Schwierige Beziehung 10.11.2009, 09:01 Uhr

ERP-Systeme und ihre Anwender

Die Gesellschaft zur Prüfung von Software hat zehn ERP-Systeme der Spitzengruppe auf Herz und Nieren getestet. Das Ergebnis: Schwere funktionale Defizite gibt es kaum noch, die Anwender entscheiden oft nach ganz anderen Kriterien.
ERP-Systeme sind in die Jahre gekommen. Der Strahlenkranz der 1990er-Jahre ist verblasst, der Run auf die einstmals technische und betriebliche Innovation verebbt. Die mit viel Aufwand und Geld eingeführten Systeme fristen heute ein eher kümmerliches Dasein als graue Büromaus. Zu Unrecht, denn ERP-Systeme können oft viel mehr als ihre Benutzer: Sie sind zuverlässig und flexibel. Und sie arbeiten - anders als viele Anwender - systematisch.

Wie nah die ERP-Systeme an den heutigen Anforderungen eines Unternehmens wirklich sind und welche Defizite es zwischen dem Stand der Anwender und dem Stand der Technik gibt, ermittelt die Gesellschaft zur Prüfung von Software alle drei Jahre in einem Vergleichstest. Im aktuellen Test mussten die zehn ERP-Systeme in einem realistischen Szenario ausgewählte Geschäftsprozesse eines (fiktiven) international operierenden Maschinen- und Anlagenbauers durchlaufen. Bewertet wurden die Ergebnisse von rund 100 Funktionen, die Flexibilität der Systeme und die Benutzerfreundlichkeit (mehr zum Testverfahren auf S. 14).
Alles, was Anwender heute von einem ERP-System erwarten, war im Testszenario enthalten. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen fasst dieser Beitrag zusammen.

Härtetest: Dynamische Prozesse

Wenn Anwender heute über ein (neues) ERP-System nachdenken, steht an oberster Stelle ihrer Wunschliste «Flexibilität». Die Systeme sollen sich dynamisch an die Prozesse der Unternehmen anpassen - auch und vor allem an Veränderungen, zum Beispiel spontane «Chef-Entscheidungen». Weil das bei einem ERP-System nicht ganz so einfach ist wie bei einer Excel-Tabelle, verlassen viele Anwender das zentrale System und arbeiten zweigleisig: Mit eigenen Tabellen oder selbst gestrickten Programmen (sehr beliebt: Access-Datenbanken) verwirklichen sie ihre Vorstellungen, weitab von den Daten und Programmen im ERP-System.
Im Test wurde die von den Anwendern geforderte Flexibilität - die sich in der Praxis als Änderung des geplanten Ablaufs zeigt - in mehreren Prozessen intensiv getestet. Die kniffligsten Punkte sind Änderungen an der Konstruktion (im Testszenario an der Maschine), die dokumentiert und allen Beteiligten mitgeteilt werden mussten. Im zweiten Schritt haben wir den Fertigungsablauf nach Freigabe des Fertigungsauftrags geändert: Durch Verlagerung eines Arbeitsgangs in eine «verlängerte Werkbank» (Zulieferant), was Auswirkungen auf die Steuerung der Produktion und die Nachkalkulation hatte.
Das Ergebnis: Fast alle getesteten ERP-Systeme kommen mit der dynamischen Anpassung an die geänderten Geschäftsprozesse sehr gut zurecht. Bei einigen gab es gewisse Einschränkungen, die jedoch das gesteckte Ziel, die Entwicklung, Herstellung und Lieferung einer Maschine, nicht gefährdet haben.
Entscheidend dabei war, dass die Systematik des ERP-Systems, das ständig alle Ressourcen (Arbeitskräfte, Material und Finanzen) plant und überwacht, trotz der spontanen Änderungen an keiner Stelle verlassen werden musste. Zur Nachkalkulation am Ende des Tests waren alle Daten über Aufwand und Erlöse in der Datenbank verfügbar. Spätestens hier zeigen integrierte ERP-Systeme, die alle Bewegungen im Waren- und Wertestrom eines Unternehmens in Echtzeit erfassen, ihren grossen Vorteil gegenüber den Insellösungen.

Mittelstand: Optimierungspotenzial

In der Praxis mittelständischer Unternehmen ist die konsequente Nutzung eines ERP-Systems eher selten anzutreffen. Der Grund: Einerseits ist der Einfluss einzelner Abteilungen auf die Geschäftsprozesse des Unternehmens zu gross, andererseits ist das Wissen über die Systematik und Steuerung eines ERP-Systems zu gering, um eine durchgängige Lösung einzuführen. Häufig wissen die Verantwortlichen zu wenig über die Parametrisierbarkeit ihres ERP-Systems und setzen stattdessen individuelle Änderungen oder separate Lösungen durch, sehr zum Nachteil der Unternehmen.
Die unmittelbare Folge sind Doppel- und Mehrfacharbeiten, in jedem Fall aber Informationsdefizite und - daraus resultierend - Reibungsverluste. Diese treten immer dann auf, wenn über denselben Geschäfts-vorfall zwei unterschiedliche Ergebnisse vorliegen, eines aus dem zentralen System, eines aus der individuellen Anwendung, sprich: einer manuell erstellten Excel-Tabelle.
Nicht selten werden von den Anwendern auch vermeintliche Unzulänglichkeiten und mangelnde Flexibilität des ERP-Systems vorgeschoben, um eigene Aufzeichnungen zu rechtfertigen. Gleichzeitig vernachlässigen die Benutzer das zentrale System und die Aktualisierung der Daten. Das Ergebnis: Das Vertrauen in das System schwindet immer mehr. Die Folgen sind fatal. Die ursprüngliche Zielsetzung, durch Planung und Kontrolle Verluste zu vermeiden, verkehrt sich ins Gegenteil: Die Verluste steigen.
Dass ERP-Systeme heute den Anforderungen der Anwender viel näher kommen, als diese selbst vermuten, hat der Vergleichstest deutlich gezeigt.

ERP-Systeme: Testergebnisse

Nach dem Härtetest stand eines fest: Die zehn Spitzen-ERP-Systeme sind funktional nahezu gleichwertig, sie unterscheiden sich nur punktuell. Alle Lösungen zeigten über die gesamte Prozesskette der Wertschöpfung einen sehr hohen technischen Stand. Und genau wie im Hochleistungssport lagen auch bei diesem Vergleich die Ergebnisse sehr nahe beieinander. Gegenüber dem letzten ERP-Contest aus dem Jahr 2006 liegt der Standard, also das, was die Produkte ohne individuelle Erweiterung bieten, erkennbar höher. Die Hersteller haben deutlich nachgelegt.
Dieses Ergebnis legt den Schluss nahe, dass die Schwerpunkte bei der Auswahl und Beurteilung eines ERP-Systems neu gesetzt werden müssen: Nicht mehr der Funktionsumfang der Systeme steht im Vordergrund, sondern deren Eigenschaften und Fähigkeiten, die Geschäftsprozesse der Anwender möglichst präzise und realitätskonform abzubilden. Denn nur daraus kann ein Unternehmen Mehrwert ziehen. Da sich die Wirtschaft und die Geschäftsprozesse permanent ändern, steigen auch die Anforderungen: Die Planungszeiträume werden kürzer, Reaktionsfähigkeit und Flexibilität müssen
zunehmen.
Natürlich spielen die technischen Möglichkeiten der ERP-Systeme für eine schnelle Anpassung der Abläufe eine grosse Rolle. Heute möchten das die Anwender am liebsten gleich direkt über die Oberfläche realisieren, ohne in das System selbst eingreifen zu müssen. Einige Systemanbieter haben gezeigt, dass und wie das geht.
Deutlich sichtbar wurde bei unserem Contest aber auch, wie wichtig die exakte Definition der Prozesse ist. Alle teilnehmenden ERP-Anbieter hatten dieselben Vorgaben in Form von Prozessbeschreibungen, Stamm- und Bewegungsdaten. Und alle Systeme lieferten daher auch dieselben Ergebnisse bei Aufträgen,
Bestellungen, Lieferungen und Buchungen.

Fazit: Die Sympathie entscheidet

Sämtliche ERP-Systeme lieferten gute bis sehr gute Ergebnisse. Funktional-technologisch unterscheiden sich die getesteten ERP-Systeme nur punktuell, Stärken und Schwächen halten sich ungefähr die Waage. Unterschiedlich waren nur die Wege, auf denen sie zu den Ergebnissen kamen. Entscheidend ist daher vielmehr die emotionale Erwartungshaltung und eingespielte, vertraute Verhaltensmuster, die Anwender der Software entgegenbringen. Eines unserer Ergebnisse: Arbeiten Anwender gerne mit einem ERP-System, sind sie eher bereit, über die eine oder andere kleine Schwäche hinweg zu sehen. Das vermeintlich überlegenere, aber unsympathische Konkurrenzsystem mit leichtem Punktvorteil in der Bewertung wird in Konsequenz nicht so effizient genutzt.
Funktionalität und Anwenderurteil

ERP-Systeme im Praxistest

von Software (GPS) hat zehn bekannte Programme unter die Lupe genommen. Zum Testfeld gehörten drei Kategorien von ERP-Software. Systeme für den Anlagen-, Geräte- und Maschinenbau (AP Plus, proAlpha, PSIpenta), Multi-Site-Systeme für Unternehmen mit verteilten Standorten und internationalen Anforderungen (IFS Applications, infor ERP LN, Microsoft Dynamics AX, SAP Business All-in-One) und schliesslich Systeme mit unterschiedlichen Architekturen und Lösungsansätzen (Semiramis, ams.erp, AvERP, SAP Business All-in-One).

Die Teststrecke

Die Teststrecke gliederte sich in vier Teilabschnitte: Technologie, Funktionsumfang, Flexibilität und Benutzerfreundlichkeit.

Der Flexibilitätstest soll zeigen, in welchem Grad sich das System an individuelle Anforderungen anpassen lässt, ohne dass die Kernprogramme verändert werden müssen. Er umfasste unter anderem Änderungen der Menüstruktur, Masken und Dialogfelder, Einfügen neuer Felder und eine gewisse Komfortstufe, etwa die automatische Anpassung des geänderten Layouts, um kahle Stellen auf dem Bildschirm zu vermeiden.

Der Testparcours Technologie enthielt unter anderem Programmiertechniken, die Architektur und die Eignung der Lösung für die globale Anwendung.

Arbeitstag nachgebildet

Das Testszenario war breit gefächert und dem Arbeitsalltag in einem Unternehmen nachgebildet - angefangen mit einer Kampagne zur Kundengewinnung über Angebotsbearbeitung und Kalkulation bis zur Verfügbarkeits- und Terminprüfung. Als besondere Herausforderung wurde bei der Produktion des Musterprodukts der Fertigungsauftrag nach der Freigabe noch geändert: Statt intern sollte eine Baugruppe extern auf der verlängerten Werkbank gefertigt werden. Bei der abschliessenden Auswertung und Analyse der gebuchten Umsätze, Einkäufe und Wertschöpfungen in der Produktion kamen neben der Finanzbuchhaltung auch die Kostenrechnung und die Auswertungs-Tools zum Einsatz.

Natürlich hatten alle Anbieter dieselben Vorgaben an Stamm- und Bewegungsdaten (Kunden, Lieferanten, Produkte mit Stücklisten und Arbeitsplänen). Nur so sind die Ergebnisse vergleichbar.

Die Ergebnisse
Die Bewertungsskala umfasste je nach Testparcours drei bzw. vier Notenstufen. Die getesteten ERP-Systeme unterschieden sich im Grunde nur punktuell. Unter den Spezialsystemen für den Anlagen-, Geräte- und Maschinenbau offenbarte PSIpenta leichte Schwächen im Funktionalitätstest. Überraschenderweise schnitt das funktional stärkste System proAlpha beim User-Rating am schlechtesten ab. Die Testergebnisse der vier Multi-Site-Systeme liegen extrem nah beieinander. Die detaillierten Ergebnisse finden Sie im GPS-Bericht «ERP-Systeme 2009».
User-Rating

GPS hat im Laufe mehrerer Testrunden auch ERP-Anwender gebeten, ein User-Rating abzugeben. Unsere Schwesterzeitschrift Computerwoche hat den Test begleitet. Den Beitrag finden Sie auf www.computerworld.ch , Webcode: 49588

Der vollständige Bericht «ERP-Systeme 2009: Stand der Technik» ist für EUR 60.- erhältlich. Kontakt: GPS Gesellschaft zur Prüfung von Software mbH, Ulm
www.gps-ulm.de
Werner Schmid



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