Peter Wüthrich 22.01.2016, 15:11 Uhr

«Übungen haben gezeigt, wie anfällig die liberalisierte Infrastruktur ist»

Polycom wird nicht das neue IT-Debakel beim Bund. Sondern ist ein erfolgreiches Projekt. Sagt Babs-Infrastrukturchef Peter Wüthrich. Der auch gleich erklärt, warum der Bund noch zwei weitere Netze bauen muss.
Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass der Bund einen 325-Millionen-Franken-Auftrag fr die Erneuerung von Polycom vergab. Obwohl es ursprünglich hiess, das System sei bis 2025 funktionstüchtig. Wir haben beim verantwortlichen Bundesamt für Bevölkerungsschutz (Babs) nachgefragt, was es damit auf sich hat. Peter Wüthrich, Chef des Geschäftsbereiches Infrastruktur, nimmt Stellung.
Computerworld: Polycom war einst mit 420 Millionen Franken veranschlagt. Nun wird es über eine Milliarde kosten. Was ging schief?
Peter Wüthrich: Es ging überhaupt nichts schief, ganz im Gegenteil: Unter dem Projektmanagement des Bundesamts für Bevölkerungsschutz ist Polycom über einen Zeitraum von 15 Jahren schrittweise aufgebaut und in Betrieb genommen worden. Damit verfügt der Schweizer Bevölkerungsschutz über ein einheitliches Sicherheitsfunksystem. Erstmals können alle relevanten Partner flächendeckend auf einem gemeinsamen, sicheren und flexiblen Funksystem untereinander kommunizieren ? auch wenn andere Kommunikationssysteme nicht mehr funktionieren sollten. Mit Polizei, Feuerwehr, Sanität, Zivilschutz, Grenzwachtkorps GWK, Teilen der Armee im subsidiären Einsatz sowie technischen Betrieben und Betreibern von kritischen Infrastrukturen sind insgesamt 55?000 Nutzer daran beteiligt.
Was ist mit den Kosten?
Die 420 Millionen bezogen sich bei Projektstart auf die erforderlichen Investitionen für den flächendeckenden Aufbau des Funknetzes. Nun planen wir den Werterhalt und den Betrieb bis 2030 ? und darauf beziehen sich die Kosten von über einer Milliarde Franken. Das sind also zwei völlig verschiedene Planungszahlen.
Vor kurzem haben Sie für die Instandhaltung einen Auftrag über 325 Millionen Franken an Atos vergeben, um die Basisstationen zu erneuern. Freihändig.
Der Hersteller konnte den Betrieb der in der ersten Ausbauphase eingesetzten Komponenten nach 2018 nicht mehr garantieren. Der neue Vertrag sichert die Werterhaltung von Polycom bis 2030. Dazu kommt die notwendige technologische Erneuerung: Die verwendeten Tetrapol-Komponenten basieren intern auf der heute veralteten Übertragungstechnologie Time Division Multiplex. Diese wird nun durch IP-Technologie abgelöst. Aufgrund des Investitionsschutzes bei Bund und Kantonen gibt es keine Alternative zu Tetrapol, daher wurde eine freihändige Vergabe an Atos gewählt.
Trotzdem hiess es, dass Polycom bis 2025 ohne Änderungen im Einsatz sein wird. Deshalb fühlen sich Politiker nun auf den Schlips getreten und die Finanzkommission führt eine Untersuchung durch.
Diese Aussagen bezogen sich grundsätzlich auf die Verfügbarkeit der zugrundeliegenden Tetrapol-Technologie: Airbus als Eigentümerin der Technologie hatte mehrmals verbindlich zugesichert, dass sie den Einsatz von Tetrapol bis mindestens 2025 garantiert. Mit der neuen Rahmenvereinbarung wird der Einsatz von Tetrapol bis mindestens 2030 verbindlich festgeschrieben ? 5 Jahre länger als bisher zugesichert also.
Mit Polycom können die Nutzer aber nur funken, ein Datennetz fehlt. In einer Zeit, in der beispielsweise immer mehr Polizeikorps mit Tablets ausgerüstet sind, wirkt das befremdlich.
Deshalb haben wir nebst Polycom noch zwei weitere Projekte am Start, nach deren Abschluss wir eine vollständig redundante mobile Kommunikationsinfrastruktur für die Behörden und Organisationen der Rettung und Sicherheit besitzen wollen.
Welche?
Erstens das Sichere Datenverbundnetz SDVN, welches eine hoch verfügbare Datenübertragung zu einzelnen Anschlusspunkten sicherstellt und auf leistungsfähigen Glasfaserverbindungen basiert. Zweitens das drahtlose Breitbandkommunikationsnetz für den Mobilfunkbereich.
Welchen Nutzen zieht die Bevölkerung aus diesen Datennetzen?
Die Anwendungsmöglichkeiten sind sehr vielfältig: Denken Sie etwa an Gebäudepläne oder Darstellungen zur Lage der Gasgeneratoren der Airbags in einem Personenwagen, die direkt an die Feuerwehren übermittelt werden können. Die Rettungsdienste könnten vor Ort Zugriff haben auf elektronische Krankendaten von verletzten Personen. Für die Polizei wäre die Abfrage von Personen- und Fahndungsdaten im gleichen System möglich. Alle diese Informationen sollen in hoher Geschwindigkeit und mit hoher Zuverlässigkeit auf Endgeräten zur Verfügung stehen.
Von dieser Infrastruktur haben Sie auch an einer Veranstaltung im Dezember 2014 erzählt. Und hinzugefügt, dass sie in zehn Jahren in Betrieb sein soll. Sind Sie noch im Plan?
Mit unseren technischen Planungen sind wir grundsätzlich in der Spur. Allerdings haben wir vom Bundesrat den Auftrag erhalten, die verschiedenen Projekte zu priorisieren. Vor diesem Hintergrund sind wir aktuell auf das vordringlichste Projekt fokussiert. Das ist die Werterhaltung Polycom. Ob und wann die weiteren Projekte realisiert werden können, wird auf politischer Ebene entschieden. Es braucht dazu die entsprechenden Finanzierungsbeschlüsse.
Warum braucht die Schweiz noch ein Datenverbundnetz? Sie können einfach ein bestehendes der hiesigen Telkos nehmen, die Abdeckung ist gut.
Die Telko-Netze sind primär nach wirtschaftlichen Aspekten konzipiert. Im Alltag verfügen sie über eine anerkannt hohe Leistungsfähigkeit. Im Falle einer Katastrophe oder Notlage jedoch ist die Verfügbarkeit dieser Netzte nicht sichergestellt. Bei einem grösseren Stromausfall läuft nach 15 Minuten praktisch nichts mehr. Für die Führungs- und Einsatzorganisationen im Bevölkerungsschutz wollen wir ein Netz, dessen Stromversorgung in einem Notfall zwei Wochen lang gewährleistet ist.
Das dafür wieder hunderte Millionen kostet und nur gebraucht wird, falls es einen Atom-GAU gibt oder wir von einer Naturkatastrophe heimgesucht werden.
Es gibt auch andere Szenarien. So kommt es immer wieder einmal zu lokalen Ausfällen der Telko-Netze, wie beispielsweise am 13. Januar 2016 als ca. 80?000 Swisscom-Kunden in der Nordwestschweiz ohne Internet, Fernsehen und Festnetztelefonie waren. Oder Terroranschläge wie in Paris, wo innert weniger Minuten alle Telko-Netze ausgefallen sind. Sicherheitsübungen haben wiederholt gezeigt, wie anfällig die liberalisierte Infrastruktur ist.
Wie wollen Sie verhindern, dass die Kosten ausufern?
Im Boden liegen viele Kilometer Glasfaser. Wenn wir diese sinnvoll verbinden, können wir das SDVN effizient und kostengünstig realisieren. Es geht ausserdem um einen klar begrenzten Umfang: Mit 120 Endpunkten können wir die relevanten Stellen von Bund und Kantonen und die wichtigsten Betreiber von kritischen Infrastrukturen in der gesamten Schweiz erschliessen.
Bis wann soll das Netz in Betrieb sein?
Möglichst schnell. Warten wir zu lange, bauen die Kantone eigene Netze und ein landesweites Netz wird nicht mehr möglich sein. Dieses Jahr werden wir deshalb Entscheidungsgrundlagen für ein Layer 2-Transportnetz ausarbeiten, damit anschliessend eine Ausschreibung stattfinden kann. Der Fahrplan ist aber stark von der Politik abhängig, die erforderlichen finanziellen und personellen Ressourcen müssen von den zuständigen Stellen bewilligt werden.
Dann dürfte es noch etwas dauern, bis Ihr drittes Projekt realisiert wird.
Mit Blick auf das Mobilfunknetz gibt es neben den finanziellen erhebliche rechtliche Hürden: Die grösste Herausforderungen liegt darin, zusätzliche Frequenzspektren für eine Breitbandkommunikation verfügbar zu machen. Unser Ziel ist der 700-MhZ-Bereich. Wir hoffen auf eine entsprechende Zuteilung spätestens 2017. Auch dies liegt in den Händen der Politik. Ich bin froh, wenn wir in ungefähr zehn Jahren einen Pilotversuch starten können. Bis das Netz flächendeckend verfügbar ist, wird es dann noch ein paar Jahre dauern.
Dass Rettungs- und Sicherheitskräfte sicherer kommunizieren sollten als Private, leuchtet ein. Gleich drei Netze dafür zu haben, könnte dem einen oder anderen Leser übertrieben vorkommen. Vor allem wenn er weiss, dass das Militär ähnliche Pläne seit Jahren verfolgt.
Das umfassende, alle Bedürfnisse abdeckende Netz gibt es nicht. Deswegen wollen wir verschiedene Arten von Netzen. Dazu kommt, dass wir im Sicherheitsbereich immer mit Redundanzen planen müssen. Vor diesem Hintergrund arbeiten wir im Bundesamt für Bevölkerungsschutz selbstverständlich auch mit der Armee eng zusammen. Wo es möglich ist, nutzen wir Synergien. Heute kann sich niemand mehr leisten, alles alleine zu tun.
Entscheidend ist in jedem Fall, dass wir die erforderlichen Telematiksysteme rechtzeitig bereitstellen können. Wenn eine Notsituation eintritt und kein Kommunikationsnetz funktioniert, dann ist es definitiv zu spät.



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