen, aber die Migros Bank ganz dezidiert, zumal es eine Knappheit an Spezialisten für Finanzfragen gibt. Wenn es zum Beispiel um eine wichtige Steuerfrage geht, werden wir die Spezialisten nie in den Filialen haben, sondern wir werden sie konzentrieren und über den Bildschirm ins Kundengespräch zuschalten. Über dieses Betriebsmodell können die Kompetenzen viel besser entwickelt werden. Wenn die Spezialisten untereinander laufend im Austausch stehen und ständig Fälle haben, werden sie logischerweise besser. Mit deren technischer Unterstützung sowie den Expertensystemen schliesst sich der Kreis zur IT.
CW: Wenn Spezialisten zugeschaltet werden, müssen diese aus Fleisch und Blut sein?
Kunzelmann: Davon bin ich für komplexe Finanzfragen ganz fest überzeugt und das wird noch ganz lange so sein. Denn der menschliche Dialog und die situative Intelligenz des Menschen können nicht so schnell mit Technik ersetzt werden.
Manuel Kunzelmann und Stephan Wick (v. l.) sind überzeugt, dass die Migros Bank den IT-Fachkräften ein attraktives Arbeitsumfeld bietet
Quelle: Stefan Walter
Wick:
Expertensysteme und künstliche Intelligenz (KI) gelangen zwar immer mehr zum Einsatz, doch es gilt, die gesamte Kundensituation zu erfassen, also auch die nonverbale Kommunikation oder das Wissen über den Kunden. KI kann sicherlich gewisse spezifische Fragen relativ gut und schnell beantworten, aber die Situation des Kunden in ihrer Gesamtheit abzudecken, davon sind wir noch weit entfernt.
CW: Wie setzen Sie KI ein?
Wick: Wir sind daran, mit KI das Kundenerlebnis zu verbessern. Wenn der Kunde auf unserem Direktkanal Kontakt mit uns aufnimmt, ob per Telefon oder Chat, kann die KI die Fragen triagieren und eine Beurteilung vornehmen, ob es einen Menschen für die Beantwortung braucht. Beispielsweise kann eine Saldoabfrage, das Nachbestellen eines Kontoauszugs oder das Sperren einer Bankkarte sehr gut maschinell abgewickelt werden. Bei komplexeren Fragestellungen verweist die KI hingegen zu einem Menschen. Wir versuchen, möglichst viele einfache Aufgaben, die zum Teil ein sehr hohes Volumen aufweisen, zu automatisieren.
CW: Geht das auch auf Mundart?
Wick: Ja, das geht. Unser Provider bietet alle Schweizer Dialekte plus Französisch und Italienisch an.
Kunzelmann: Unsere Mitarbeitenden müssen heute enorm viele Kundenanfragen bearbeiten und dabei ein breites Aufgaben- und Wissensfeld abdecken. Die Stimmbiometrie kann dabei zur Unterstützung eingesetzt werden und unsere Leute im Tagesgeschäft entlasten.
Wick: Auch sind wir gerade daran, die Kontoeröffnung zu automatisieren, sodass die Kundinnen und Kunden das selbst machen können.
CW: Nimmt die Kundschaft das an?
Wick: Wir fragen sie natürlich, ob es für sie okay ist, wenn wir aus dem Gespräch einen Stimmabdruck erstellen und abspeichern, damit sie beim nächsten Mal nicht mehr die drei oder vier Sicherheitsfragen beantworten müssen. Dort haben wir eine Zustimmungsrate von über 80 Prozent. Wir erstellen pro Woche 800 bis 900 neue Profile. In den vergangenen rund zwei Jahren sind bereits über 50 000 solcher Profile zusammengekommen.
CW: Läuft die Software dazu auf Ihrer Infrastruktur oder bei Ihrem Provider?
Wick: Die läuft bei uns.
CW: Wie hoch ist das IT-Budget der Migros Bank?
Kunzelmann: Wir haben in den letzten zwei Jahren die Investitionen in die IT deutlich erhöht. Alles zusammengerechnet – Personal, Investitionen und laufende Kosten – kommen wir auf knapp unter 100 Millionen Franken. Das ist ein substanzieller Teil unserer Sach- und Personalkosten.
CW: Weshalb in den letzten zwei Jahren?
Wick [lacht]: Wir haben einen neuen CEO und eine neue Strategie, die Investitionen erfordert.
Kunzelmann: Vielleicht war die Basis vorher etwas zu tief … Unsere Strategie hat drei Prioritäten. Die eine ist die Modernisierung des Kerngeschäfts. Dort verfolgen wir zwei Stossrichtungen: die Finanzberatung in der Filiale, was durch die Beratungsunterstützung auch viel mit IT zu tun hat, sowie den Ausbau der Direktkanäle mit Selbstbedienung und Distanzvertrieb. Eine zweite Strategiepriorität ist eine bessere Orchestrierung des Synergiepotenzials mit der Migros-Gruppe und die dritte das Thema Innovation.
“Wir haben in den letzten zwei Jahren unsere Basis- und Core-Infrastruktur komplett erneuert„
Manuel Kunzelmann
CW: Haben Sie ein Beispiel für eine bessere Synergienutzung?
Kunzelmann: Die Cumulus-Kreditkarte ist bekannt. Aber man kann es generalisieren: Eine grosse Kostenlast für die Migros-Gruppe ist, dass jede Kauftransaktion über den Backbone geht, an dem eine kostenintensive Finanzinfrastruktur hängt. Das ist ein riesiger Kostenblock bei jeder Kauftransaktion. Dieser kann über hauseigene Finanzkreisläufe verringert werden, wie dies beispielsweise Amazon mit Amazon Pay oder Alibaba mit Alipay tun.



Das könnte Sie auch interessieren