Computerworld vor 30 Jahren
01.06.2022, 05:39 Uhr
Schweizer EDV-Markt schrumpft erstmals
In Schweizer Büros und Amtsstuben standen 1992 zwar so viele PCs wie nie zuvor. Trotzdem waren die Ausgaben der Gesamtwirtschaft für EDV erstmals überhaupt rückläufig. Oder die Zahlen waren schlicht geschönt.
Aussagen über die Entwicklung des PC-Markts waren schon in früheren Zeiten schwierig
(Quelle: Magicpen/Pixelio)
Schenkten die Leser der Computerworld den Einschätzungen der Marktforschungsunternehmen Glauben, so konnten sie zu der Überzeugung gelangen, dass die Schweizer Wirtschaft schon Anfang der 1990er der Investitionen in EDV müde wurde. Die einheimischen Firmen und öffentlichen Verwaltungen gaben 1991 «nur» noch rund 4,3 Milliarden Franken für Hardware, Peripherie und kommerzielle Software aus. Das seien satte 19 Prozent weniger als im Vorjahr gewesen, hiess es im Bericht zur Studie «Informatikeinsatz in Schweizer Betrieben und Verwaltungen» der Universität Fribourg und des IHA Instituts für Marktanalysen. Den Rückgang führten die Marktforscher vor allem auf die Zurückhaltung bei den EDV-Investitionen und den Preiszerfall bei der Hardware zurück. Zudem sanken die Investitionen in Software massiv: «1990 betrugen die Ausgaben für extern beschaffte Software ca. 1,9 Milliarden, ein Jahr später lediglich noch 1,3 Milliarden Franken», erklärte Thomas Schaller von der Universität Fribourg.
Ein PC in jedem zweiten Betrieb
Den Marktforschern zufolge waren am 1. Januar 1992 insgesamt rund 675 000 Computer in der Schweiz im Einsatz. Damit hatte der Computerbestand innerhalb Jahresfrist um 95 000 Einheiten zugenommen, was einem Wachstum von 16 Prozent entsprach. Anders ausgedrückt, verfügte fast jeder zweite Betrieb über mindestens einen PC und/oder ein grösseres System. Der Anteil der Unternehmen, die EDV einsetzten, erhöhte sich von 41 auf 46 Prozent, wobei insbesondere Klein- und Kleinstbetriebe hohe Steigerungsraten aufwiesen.
Der Bestand an Personalcomputern nahm weiter massiv zu. Gegenüber dem Vorjahr steigerte sich die installierte Basis von 531 000 auf 623 000 Einheiten. Auch der Trend, die «dummen» Terminals durch Personalcomputer zu ersetzen, hielt weiterhin an. Zwar blieb die Zahl der Terminals mit ca. 450 000 auf dem Vorjahresstand, doch wurde der Rückgang an Bildschirmen durch den vermehrten Einsatz von X-Terminals – sprich reinen Eingabestationen – aufgefangen. «X-Terminals spielen eine immer wichtigere Rolle in sicherheitsempfindlichen Umgebungen, wo in verteilten Systemen und Netzwerken vom Arbeitsplatz auf unterschiedlichste Computertypen zugegriffen wird», führte Schaller aus.
Neben den über 600 000 PCs standen knapp 20 000 Workstations (im Vorjahr: 17 000) im Einsatz, davon waren 6500 Neuanschaffungen, so die Marktforscher. «Die neueste Workstation-Generation, die fast ausschliesslich unter Unix läuft, dringt dabei immer mehr in den Bereich Mehrplatzsysteme ein. Vor allem die RS/6000-Linie von IBM wird des Öfteren als kommerzielles Mehrplatzsystem genutzt», ergänzte Professor Ambros Lüthi, Projektleiter der Studie von der Universität Fribourg. Auf einer Workstation wurden damals im Durchschnitt zwei Anwendungen gefahren, auf einem Personalcomputer vier.
«Publizitätsangst» geht um
Mit dem Phänomen der erstmals rückläufigen Investitionen in die EDV befassten sich 1992 noch mehr Marktforschungsfirmen. Sie kamen teils zu anderen Ergebnissen, wie Computerworld berichtete. So wurde den 1,3 Milliarden Franken für extern beschaffte Software aus der IHA-Studie eine Summe von 1,6 Milliarden Franken gegenübergestellt. Das Marktforschungsunternehmen IDC Schweiz wollte diese Zahl aufgrund einer Anbieterbefragung gewonnen haben. «Da IHA von 4300 ausgewerteten Fragebögen auf 304 000 Schweizer Betriebe hochrechnet, kann es hier und da zu Diskrepanzen kommen», versuchte sich Frank Flügel von IDC Schweiz in einer Erklärung gegenüber Computerworld. Die Verantwortlichen der Anbieterbefragung gestanden denn allerdings auch ein, dass «die Zahlen im Bereich Investitionen in Standard-Software mit einiger Vorsicht zu geniessen sind und eine Abweichung von plus/minus 15 Prozent möglich ist». Der einfache Grund: In vielen Schweizer Betrieben herrsche eine grosse «Publizitätsangst» zu Investitionen und Kosten.
Zudem bezweifelten die Kritiker der IHA-Untersuchung, dass in einer Firma ein EDV-Leiter über Investitionen und Einsatzort jeder Computergerätschaft genau Bescheid wisse. Hinzu kam, dass immer weniger Unternehmen und EDV-Leiter auskunftsbereit waren, weil sie sich durch die vielen mündlichen und schriftlichen Befragungen genervt fühlten. «Das mache ich nicht mehr mit, weil ich keine Zeit habe, stundenlang Fragebögen auszufüllen oder am Telefon Fragen zu beantworten», meinte beispielsweise Jacqueline Fendt, EDV-Chefin beim Handelshaus Sieber Hegner, auf Anfrage von Computerworld. IHA-Experte Franz Kohler gestand, dass tatsächlich «immer mehr Überzeugungsarbeit» zu leisten sei.
Für diese zusätzlichen Bemühungen mussten sich auch die Marktforscher an die eigene Nase fassen. Denn vonseiten der Umfrageteilnehmer wurde Kritik auch an den Fragebögen laut. Karl Abril, Marktanalyst bei Siemens, erläuterte: «Neben falschen Fragestellungen ist die Art der Fragestellung in den Umfragebögen manchmal naiv. Einiges ist einfach nicht machbar.» Beispielsweise sei es schwierig zu sagen, welche Umsätze in den einzelnen Marktsegmenten erzielt wurden. Aber auch die befragten EDV-Verantwortlichen stöhnten: «Einige Fragen einer ETH-Studie über den Bedarf an Wirtschaftsinformatikern waren missverständlich formuliert», kritisierte Fendt von Sieber Hegner. Die Studienleitung bei IBM Schweiz erklärte auf Anfrage, dass man mit Fragebögen unterschiedliche Erfahrungen gemacht habe. Völlig daneben sei keine Studie, doch hätte die «Fragestellung manchmal geschickter» sein können, gestanden die Marktforscher.
Statistik-Tricks der Hersteller
Unklare Definitionen konnten – insbesondere bei Herstellerbefragungen – zu groben Fehlangaben führen. Denn die Unternehmen nutzten sie zu ihrem eigenen Vorteil. «Wenn man die Absatzzahlen aller Hersteller über PCs, Terminals, Workstations und andere Endgeräte addiert», höhnte Siemens-Mann Abril, «dann kommt man zu völlig unrealistischen Stückzahlen.» Felix Zimmermann, Chef von Tandon Schweiz, wusste von einem Mitarbeiter, dass dessen frühere Firma die Zahl der verkauften Systeme für das «Weissbuch» von Informatikberater Robert Weiss regelmässig verdoppelte.
Dagegen bestritt IDC-Marktforscher Marcel Meili, dass von den Anwendern oder Anbietern grundsätzlich falsche Zahlen genannt wurden. Doch genaue Daten gaben viele auch nicht heraus. «Wir beantworten die Fragen nach bestem Wissen und Gewissen, soweit es unsere Geschäftsgrundsätze erlauben», erklärte ein Pressesprecher von IBM Schweiz. Der «Weissbuch»-Herausgeber Weiss erfuhr laut eigener Aussage «eine Reihe von IBM-PC-Zahlen» durch ein vertrauliches Gespräch mit einem IBM-Vertreter, sodass er sich die gesuchten Zahlen letztendlich «durch Kombination ausrechnen» konnte.
Hinter manchen veröffentlichten Zahlen steckte auch eine ganze Menge Marketing – das galt besonders für Herstellerangaben. Nach Expertenmeinungen seien die Zahlen von Microsoft und IBM über eingesetzte Windows- beziehungsweise OS/2-Kopien nicht selten übertrieben gewesen. Mit diesen Propagandazahlen sollte hauptsächlich die Entwicklung von Windows- und OS/2-Applikationen forciert werden. Im Fall von Microsoft ist diese Rechnung offenbar ganz gut aufgegangen.