Computerworld vor 30 Jahren 21.12.2020, 06:00 Uhr

Die vergessene Bundesinformatik

Heute wird 1999 als Gründungsjahr für das Bundesamt für Informatikund Telekommunikation angeführt. Die Schweiz hatte aber schon 1990 ein Informatikamt – das sich auch um Fichen kümmern musste.
In Zollikofen errich­tete das Bundesamt für Informatik und Telekommunikation 2013 ein neues Verwaltungsgebäude
(Quelle: Emch+Berger)
Computerworld Schweiz berichtete nur am Rande über das wichtigste Thema des Jahres 1990: die Fichenaffäre. Die Fichen waren allerdings auch auf Papier geführt worden. Hingegen war das 1990 neu gegründete Bundesamt für Informatik BfI vielfach ein Thema in der damaligen Wochenzeitung. Dabei ging es hauptsächlich ums Geld – und weniger um die Informatikdienstleistungen für die Bundesverwaltung.
Der Vorläufer des BfI war das Bundesamt für Organisation, das 1990 aufgespaltet wurde. Die «Dienststelle für Verwaltungskontrolle» und das «Eidgenössische Personalamt» entstanden neben dem BfI. Der Dienstauftrag laut Bundesratsbeschluss vom 1. Oktober 1990 lautete: «Das BfI fördert als zentrales Dienstleistungs- und Beratungsorgan die wirtschaftliche und zweckmässige Anwendung der Informatik in der Bundesverwaltung. Es bearbeitet in erster Linie departementsübergreifende konzeptionelle und technische Fragen der Informatik und trägt die betriebliche Verantwortung für departementsübergreifende Informatik­anwendungen. Es berät und unterstützt die Verwaltungseinheiten des Bundes im Bereich der Informatik.» Bern war früh dran – in Deutschland entstand erst ein Jahr später ein vergleichbares Amt –, wusste aber auch noch nichtso viel mit der EDV-Unterstützung für Verwaltungen an­zufangen. So war McKinsey einer der Gründungsväter des BfI. Das Beratungsunternehmen hatte die Auflösung des Bundesamts für Organisation empfohlen, nach dem Grundsatz: Trennung von Beratung und Kontrolle. Die Bundes­informatiker sollten hauptsächlich beraten, die der Bundeskanzlei angegliederte «Dienststelle für Verwaltungs­kontrolle» übernahm die Kontrolle.

Bundesinformatik auf Abwegen

Sie beorderte die zukünftigen BfI-Spezialisten zunächst einmal an die Fichenfront. Die Datenerfassungsexperten sollten bei der «zügigen Bereinigung der Flut von Einsichtsbegehren» der überwachten Bürger helfen, berichtete Computerworld im April 1990. «Ihr Einsatz beschränke sich auf ein paar Wochen», lautete die Mutmassung.
Von der EDV-Unterstützung bei diesen Arbeiten wollte Bern aber nichts wissen: «Durch die Eingabe eines entsprechenden Suchbegriffs wäre es ein Leichtes gewesen, sämtliche Beamten, Journalisten, Mitglieder bestimmter Parteien oder Teilnehmer gewisser Veranstaltungen in Sekundenschnelle zu erschliessen», so die ParlamentarischeUntersuchungskommission PUK. Auf Papier war die Recherche aufwendig. «Angesichts der vorhandenen Möglich­keiten, Daten nach beliebigen Suchkriterien abzurufen,Datensammlungen unterschiedlichen Inhalts zu vernetzen und jederzeit Zugriff auf die Gesamtmenge der vorhandenen Daten vorzunehmen, müssen auf rechtlicher und technischer Ebene die geeigneten Vorkehrungen gegen mög­liche Missbräuche getroffen werden», forderte die PUK. Für die Bundespolizei hiess das: weiterhin Fichen auf Papier.

Bund digital vernetzt

Die Bundesinformatik widmete sich unterdessen der unverfänglichen Technik. Von den anfangs 172 Angestellten arbeiteten rund 75 Prozent im «Rechenzentrum der allgemeinen Bundesverwaltung» (RZ BV). Die übrigen Kollegen waren mit Ausbildung der Benutzer, Dienstleistungen und Planung befasst. Der erste Leiter des BfI, Henri Garin, sollte das Amt bis zum Übergang in das Bundesamt für Informatik und Telekommunikation im Jahr 1999 leiten.
Eines seiner ersten Projekte war der Neubau eines zentralen Verwaltungsgebäudes an der Eigerstrasse 41 in Bern. Bis dahin war das BfI an vier Standorten innerhalb der Stadt Bern untergebracht, was laut Garin diverse Nachteile hatte: Arbeitsräume und gewisse Geräte mussten mehrfach vorhanden sein, Führung sowie Kommunikation waren erschwert und die periphere Lage der EDV-Betriebe ver­ursachte Zeitverluste beim Bringen und Holen von Datenträgern sowie umfangreichen Druckarbeiten. Damals bedruckte das Rechenzentrum jährlich mehr als 10 Millionen Seiten Papier. Ferner wurden jährlich rund 5000 Daten­träger mit anderen EDV-Anlagen bei Bund, Kantonen und Privatwirtschaft ausgetauscht. Für rund 130 Millionen Franken sollte im Monbijouquartier neu gebaut werden.
Mit 200 bis 400 Millionen Franken veranschlagt war das Projekt «Datenkommunikation» in der Bundesverwaltung. Im Mai 1990 berichtete Computerworld von Garins Vor­haben, innerhalb von drei Jahren alle analogen Hauszentralen durch digitale ISDN-Anlagen ersetzen zu wollen. So wollte das BfI dem «Wirrwarr in der Bundesverwaltung» Herr werden. «Durch gezielte Koordination soll künftig verhindert werden, dass Ämter in der Informatik zu rasch vorwärtsmachen, gleichsam Brücken ohne Fundament bauen», sagte der Amtsvorsteher. Wie ein Dienstleister wollte Garin den Ämtern jeweils Projektleiter zur Verfügung stellen, die auf das Einhalten von Standards und Normen achten sollten.

EDV-Hunger der Behörden

Die neuen Projektleiter sollten den Heisshunger der Ämter und Departemente nach EDV vorerst nicht stillen können. Die für 1990 veranschlagten Ausgaben von 312 Millionen Franken waren Ende Oktober aufgezehrt. Ein Nachtrags­kredit in Höhe von 11,2 Millionen Franken wurde beantragt.Damit wollte unter anderem das Bundesamt für Aussenwirtschaft seine Computer für die Datenverarbeitung zum Zweiten Golfkrieg aufrüsten. Das Bundesamt für Statistik plante die Beschaffung zusätzlicher Computer für die jährliche Volkszählung. Und die Bundesanwaltschaft sowie die Bundespolizei suchten computerisierte Hilfe bei der Bewältigung des Fichenskandals. Wobei die Entwicklung eines Programms zur Schwärzung der Informantennamen schon während des Jahres ergebnislos abgebrochen werden musste. Die hängigen rund 350'000 Gesuche um Ficheneinsicht mussten weiterhin manuell geschwärzt werden.

«Fichen»-Skandal im Videotex

Während die Bundesinformatik beim Abarbeiten der fragwürdigen Fichen von Frau und Herrn Schweizer zu helfen suchte, sammelte ein Videotex-Anbieter seine ganz eigenen Fichen. «Mediatex speichert Teilnehmerdaten in Verbindung mit dem Pseudonamen», zitierte Computerworld die Schlagzeile der «Videotex-Zeitung». Das Blatt hatte aufgedeckt, dass der Schwyzer Anbieter die Kundendaten parallel zur PTT sammelte. Via PTT konnten die Videotex-Lieferanten im Falle säumiger Zahler die Teilnehmerdaten anfordern. Mit den eigenen Kundenfichen wollte Mediatex offenbar auf Nummer sicher gehen. «Weil gewisse Teilnehmeranschlüsse Rechnungen nicht bezahlen und wir wissen wollen, wer unsere Kunden sind», begründete Mitgründer Rudolf Neff seine Praxis. Den Verdacht, dass Teilnehmer­daten womöglich gespeichert werden, um im Adress­handel beispielsweise mit Erotikversandhäusern ein Zubrot zuverdienen, kommentierte Neff mit: «So ein Gugus.»
Der Videotex-Anbieter Mediatex führte für seine «rosaroten Dienste» Fichen der Nutzer
Quelle: TIB/Computerworld
Der Mediatex-Dialogdienst «Beiz» habe mit Erotik und Sex ohnehin nichts zu tun, beschwichtigte Neff. Es gehe vielmehr um «Lebensfreude, Spiele und Spass». Anstelle von Erotikhändlern käme als Abnehmer der Adressen eher der Spielehersteller Ravensburger infrage.



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