Neurowissenschaft
19.02.2019, 14:41 Uhr
ETH-Computermodell sagt Entscheidungen voraus
ETH-Forscher um Rafael Polanía entwickelten ein Computermodell, das gewisse Entscheidungen eines Menschen voraussagen kann. Damit können die Wissenschaftler beispielsweise Prognosen erstellen, welche Nahrungsmittel jemand in einem Supermarkt kaufen wird.
Das Modell trifft aufgrund von Bewertungsverteilungen und Effizienzprinzipien zutreffende Prognosen darüber, für welches Lebensmittel sich eine Versuchsperson entscheiden wird.
(Quelle: Martin Fels/Pixelio)
Beim Einkaufen im Supermarkt hat man manchmal die Qual der Wahl. So viele verschiedene Lebensmittel, die da im Angebot sind. Und trotzdem verbringen wir nicht Stunden damit, diejenigen auszuwählen, die uns schmecken. Die Entscheidungen für oder wider gewisse Produkte fällen wir meist schnell und ohne darüber nachzudenken.
Das hat weniger mit unserer Entscheidungsfreude zu tun, als mit einem äusserst effizienten Informationsverarbeitungsprozess im Gehirn. Ein Dreierteam von Forschern der ETH Zürich, der Universität Zürich und der Columbia University hat nun diesen Prozess in einem neuen Computermodell nachgestellt. Damit können die Wissenschaftler mit hoher Treffsicherheit voraussagen, für welche Lebensmittel beispielsweise sich eine Person entscheidet.
«Wir können mit diesem Modell den Menschen quasi in den Kopf schauen und sein Entscheidungsverhalten vorhersagen», erklärt Rafael Polanía, Professor für Entscheidungs-Neurowissenschaft der ETH Zürich. Das Modell wurde in der Fachzeitschrift «Nature Neuroscience» vorgestellt.
Bewertungsraster im Hirn abgelegt
Grundlage des abgebildeten Prozesses respektive des Modells ist ein subjektives, im Gehirn abgelegtes Bewertungsraster. In diesem Raster sind aufgrund früherer Erfahrungen und Erinnerungen Bewertungen für jedes Lebensmittel hinterlegt, ähnlich wie bei grossen Online-Händlern, wo Nutzerinnen und Käufer Produkte mit Sternen bewertet haben.
Dieses hirninterne Bewertungssystem ist kontextabhängig. Geht man zum Beispiel Lebensmittel einkaufen, richtet sich das Hirn aus auf den jeweiligen Supermarkt, in dem man einkauft. Es ist zudem flexibel, speichert also auch neue Erfahrungen.
Ein solch effizientes Bewertungssystem entlastet das Hirn, dessen Verarbeitungskapazität – die Zahl der zur Verfügung stehenden Neuronen ist endlich - begrenzt ist. Die Effizienz ist auch deshalb wichtig, da das Hirn über seine in die Aussenwelt gerichteten Sensoren wie Augen, Ohren, Nase oder Zunge laufend mehr Informationen aufnimmt, als es verarbeiten kann.
Rückgriff auf gespeicherte Vorlieben
Bei Entscheidungen, wie sie der moderne Mensch im Supermarkt trifft, greift das Gehirn deshalb auf das kontextspezifische Bewertungsraster zurück. Einfacher gesagt: Kaufe ich in einem bestimmten Laden (Kontext) Orangen, dann tue ich das, weil ich bereits früher in diesem Geschäft gute Erfahrungen mit Orangen gemacht habe. Auf meiner hirninternen Bewertungsplattform gebe ich den Südfrüchten 95 von 100 Punkten. Grapefruits mag ich weniger, weil sie mir zu sauer waren und sie nur 10 Punkte erhielten.
Solche Einzelbewertungen ergeben eine Gesamtverteilung der Vorlieben. Diese lässt sich mathematisch beschreiben und auswerten. Und genau hier setzt das Modell an. Es trifft aufgrund solcher Bewertungsverteilungen und Effizienzprinzipien zutreffende Prognosen darüber, für welches Lebensmittel sich eine Versuchsperson entscheiden wird.
Erstes komplettes Modell
Bislang gelang es Neurowissenschaftlern oder Ökonomen nur mit Mühe, mathematische Modelle zu erarbeiten, welche solche Entscheidungsprozesse vollständiger abbilden und die limitierte Hirnkapazität einbeziehen. «Das neue Modell sagt in den allermeisten Fällen richtig voraus, für welches Lebensmittel sich eine Versuchsperson entscheiden wird», sagt Polanía, «und darüber hinaus auch, wie oft jemand seine Meinung ändert.»
Getetest und kalibiriert haben die Forschenden das Modell anhand von Bewertungen, die von Probandinnen und Probanden stammen. Diese mussten 60 Produkte des alltäglichen Bedarfs aus einem Schweizer Supermarkt bewerten. Die Produkte wurden ihnen präsentiert mit der Frage, wie sehr sie es nach dem Experiment gerne essen würden. Danach wurde die Befragung wiederholt, um auch die Variabilität von Hirnsignalen bei der Bewertungsbildung abzudecken.
In einem zweiten Experiment erhielten die Versuchspersonen zwei Produkte gleichzeitig vorgesetzt. Sie mussten sich für eines entscheiden. Der Computer, bereits gefüttert mit den Daten des ersten Experiments, konnte schliesslich auch in diesem Fall die Entscheidung der Probandinnen und Probanden vorwegnehmen.
Modell auf Gesundheitsentscheidungen anwenden
«Anwenden kann man ein solches Modell bei allen Entscheidungen, die auf subjektiven Einschätzungen beruhen», sagt Polanía. Marketingfachleute könnten beispielsweise besser vorhersehen, welche Produkte bei den Leuten Anklang fänden. Ökonomen könnten es für eine bessere Preisgestaltung nutzen.
Man könne das Modell auch dazu verwenden, um gewisse Aspekte der Gesundheit besser zu verstehen. «Auch diese Entscheide beruhen auf subjektiven Bewertungen, etwa für wie gesund jemand ein bestimmtes Produkt hält», erklärt der Forscher weiter. Er ist derzeit daran, dieses Kriterium in das Modell zu integrieren. Damit will er herausfinden, wie Personen Entscheidungen in Bezug auf die Ernährung fällen, was wiederum für Essstörungen wie Magersucht oder Fettleibigkeit relevant ist. Polanía arbeitet dabei mit Kollegen zusammen, die das Thema Selbstkontrolle erforschen.
Hinweis: Der Bericht ist zunächst bei «ETH-News» erschienen.