23.02.2016, 14:33 Uhr
«Alan Turings Ideen beeinflussen die Forschung noch immer»
Ende 2015 gegründet, führt das Turing Centre der ETH Zürich Forschende und Studierende aus Natur-, Ingenieur- und Geisteswissenschaften zusammen. Im Interview legen der Leiter Giovanni Sommaruga und die Co-Leiter Diane Proudfoot und Jack Copeland dar, wie das Zentrum die freie Grundlagenforschung anregt und was «Kind-Maschinen» damit zu tun haben.
Die Idee, ein Turing Centre in Zürich zu gründen, entstand 2012. Damals traf Jack Copeland, Professor an der Universität Canterbury in Neuseeland und Spezialist für mathematische Logik und Philosophie der Informatik, an einer internationalen Konferenz mit dem Titel «Turing in der Diskussion» auf Giovanni Sommaruga, Dozent für die Philosophie der formalen Wissenschaften an der ETH Zürich. 2014 nahm das Zentrum Form an, als Jack Copeland und seine Kollegin Diane Proudfoot, Vorsteherin der Philosophie an der Universität Canterbury, als Gastprofessoren vier Monate in Zürich verbrachten. 2015 schliesslich stimmte die Schulleitung der ETH Zürich zu, das Turing Centre Zurich (TCZ) im Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften einzurichten. Frau Proudfoot, Herr Copeland, weshalb ist die ETH Zürich der ideale Ort für das Turing Centre? Diane Proudfoot: Die ETH Zürich ist als Standort des Turing Centre besonders gut geeignet, weil sie sich ganz jener Art von innovativer theoretischer Forschung widmet, die Alan Turings eigene Stärke war - nämlich die Art von Neugier getriebener Grundlagenforschung, die wir im Englischen «blue skies research» nennen. Damit ist gemeint, dass Forschende nicht immer ein bestimmtes Ziel im Sinn haben, sondern die jeweils beste Idee verfolgen und auf diese Weise unerwartete Entdeckungen machen. Das ist genau, wie Turing vorging und wie dies Forschende der ETH noch immer tun. Zudem arbeiten ETH-Forschende genau in den Gebieten, die Turing revolutioniert hat. Deshalb ist die ETH Zürich, in der Mitte Europas, der perfekte Ort für das Turing Centre. Jack Copeland: Kommt hinzu, dass die ETH Zürich auch aus historischer Sicht ein höchst passender Standort ist. 1936 publizierte Turing seinen berühmten Artikel «On computable numbers, with an application to the Entscheidungsproblem», der aus heutiger Sicht die moderne Computerwissenschaft begründete. Turings Artikel war in gewisser Hinsicht eine Antwort auf das tiefgründige Denken von Mathematikern, die in bedeutenden Universitätsstädten der deutschsprachigen Welt wie etwa Göttingen, Wien und Zürich arbeiteten. Pflegte Alan Turing selbst Beziehungen zur ETH Zürich? Giovanni Sommaruga: Es gibt einige Briefe von Alan Turing und Paul Bernays, der einst ein Mitarbeiter David Hilberts gewesen war. Hilbert war jener Mathematiker, der das Entscheidungsproblem als das Problem, ob für die Allgemeingültigkeit von Ausdrücken ein Entscheidungsverfahren angegeben werden kann, formuliert hatte. Bernays selbst war ein brillanter mathematischer Logiker und Philosoph der Mathematik und Logik an der ETH. Jack Copeland: Turing verehrte Bernays Arbeit. Bernays sandte Turing eine äusserst gründliche Kritik seines 1936er-Artikels. Als Folge davon veröffentlichte Turing 1937 eine Korrektur. So betrachtet ist das eine ziemlich bedeutsame Verbindung mit der ETH Zürich. Abgesehen davon, dass er ein Pionier der Computerwissenschaft und der Philosophie der Informatik war, was hat Alan Turings Werk den Forschenden heute zu sagen? Giovanni Sommaruga: Turing war einer der aussergewöhnlichsten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts und fast so etwas wie ein Universalwissenschaftler. Sein Wissen war äusserst vielseitig, und seine Ideen wirken sich bis heute auf viele Disziplinen aus - dazu gehören Mathematik, Computerwissenschaft, Informatik, Künstliche Intelligenz, Kognitionswissenschaft, Biologie und Philosophie. Diane Proudfoot: Alan Turing hatte etliche wirklich brillante Ideen in ziemlich unterschiedlichen Gebieten, und diese Ideen unterschieden sich gewöhnlich sehr von den mehrheitlich vorherrschenden Ideen seiner Zeit. Seine Ideen beeinflussen noch immer die aktuelle und wahrscheinlich auch die künftige Forschung. Haben Sie ein Beispiel, wie Turings Ideen die aktuelle Forschung beeinflussen? Diane Proudfoot: Ein Beispiel aus der Nähe betrifft die Universität Lausanne. Ein Physiker dort arbeitet in der Nanobiologie und seine Arbeit scheint eine Erweiterung von Turings Ideen zu sein. Giovanni Sommaruga: 3-D Nanomuster in der Bio-Nanowelt sind ein Beispiel eines Phänomens, das man besser verstehen kann, wenn man auf Turings Ideen Bezug nimmt. In diesem Fall sind es seine morphogenetischen Gleichungen aus der theoretischen Biologie. Turing selbst konnte zu seiner Zeit von der modernen Nanotechnologie natürlich nicht annähernd auch nur träumen. Deshalb untersuchen wir Turings Ideen nicht nur im historischen Kontext, sondern auch mit Blick auf die Auswirkungen, die seine Ideen heute haben. Einige Einsichten unserer Gruppe werden in diesem Jahr in den Büchern «Turing's Revolution: The Impact of His Ideas on Computability» und «The Turing Guide» veröffentlicht. Jack Copeland: Alan Turing war der erste, der die Idee untersuchte, dass man Computer aus künstlichen Neuronen bilden könnte. Er schlug Computer nach dem Vorbild des menschlichen Hirns vor, weil sich so bis zu einem gewissen Ausmass die «Verkabelung» zwischen den Neuronen der Grosshirnrinde nachahmen liesse. 1948 beschrieb er in einem Bericht mit dem Titel «Intelligent Machinery» Beispiele von dem, was wir heute «neuronale Netze» nennen. Turing selbst nannte seine neuronalen Netze «A-type and B-type unorganized machines» – er hatte es halt nicht so mit einer «sexy» Terminologie. Heute gilt Turings 1948er-Bericht als das erste Manifest der «Künstlichen Intelligenz» oder kurz KI, wie wir sie heute nennen. Nur wusste lange Zeit niemand, dass Turing auf dem Gebiet der neuronenartigen oder «konnektionistischen» Aspekte der KI Pionierarbeit geleistet hatte, denn er arbeitete einfach zu seiner eigenen Genugtuung und war nicht allzu sehr daran interessiert, seine Ideen zu publizieren. Diese Unkenntnis über Turings wegweisende Arbeit zum neuronenartigen Rechnen endete, als Diane und ich unseren Artikel «On Alan Turing’s Anticipation of Connectionism» veröffentlichten. Dann wurde 2012 eine «B-type unorganized machine» mittels Nanotechnologie verwirklicht. Nächste Seite: Verbindung zur KI-Forschung an der ETH Gibt es eine Verbindung zwischen Turings Ideen über neuronale Netze und künstliche Intelligenz und der Forschung an der ETH Zürich? Diane Proudfoot: Auf eine Weise schon. In seinem 1948er-Paper über intelligente Maschinen nahm Turing an, dass möglicherweise der beste Weg, künstliche Intelligenz zu erzeugen, der sein könnte, einen Roboter zu bauen, der auf dieselbe Weise lernen würde wie ein Kind. Das erscheint einfacher als zu versuchen, einen voll ausgebildeten und erwachsenen Geist nachzubilden. Turing nannte diese Roboter «child machines», also Kind-Maschinen. Seit den 1980er-Jahren versuchen Forschende zunehmend, genau dies zu tun - Maschinen zu bauen, die wie Kinder lernen. So auch Robotiker der ETH. Jack Copeland: Ein anderes Beispiel sind Industrieroboter. Turings Konzept einer belehrbaren «Kind-Maschine» spurt heute den Weg vor für Roboter, die sicher mit Menschen in einer Fabrikhalle oder sonstwo interagieren. Das ist ein interessanter Punkt. Die Sorge ist in letzter Zeit gewachsen, dass es Risiken gibt, wenn intelligente Roboter am Arbeitsplatz der Menschen teilnehmen. Dachte Turing auch darüber nach? Diane Proudfoot: Einige Industrieroboter sind heute schon unglaublich hochentwickelt, ganz wie die Kind-Maschinen, die Turing beschrieb. Und ja, es stimmt, solche Roboter werden voraussichtlich die Menschen bei der Fliessbandarbeit ersetzen. Tatsächlich sprach Turing in den frühen 1950er-Jahren am Radio über die möglichen Risiken künstlicher Intelligenz - über das Risiko, den Arbeitsplatz zu verlieren, ebenso wie über das Risiko, dass Menschen von intelligenten Maschinen «verdrängt» werden könnten. Jedoch dachte er nicht, dass man sich deswegen grosse Sorgen machen müsste, oder dass, wenn doch, man viel dagegen unternehmen könnte. Er zog es vielmehr vor, sich über die Paranoia vor dem Zeitalter der Maschinen lustig zu machen. Es ist faszinierend, heute die gleiche Debatte zu erleben. Mochte Turing die Öffentlichkeit? Diane Proudfoot: Ich bin nicht einverstanden mit der Darstellung Turings als eines scheuen, isolierten Menschen, wie wir ihn im Spielfilm «The Imitation Game» zu sehen bekamen. Turing war in einem gewissen Sinn isoliert, aber er war gewiss nicht scheu oder sozial überfordert. In seinen Talksendungen am Radio kommunizierte er seine Ideen unverblümt und zugänglich. Und er war selbstbewusst. Als Turing zum Beispiel die Vorlesungen des einschüchternd wirkenden Philosophen Ludwig Wittgenstein über die Grundlagen der Mathematik besuchte, war er derjenige, der Wittgenstein echt herausforderte. Nächste Seite: Aktivitäten am Zürcher Turing Centre Zurück zum Turing Centre Zurich. Welche Aktivitäten schweben Ihnen vor? Giovanni Sommaruga: Für den Anfang regelmässige Forschungsseminare, jährliche «Turing Lectures», die an das Vorbild der erfolgreichen «Bernays Lectures» der ETH anknüpfen, sowie eine Auswahl von Kursen für Studierende. Zusätzlich zu diesen Aktivitäten haben wir vor, eine populäre Vortragsreihe durchzuführen, die sich mit den potenziellen Auswirkungen der Informationstechnologien auf die Gesellschaft befasst - und auch mit ethischen Fragen, die sich im Zusammenhang mit Informationstechnologien stellen.Diane Proudfoot: Das Turing Centre wird ein breites Lehr- und Forschungsprogramm haben, das verschiedene Aspekte von Turings Werk erforschen wird. Wir erwarten, dass das Zentrum interdisziplinäre Forschung hervorbringen wird, die ohne es nicht stattfinden würde. Wird das Turing Centre zur «Critical Thinking»-Initiative der ETH Zürich beitragen? Giovanni Sommaruga: Ja, das Centre will sich an der «Critical Thinking»-Initiative beteiligen. Kritisches Denken macht den Kern der Philosophie aus. Deshalb ist Philosophie ein Schlüsselfach für die «Critical Thinking»-Initiative. Unsere Erfahrung, in Zürich genauso wie in Neuseeland, zeigt, dass Studierende der Natur- und Ingenieurwissenschaften in der Regel sehr positiv auf die Philosophie ansprechen. Sie schult sie im scharfsinnigen analytischen Denken und motiviert sie, die Grundlagen ihres Fachs zu reflektieren. ! KASTEN !