Computerworld vor 30 Jahren
24.07.2020, 13:07 Uhr
Digitalisierung der Vorzeigebetriebe
Grössen der Schweizer Wirtschaft liessen sich 1990 von Computern beim Automatisieren und Optimieren der Geschäfte helfen. Computerworld nannte es damals allerdings noch nicht «Digitalisierung».
Mit der modularen «Samis»-Software wollte Sulzer Informatik die Fertigung rationalisieren
(Quelle: Computerworld)
Schweizer Banken und die öffentlichen Verwaltungen waren grosse Investoren in Computertechnologie sowie Informatik vor 30 Jahren. Die Rechnersysteme vereinfachten bei beiden Kundengruppen die Arbeit. So mussten weniger Formulare ausgefüllt und anschliessend wieder abgetippt werden.
Die Tipparbeit wurde im letzten Jahrhundert hauptsächlich auf der Schreibmaschine erledigt. Ein Synonym ist die «Hermes». Das Modell des Feinmechanikspezialisten Paillard-Bolex aus Yverdon machte die Schweiz zum weltweit drittgrössten Schreibmaschinen-Hersteller. In den 1980ern kamen die Computer, denen Paillard-Bolex wenig entgegenzusetzen hatte. 1989 wurde die letzte Hermes gefertigt, anschliessend konzentrierten sich die Waadtländer auf Drucker. Im Februar 1990 meldete Computerworld, dass der zwischenzeitliche Mutterkonzern Olivetti sich von der Marke «Hermes» getrennt habe. Sie sei übernommen worden vom «Financier und Industriellen» Werner Rey sowie der Waadtländer Kantonalbank als Juniorpartner. Damals galt Rey noch als Schweizer Vorzeigefinancier.
Hermes Precisa International war für Rey nur eine von vielen Beteiligungen. Alles begann mit dem Schuhfabrikanten Bally 1976. Hier konnte er noch einen Gewinn von 30 Millionen Franken erzielen. Dann wuchs seine Omni Holding unaufhaltsam: Unter anderem die Waadtländer Zeitarbeitsfirma Adia Interim, der deutsche Mischkonzern Harpener, der Zürcher Verlag Jean Frey, die Metallfabrik Selve in Thun und eine Beteiligung am Industriekonzern Sulzer zählten zum Portfolio. 1991 kam das Aus. Rey flüchtete auf die Bahamas und wurde erst sieben Jahre später wegen Betrugs verurteilt.
Das alles konnte Computerworld 1990 noch nicht wissen. Auch nicht, dass der Name «Hermes» in den 1990ern vollkommen verschwinden sollte. Hingegen prosperiert der zweite Markenname Precisa: Das Unternehmen ist in Dietikon als Hersteller von Präzisionswaagen erfolgreich.
Die international renommierte Hotelfachschule in Lausanne verabschiedete sich 1990 von ihren Hermes. Anstatt an Schreibmaschinen wurden die Buchhaltung und andere Planungsaufgaben an Computern unterrichtet. Für die Übungen ausserhalb der Schulzimmer bekamen die zukünftigen Hoteliers portable Rechner des bisherigen Hermes-Mutterkonzerns Olivetti. Die Laptops der Designermarke waren als Unterrichtsmaterial im Schulgeld enthalten, schrieb Computerworld.
Industriekonglomerat Sulzer
Eine der Rey-Beteiligungen war 1990 auch der Winterthurer Industriekonzern Sulzer. Das Unternehmen war zu dieser Zeit im Wandel begriffen, da es seit Jahren Verluste schrieb. Unter anderem wurde die Winterthurer Maschinenfabrik geschlossen und stattdessen die Medizinaltechnik durch die Übernahme der US-amerikanischen Intermedics-Gruppe gestärkt. In den nächsten Jahren folgten weitere Verkäufe und Übernahmen.
Der Konzern bestand 1990 aus mehr als 20 Geschäftsbereichen, die alle einen eigenen IT-Verantwortlichen hatten. Die ausgegründete Sulzer Informatik lieferte für jede Sparte die erforderlichen Computerlösungen. Anfang 1990 stellten der Informatikleiter Hans Peter Koch und seine Kollegen ein «ganzheitliches EDV-System» für den Konzern vor: «Samis», kurz für «Sulzer Auftrags-Management-Informationssystem», war ein modulares Software-Paket aus eigener Entwicklung. Die Grundlage war eine relationale Datenbank, in der ein kompletter Produktionsprozess abgebildet war. Sprich: die Angebotsabgabe, die Erstellung der Produktionsdaten in der Konstruktion, die Materialdisposition inklusive Einkauf, die eigentliche Fertigung sowie die Lagerbewirtschaftung. Wäre es nach Koch gegangen, hätten alle Firmenbereiche von Sulzer sich ihr «Samis» passend konfigurieren können. Und auch der damalige Sulzer-Geschäftsführer Fritz Fahrni mass dem System eine hohe Bedeutung bei: «Die Entwicklungen in der Informatik sind für den Sulzer-Konzern in den nächsten fünf bis zehn Jahren von entscheidender Bedeutung.»
Die IT-Leiter der Unternehmensbereiche von Sulzer waren nicht ganz so überzeugt vom Heilsbringer Informatik. An einer firmeninternen Tagung Anfang Oktober 1990 wehrten sie sich dann auch gegen ein konzernweit einheitliches Informatikkonzept. Einzelne Bereiche scheuten «kostspielige» Investitionen in die «mit Risiken belasteten Projekte», berichtete Computerworld. Andere Sparten würden eine «aktivere Rolle» des Konzerns – wie beispielsweise die «Samis»-Entwicklung – durchaus begrüssen. IT-Chef Koch beteuerte nach den Voten, die Sulzer Informatik wolle den einzelnen Produktbereichen des Konzerns «nichts vorschreiben». Zuerst müssten die zum Teil sehr unterschiedlichen Bedürfnisse abgeklärt werden. Allgemeine Richtlinien werde man dann «später» formulieren. Später, 1998, veräusserte Sulzer eine Mehrheitsbeteiligung an der Informatiksparte an IBM Schweiz.
Papierlose Fracht bei Swissair
Die Fluggesellschaft Swissair war 1990 ebenfalls in der Software-Entwicklung tätig. Die Informatiker hatten den Auftrag, ein global einsetzbares Kommunikationssystem für die Luftfracht zu entwickeln. Gleichzeitig sollte das proprietäre «Cardio» (Cargo Reservation Information and Handling System) der Alitalia, das seit 1980 im Einsatz stand, abgelöst werden. Im Rahmen eines IATA-Pilotprojekts (International Air Transport Association) wurde gemeinsam mit Schweizer Logistik- und Speditionsunternehmen das «Cargo Community System Switzerland» (CCS-CH) entwickelt. Es war einer von zwei Piloten weltweit. In Irland lief parallel die Entwicklung von «Icarus», hinter dem Air Lingus, British Airways, Lufthansa und Ryanair standen.
Die IATA und Swissair hatten das Ziel, der «schwerfälligen und extrem teuren» internationalen Luftfrachtbürokratie auf den Leib zu rücken. Aufgrund der Regularien würde Frachtgut während 85 Prozent der Transportzeit «irgendwo herumstehen», zitierte Computerworld eine Studie der IATA. Und offenbarte weitere Details: Der Papierkram und die damit verbundene Warterei kostete im Durchschnitt 4 Prozent des eigentlichen Wertes der Sendung. Eine Verminderung dieser Kosten im Warenaustausch zwischen Europa und den USA um nur 1 Prozent würde Einsparungen von jährlich 100 Milliarden US-Dollar ermöglichen. Ausserdem seien die Formulare sehr fehleranfällig. So könne jeder Luftfrachtspediteur ein Müsterchen erzählen von Maschinenteilen, die in Bombay statt in Rom gelandet seien. Der Grund war meist einfach: Die Luftfahrtabkürzungen für Bombay und Rom lauteten «BOM» und «ROM». Dies liesse sich beim x-ten Durchschlag eines Frachtbriefes nicht mehr sicher unterscheiden.
Mit CCS-CH sollte die nur einmalige Erfassung der Frachtdaten ermöglicht werden. Sie sollten anschliessend von allen Beteiligten jederzeit und online in Echtzeit abgerufen werden können. Damit würden die mühsamen Koordinierungsbemühungen per Telefon, Telex oder Telefax zwischen dem Auftraggeber, dem Zoll, der Fluggesellschaft, dem Spediteur etc. überflüssig. Vielmehr «weiss» CCS-CH jederzeit, wo sich die Fracht aktuell befindet und was mit ihr gerade geschieht, frohlockte Computerworld. Die Technologie für diese Meisterleistung hatte Swissair «sorgfältig evaluiert», wie Computerworld schrieb: Zwei Tandem-Minirechner vom Typ «NonStop CLX» plus zugehörige «NonStop SQL»-Datenbanken wurden beschafft. Die Installation der Infrastruktur und die Software-Entwicklung kostete Swissair am Ende rund 5 Millionen Franken.
Zum Start des Pilotbetriebs, der auf Oktober 1991 geplant war, und ein halbes Jahr später tatsächlich lanciert wurde, beteiligten sich noch British Airways, KLM und Singapur Airlines an dem Projekt. Um im Regelbetrieb die Neutralität der Dienstleitungen gewährleisten zu können, hatte Swissair Ende 1991 die Firma Cargo Switch gegründet. Ab September 1992 ging CCS-CH ans Netz.
Cargo Switch und die Nachfolgegesellschaften BCE Emergis und Descartes Systems sind mittlerweile Geschichte. Die Protokolle des «Cargo Community System Switzerland» haben die Unternehmen aber überlebt. Erst 2012 wurde «e-freight» in Auftrag gegeben mit dem Ziel, eine flughafenübergreifende und landesweite Datenaustauschplattform für die Luftfracht zu entwickeln. Das Projekt wurde vom Industrieverband IG Air Cargo Switzerland mit finanzieller Unterstützung des Bundesamts für Zivilluftfahrt BAZL lanciert. Zum Start 2017 waren unter anderem der Luftfrachtspediteur Lamprecht Transport und das IT-Unternehmen Sisa Studio Informatica an Bord.