Der Algorithmus, mein Chauffeur

Stadtmobilität neu denken

Vor seinem Wechsel an die ETH war Frazzoli zehn Jahre Professor am MIT in Boston. Von Beginn an arbeitete er an autonomen Systemen, anfänglich vor allem für Flugzeuge und Drohnen. «Das war zwar technisch meist ziemlich cool, doch trug es nicht wirklich zur Lösung von gesellschaftlichen Herausforderungen bei.» 2009 stellte er sich die Sinnfrage: «Das Hauptargument für die Forschung an selbstfahrenden Autos lautete damals immer: ‹weil sie den Verkehr sicherer machen›.»
Emilio Frazzoli ist ETH-Professor und NuTonomy-CTO
Quelle: NuTonomy
Diese Annahme stimme zumindest längerfristig, doch den viel grösseren, mittelfristigen Nutzen erkannte Frazzoli im Potenzial, die individuelle Mobilität von Stadtbewohnern komplett neu zu denken. «Das Ziel meiner Forschungsgruppe ist eine Mobilität mit den Annehmlichkeiten eines Privatautos, die so nachhaltig ist wie der öffentliche Verkehr.» Eine Art «Uber» also, nur ohne Fahrer und deshalb viel günstiger und breiter verfügbar. Dank Elektrifizierung und besserer Auslastung zudem bei deutlich geringerem Energieverbrauch und tieferen CO2-Emissionen. Private Autos sind nämlich durchschnittlich 5 Prozent der Zeit im Gebrauch. Die restlichen 95 Prozent stehen sie rum, in Parkhäusern, Garagen oder auf öffentlichem Grund. Das ist weder nachhaltig noch städtebaulich oder ressourcenökonomisch sinnvoll.
Frazzolis Start-up «NuTonomy», der Steuerungssoftware für autonome Fahrzeuge entwickelt, begann 2014 Tests mit selbstfahrenden Fahrzeugen in Singapur zu planen. Gleichzeitig publizierte der Professor einen Artikel, indem er für den 719 km2 grossen Stadtstaat berechnete, was der vollständige Ersatz von privaten mit geteilten, selbstfahrenden Fahrzeugen für das Verkehrsaufkommen bedeuten würde. Das Ergebnis: Mit rund 40 Prozent (350 000 anstatt 800 000 Fahrzeuge) könnten die Mobilitätsbedürfnisse der gesamten Bevölkerung des Stadtstaates befriedigt werden.
Ein Jahr später kündigte Premierminister Lee Hsien Loong die Vision einer «Car Lite Future» an, basierend auf selbstfahrenden Fahrzeugen, dem Ausbau des ÖV und des Langsamverkehrs. Mit einer Dichte von 7697 Menschen pro km2 (in der Schweiz: 203) ist der 5,5-Millionen-Stadtstaat wie keine andere Metropole auf einen effizienten Verkehr angewiesen. Die Nachfrage nach privaten Autos wird deshalb seit Jahren durch hohe Zölle und Kosten für Fahrbewilligungen von bis zu 70'000 Dollar stark reguliert. Auf einer zwei Hektaren grossen Teststrecke der Nanyang Technological University im Westen der Insel testen heute mehr als zehn Unternehmen ihre Systeme. Ab 2022 sollen drei Randgebiete der Stadt ausserhalb der Stosszeiten mit ersten selbstfahrenden Bussen bedient werden.

Autor(in) Samuel Schlaefli, ETH-News



Das könnte Sie auch interessieren