Auto als rollendes Rechenzentrum

Automobilhersteller als Software-Konzerne

Immer mehr Automobilhersteller legen den Fokus daher auf die Software und arbeiten an eigenen Betriebssystemen für ihre Modelle. Müssen wir Fahrzeuge mittlerweile also von der Software her denken? Oder anders gefragt: Werden Automobilhersteller und ihre Zulieferer zunehmend zu IT-Konzernen? «Ja, wir denken Fahrzeuge von der Software her», sagt Jochen Kirschbaum. So habe man zum Beispiel bei BMW die Elektrik-/Elektronik- und die Software-Entwicklung über die letzten beiden Jahrzehnte sukzessive ausgebaut.
Auch Deutschlands grösster Automobilhersteller Volkswagen richtet sich für die Digitalisierung neu aus. Die sogenannte Technische Entwicklung (TE), die mit 11.500 Mitarbeitern grösste Entwicklungseinheit des Konzerns, soll zum Schrittmacher der Transformation der Marke Volkswagen zum Tech-Unternehmen werden. «Im Mittelpunkt steht dabei die vollständige Neugestaltung des Entwicklungsprozesses: fachbereichsübergreifend, mit konsequenter Ausrichtung auf Software, Kundenanforderungen und die elektrische Zukunftsplattform SSP, system- und funktions- statt bauteilorientiert», so Volkswagen. Dadurch sollen die Entwicklungszeit um rund ein Viertel verkürzt, das Tempo für die Bereitstellung neuer Software erhöht und auch die Fertigungsprozesse in der Produktion deutlich beschleunigt werden. Die Technische Entwicklung werde damit zu einem wichtigen Eckpfeiler für die Transformation der Entwicklung im Konzern.
Over-the-air-Updates: Moderne VWs holen sich die neuesten Updates und sogar neue Funktionen über die mobile Datenverbindung an Bord.
Quelle: Volkswagen
«Für die Gegenwart und Zukunft muss das Fahrzeug als ein System im gesamten Ökosystem des Kunden betrachtet werden und nahtlos mit sämtlichen Systemen auch ausserhalb des Fahrzeugs kommunizieren», erklärt Volkswagen. Während in den 1990er-Jahren Fahrzeuge in erster Linie bauteilorientiert entwickelt wurden, spiele seit Anfang der 2000er-Jahre die Vernetzung eine immer grössere Rolle. Der Entwicklungsprozess werde daher künftig auf Funktionen und Systeme ausgerichtet statt auf Bauteile. Man spricht vom sogenannten Systems-Engineering, das in der Industrie insbesondere bei komplexen Entwicklungsprojekten wie im Flugzeugbau angewendet wird. «Dafür klären die Experten aus verschiedenen Fachbereichen frühzeitig Anforderungen und wechselseitige Abhängigkeiten und stellen sicher, dass Systeme und Bauteile passend konfiguriert und konstruiert werden, damit all diese Funktionen nahtlos ineinandergreifen können.»
“Die Mobilität der Zukunft wird vielfältig, reich an Innovationen und elektrisch.„
Magnus Östberg
Chief Software Officer bei der Mercedes-Benz Group
Die steigende Bedeutung der IT in Fahrzeugen zeigt die folgende Entwicklung: In den heutigen Fahrzeuggenerationen können mehr als 150 Steuermodule – sogenannte Electronic Control Units (ECUs) – vorhanden sein, die alle für einen bestimmten Anwendungsfall konzipiert sind, zum Beispiel für die ABS-Bremsfunktion, das Aus­lösen von Airbags oder die Motorsteuerung.
«Der Trend geht nun dahin, weniger, aber leistungsstärkere ECUs zu nutzen, die eine Vielzahl von Funktionen und gleichzeitig alle Anforderungen an die funktionale Sicherheit erfüllen können», erklärt Harald Ruckriegel von Red Hat. Die Entwicklung dieser integrierten, funktional umfangreichen Steuergeräte werde massgeblich durch Software-definierte Lösungsansätze getrieben. Fahrzeughersteller würden künfig also nicht mehr einfach ihre traditionellen Zulieferer bitten, ein motorisiertes Sitzsystem mit eigenem Steuergerät zu entwickeln. Stattdessen würden sie die Software-Entwicklung koordinieren müssen, um ein gemeinsames und standardisiertes Konzept für bordeigene Plattformen zu etablieren.
Doch Software ist nicht alles. Nach Magnus Östbergs Überzeugung ist es für Automobilhersteller nach wie vor von grosser Bedeutung, Kompetenz in der Fahrwerktechnik, dem Antriebsstrang, dem Luftwiderstand oder der Crash-Sicherheit zu haben, «aber natürlich muss man schon seit Längerem in der Software genauso kompetent und erfahren sein, um dieses Potenzial an Kundenerlebnissen entwickeln und anbieten zu können.»



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