Wie Holacracy gelingen kann 10.01.2018, 15:29 Uhr

Coachen statt führen

Die Selbstorganisation von Unternehmen liegt im Trend. Verspricht sie doch kürzere Entscheidungswege, schnelle Umsetzung von Kundenprojekten und hohe Motivation der Mitarbeiter. Unternehmer und Experten erklären, weshalb Holacracy mehr als ein Hype ist und was Entscheider für einen langfristigen Erfolg beachten müssen. 
Coachen statt führen: Wie Holacracy gelingen kann.
(Quelle: Pixabay/Free-Photo)
Keine Hierarchien, keine Vorgesetzten, dafür Selbstbestimmung. Was für Mitarbeiter wie eine Utopie klingt, kann für Kader ein Albtraum sein. Wer braucht mich morgen noch, wenn sich die Mitarbeiter selbst organisieren? Auch auf juristischer Seite stellen sich einige Fragen. Wie muss man das Unternehmen organisieren, um dem Obligationenrecht zu entsprechen? Und wie nachhaltig sind Modelle wie Holacracy? Handelt es sich dabei am Ende nur um einen Hype?
Man müsse die Frage umdrehen, findet Patrick Scheuerer, Holacracy-Coach beim Beratungshaus Xpreneurs. «Welches sind die neuralgischen Punkte, die Geschäftsführer dazu bringen, sich mit Holacracy zu beschäftigen?» Scheuerer hört oft ähnliche Geschichten. Eine Organisation kann sich nicht schnell genug an Entwicklungen anpassen.
Kurz erklärt
Holacracy
Holacracy ist ein System, wonach man Arbeit auf dezentrale Weise steuern kann. Die Arbeit wird in Kreisen selbst organisiert. Mitarbeiter können in verschiedenen Kreisen Rollen innehaben und entsprechend Arbeit verrichten. Personen führen keine Mitarbeiter, sondern ihre Rolle. Eine Verfassung definiert die wichtigsten Regeln für die Organisation. Jedes Unternehmen muss auf Basis dieser Verfassung eine eigene Governance schaffen, wonach Rollen und Richtlinien beschrieben werden. Die Idee der selbstorganisierenden Teams gibt es schon länger und wird in unterschiedlichen Formen angewandt. Unternehmen wie WL Gore, Morningstar, Semco oder Spotify wenden eigene Varianten an.
Hierzu zählen etwa Veränderungen am Markt, Regulationen, Technologien, Kundenwünsche oder interne Impulse. Letztere nähmen exponentiell zu. Organisationen erlebten einen Stau an Entscheidungen, da sie ihre Menge nicht mehr bewältigen können.
Ein Grund ist das Ping-Pong-Spiel beim Entscheidungsprozess. Man eskaliert eine Entscheidung an den direkten Vorgesetzten. Dieser geht eine Stufe höher, kennt allerdings den Kontext nicht und spielt das Ganze zurück. Das führe bei Entscheidern zu Stau und bei Mitarbeitenden zu Frust, da nichts vorwärtsgeht, erklärt Scheuerer. Die Entwicklung führe zum Wunsch nach mehr Verantwortung bei Entscheidern und Mitarbeitern.

Voraussetzung für Holacracy: Vertrauen und Eigenantrieb

Antoinette Weibel ist Professorin für Personalmanagement am Forschungsinstitut für Arbeit und Arbeitswelten an der Universität St. Gallen. Für sie ist Holacracy eine nachhaltige Organisationsform. Allerdings setze der Erfolg von Holacracy zwei Dinge voraus: Vertrauen und intrinsische Motivation.
Welche Leistung sich dadurch freisetzen lässt, erklärt Weibel anhand des französischen Gebäckherstellers Poult. Dort stand man vor der Insolvenz. Um gegenzusteuern, schaffte man verschiedene Führungspositionen ab und involvierte die Mitarbeiter, auch jene am Fliessband. Dem Erfolgsbeispiel Poult setzte Martin Meissonnier in seiner Dokumentation «Happiness at Work» («Mein wunderbarer Arbeitsplatz») ein filmisches Denkmal. Auszüge aus der Dokumentation zeigt Arte auf seinem Youtube-Kanal.

Gesucht sind Team-Player 

Das Interessante am Beispiel Poult: Statt der Produktionsmitarbeiter verliessen vermehrt Führungskräfte wie Vorarbeiter das Unternehmen. Diese hatten Schwierigkeiten, von Führung auf Coaching umzustellen. Holacracy sei eher schwierig für Führungskräfte mit traditioneller Ausbildung und Machtgespür, resümiert Weibel. 
Diese müssten auf ihren Chefposten mit den verbundenen Attributen verzichten. Wie hilft man Führungskräften, die oft auch Machtmenschen sind, sich zu öffnen, auch auf die Gefahr hin, Macht abzugeben? Nicht ganz einfach. Doch eines ist für Weibel klar: «Wen es nicht verträgt im Holacracy-Modell sind Egoisten, Karriereristen und Narzissten.»

Holacracy als Hype

«Holacracy ist auf jeden Fall ein Hype. Es besteht sogar ein Markenschutz dafür, obwohl man eine Organisationsmethode so eigentlich nicht schützen kann», sagt Jens Meissner, Professor für Organisationale Resilienz am Institut für Betriebs- und Regionalökonomie von der Hochschule Luzern. Vergleichbare Arbeitsmethoden gebe es seit den 1970er-Jahren.
Neu sei hingegen der Einbezug von Technik, wie digitale Werkzeuge für Planung und Management. Kollegen kommunizieren via Slack, organisieren über die Cloud Projekte mit Trello oder dokumentieren ihr Wissen auf firmeninternen Wikis.
Einig sind sich beide Wissenschaftler darin, dass sich Holacracy insbesondere für Unternehmen lohnt, die sich in einem Umfeld bewegen, in dem man schneller mit Innovationen auf den Markt kommen will als der Mitbewerb. Etwa Firmen, deren Geschäftsmodell digital getrieben ist und die daher rasch wachsen müssten, um am Markt zu bestehen, erklärt Meissner. Das professionelle soziale Netzwerk Xing setze etwa auf sogenanntes Speedprogramming. «Nur auf diese Weise konnte das Unternehmen so schnell wachsen», verdeutlicht Meissner.

Quelloffene Verfassung

Für Holacracy besteht zwar ein Markenschutz. Wobei zu ergänzen ist, dass die Verfassung für Holacracy Open Source ist, wie Gerhard Andrey, Co-Gründer des IT-Dienstleisters Liip, anmerkt. In der Verfassung ist auch nicht der bestimmte Einsatz von Technik vorgesehen.
«Auch Verwaltungsräte können nach Holacracy arbeiten», Patrick Scheuerer, Organisationsentwickler und Holacracy-Coach bei Xpreneurs.
Quelle: Xpreneurs
Prinzipiell können die Governance Records auch mit Papier und Stift durchfgeführt werden, wie Scheuerer ergänzt. Die Holacracy-Verfassung steht auf Github bereit. Die Plattform dürfte allerdings vor allem IT-affinen Menschen ein Begriff sein.

Ausprobieren, wo es klappt

Die Kosten für die Suche nach Know-how innerhalb der Organisation könne beispielsweise teuer werden, sagt Professor Meissner. Weil Teams Wissen und Informationen zwar ablegen, andere Teams diese womöglich aber nicht finden.
Etwa, weil jeder Kreis eine eigene Ablagestruktur pflegt. Teamleader oder Vertreter müssen dann nach dem Pull-Prinzip vorgehen. «Das verursacht hohe Transaktionskosten in Form von Suchkosten», befürchtet Meissner. Er empfiehlt, auszuprobieren und zu schauen, wo das Modell Wirkung zeigt. 
Scheuerer sieht das Problem eher theoretisch, weil dieses auch in traditionellen Hierarchien entstehen kann. Dies habe aber zunächst nichts mit Holacracy zu tun.

Swisscom verknüpft die alte mit der neuen Arbeitswelt

Beim Provider und IT-Serviceanbieter Swisscom setzt man auf verschiedene agile Methoden. Rund 1500 Mitarbeiter arbeiteten mit modernen Methoden wie Tribes und Squads und wenige Teams – darunter sein eigenes – auch nach Holacracy, erklärt Adi Bucher, Lead Link (Head of) Leadership, Transformation & Collaboration (LTC), Swisscom.
«In der Führungsausbildung wie Change-Begleitung kommen agile Modelle immer zur Sprache; es selbst zu erleben, ist für Experten besser, als nur Bücher zu lesen», Adi Bucher, Lead Link (Head of) Leadership, Transformation & Collaboration (LTC), Swisscom.
Quelle: Swisscom
Agile Zusammenarbeitsformen nutzen Swisscoms Mitarbeiter insbesondere in der Software-Entwicklung bereits seit Längerem, führt Bucher weiter aus und fügt an: «Holacracy ist ein kleiner Teil und Spezialfall, der bei uns nicht breit angewendet wird.» Die perfekte Organisationsform existiere nicht, jede biete Vor- und Nachteile, bilanziert Bucher, bezogen auf seine Abteilung LTC. Die heutigen Modelle stossen teilweise an ihre Grenzen in Bezug auf Geschwindigkeit, Effizienz und Mitarbeiterzufriedenheit. Agile Organisationsmodelle versprechen hier mehr.

Rasch Ergebnisse erzielen

Agile Zusammenarbeitsformen helfen, schnell eine erste, noch nicht perfekte Lösung zu entwickeln und mit dem Auftraggeber anzuschauen, begründet Bucher die Arbeit nach dem Holacracy-Modell in seiner Abteilung. Feedback werde rasch eingeholt, die Lösung in mehreren Zyklen weiterentwickelt. «Das ist effizienter und schneller, als zuerst monatelang etwas zu bauen, das der Kunde vielleicht gar nicht braucht.»
Mitarbeitende erhalten auch mehr Kompetenzen, Verantwortung und Gestaltungskraft. Insbesondere junge Mitarbeitende suchen vermehrt nach sinnvollen und eigenbestimmten Tätigkeiten und schätzen diese Arbeitsformen. Swisscom steigert damit auch ihre Arbeitgeberattraktivität. «In der Führungsausbildung wie Change-Begleitung kommen agile Modelle immer zur Sprache; es selbst zu erleben, ist für Experten besser, als nur Bücher zu lesen», rät Bucher. Seine Abteilung konnte nach eigenen Angaben die gesteckten Ziele – schneller, flexibler und kundennäher werden – weitgehend erreichen.

Viel Arbeit an den Schnittstellen

Für Bucher ist klar, dass Holacracy auch in einem Konzernumfeld funktionieren kann. Wichtig seien aber die «Spielregeln», insbesondere, was die Themen Anstellungsbedingungen, Lohn etc. angingen. «Wir sind nicht losgelöst vom Rest des Unternehmens und müssen uns an die Anstellungsbedingungen von Swisscom halten. Insofern haben wir die Holacracy-Verfassung nicht zu 100 Prozent übernommen.»
An der Schnittstelle zwischen Holacracy und traditioneller Organisationsform brauche es viel Arbeit: «Die spezifische Sprache von Holacracy muss im Konzernumfeld übersetzt werden. Zudem erscheinen Holacracy-Abläufe auf den ersten Blick komplex und müssen erklärt werden.» Dennoch habe eine Befragung unter den Mitarbeitern im Sommer 2017 gezeigt, dass über 90 Prozent mit Holacracy weiterfahren wollen.

«Wir sind stärker zusammengewachsen»

Doch es gibt auch Herausforderungen. «Das Ansprechen von Spannungen respektive das klare Adressieren von nicht erfüllten Erwartungen untereinander ist eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen von Holacracy. Spannungen und Konflikte können wir künftig noch besser austragen. Wir sind als Einheit stärker zusammengewachsen, es ist aber noch nicht alles perfekt», sagt Bucher.
Für Konfliktfälle gebe es eine Rolle, die gemäss Rollenbeschreibung die Autorität hat, einen Entscheid zu fällen. Persönliche Befindlichkeiten müssten aber zurückstehen. «Am Schluss geht es darum, einen Entscheid zu finden, der den Zweck der Abteilung nicht gefährdet und ‹save enough to try› ist.

Transformation benötigt Zeit

Zudem haben wir regelmässige Workshop-Formate, in denen wir Konflikte und offene Punkte ansprechen können. Nach den Meetings reflektieren wir, was wir beim nächsten Mal besser machen können.» Einführungs- und Lernzeit neuer Modelle sollten nicht unterschätzt werden. «Es ist eine Transformation, die Zeit benötigt. Erst nach neun bis zwölf Monaten sind wirkliche Veränderungen spürbar.»
Trotz der positiven Erfahrungen wird Swisscom Holacracy nicht auf den gesamten Konzern ausweiten. «Aber mehr Mitarbeitende werden in offeneren Strukturen arbeiten als heute, in agilen Zusammenarbeitsformen mit mehr Verantwortung und Kompetenzen», konstatiert Bucher.

Experimentierfreude bei Mobiliar

Beim Versicherer Mobiliar kam man vom Holacracy-Modell wieder ab. 2016 wurde in der Abteilung Personalentwicklung ein Pilotprojekt zur Umsetzung von Holacracy mit etwa 25 Mitarbeitenden gestartet mit zwei Zielen, wie es in einem Bericht auf der Website des Swiss Centre for Innovations in Learning (Scil) heisst.
Die Abteilung wollte Erfahrungen mit agilen Organisationsformen für das gesamte Unternehmen sammeln. Zudem wollte man in der eigenen Arbeit mehr Kundenorientierung, Geschwindigkeit und Flexibilität erzielen, etwa bei der Konzeption und Umsetzung neuer Lern- und Entwicklungsangebote.
Die Umgestaltung der Organisationsstrukturen stellte sich für alle Beteiligten als herausfordernd dar. Obwohl das Projekt von Experten begleitet wurde. Zum Beispiel durch eine Reihe von Workshops mit dem Führungsteam, mit den Mitarbeitenden und zum Rollen-Matching. Hinzu kamen Austauschtreffen mit externen Partnern, die bereits in agilen Strukturen arbeiteten, Kompetenzaufbau für die Inhaber von Moderatoren-Rollen und sogenannte «Workouts» zu verschiedenen Themen und Herausforderungen.

Unbeantwortete Fragen

Trotz des umfangreichen Regelwerks, das für Holacracy als Organisationsmodell existiert, blieben bei Mobiliar Fragen offen: Wie sollen Prozesse wie Rekrutierung, Onboarding, Leistungsmanagement und Vergütung oder Entlassung etc. umgesetzt werden?
Hier stiess man mit den etablierten Regelwerken des Gesamtunternehmens auf grosse Hindernisse. Ausserdem gab es Irritationen zwischen der Abteilung, die Holacracy ausprobierte und agil arbeitete, und anderen Bereichen, die hierarchisch arbeiteten.
Nach rund einem Jahr wurde das Projekt eingestellt. Die entsprechende Abteilung kehrte zu einem klassischen Führungsmodell zurück. Das Projekt ging aber nicht ganz spurlos vorbei. Verschiedene Elemente des holokratischen Organisationsmodells, etwa die Gestaltung der Meetings, wurden beibehalten. Ziel sei es, durch den Schritt zurück ein Mischmodell zu etablieren, das mit der übrigen Organisation besser vereinbar ist.

Worauf es rechtlich ankommt

Entscheider, die in ihrem Unternehmen auf das Holacracy-Modell umstellen wollen, sollten sich den Schritt gut überlegen. Die Veränderungen der Organisation sind komplex. Unternehmen müssen etwa rechtliche Aspekte beachten, insbesondere in den Bereichen Obligationen- und Arbeitsrecht.
Nach dem Obligationenrecht trägt der Verwaltungsrat einer Firma die Verantwortung. Er kann gewisse Geschäfte gemäss Artikel 716a des Obligationenrechts auch nicht übertragen, wie Thomas Geiser erklärt, Professor für Privat- und Handelsrecht am Forschungsinstitut für Arbeit und Arbeitswelten der Universität St. Gallen.

Die Rolle des Verwaltungsrats im Holacracy-Modell

Die Mitglieder des Verwaltungsrats balancierten zwischen Vertrauen und Kontrolle, sagt Meissner von der Hochschule Luzern. «Ich kenne keinen einzigen Verwaltungsrat, der dem Modell Holacracy ohne Kontrollmechanismen zustimmen würde. Sonst liesse sich ein Verwaltungsrat auf ein Modell ein, das er nicht oder kaum kontrollieren könne. Die Aufgabe des Verwaltungsrats ist aber per se die Kontrolle. Zudem sind gewählte Verwaltungsräte eher konservativ.»
Scheuerer widerspricht: «Auch Verwaltungsräte können nach Holacracy arbeiten.» Anhand von Metriken und Checklisten können sie ebenfalls Kontrolle aufrechterhalten.
Für Geiser von der Uni St. Gallen dürfte Holacracy in kleineren Unternehmen relativ problemlos realisierbar sein. In grösseren Unternehmen könne aber vielleicht die Gefahr bestehen, dass der Verwaltungsrat die Übersicht verliere. «Dann geht er sicher ein gewisses Haftungsrisiko ein. Wie gross dieses ist, hängt aber in erster Linie von den möglichen Risiken ab und nicht von der rechtlichen Haftung.»
Doch wie sieht es mit der Haftung von Kadermitarbeitern, etwa dem Finanzchef, aus? Das sei kein reales Problem, gibt Geiser Entwarnung. «Es gibt – mit wenigen Sonderregeln, die sich im Steuerrecht und im Börsenrecht bei einer kotierten Gesellschaft finden können – gar keine besondere Haftung des Chief Financial Officers. Gegen aussen haftet ohnehin die juristische Person und nicht der handelnde Einzelne. Bei Delikten haftet die handelnde Person, unabhängig davon, ob es sich um den CEO oder jemand anderen handelt.»

Im Einzelfall kompliziert

Die Organhaftung treffe nur jene Personen, die tatsächlich als Organ handelten. Wenn nun Gruppen gemeinsam Entscheidungen träffen, die in die Zuständigkeit eines klassischen Organs, etwa des Verwaltungsrats oder eines Direktors, fielen, ohne dass die einzelnen Personen dieser Gruppe formell als Organe bestellt seien, hafteten sie eben als faktische Organe.
Forschung und Lehre
Holokratie in der Wissenschaft
Die Universität Bern begleitet den Transformationsprozess bei der Firma Unic. Liip kooperiert mit der Universität Fribourg. Im Rahmen einer Arbeit mit der Hochschule für Wirtschaft entwickelt Liip eine Art Werkzeugkasten. Dieser soll Aktiengesellschaften künftig unterstützen, Fragen rund um Holacracy von Beginn weg beantworten zu können. An der Universität St. Gallen startet im Februar 2018 der vier Module umfassende HR-Zertifikatskurs «CAS in HR Value Creation» des Lehrstuhls für Personalmanagement.
Das Recht berücksichtige diesbezüglich die tatsächlichen Verhältnisse, nicht Formalien. «Im Einzelfall wird das dann selbstverständlich je nach konkreter und tatsächlich gelebter Organisationsstruktur sehr kompliziert», räumt Geiser ein.

Wieviel Verantwortung kann dem einzelnen Mitarbeiter aufgebürdet werden?

Für Meissner von der Hochschule Luzern stellt sich zudem die Frage, wie viel Verantwortung letztlich an die Mitarbeiter abgegeben wird respektive aufgeladen wird.
Auch hier hilft das Obligationenrecht weiter, wie Geiser erläutert: Artikel 716b des Obligationenrechts beschreibt, wann eine Übertragung der Geschäftsführung auch auf eine Gruppe von Personen möglich ist, sofern dies die Statuten der Aktiengesellschaft vorsehen. Dann muss der Verwaltungsrat aber ein Organisationsreglement erlassen.
Die Organhaftung für die entsprechenden Handlungen obliegt dann dem entsprechenden Organ, an das die Geschäftsführung delegiert wurde. Dies können dann im Holokratie-Modell, je nach Rollendefinition, Teamverantwortliche respektive Productowner sein.

Leistungsdruck steigt

Im Modell der Holacracy erhalten Mitarbeiter Macht - gebunden an ihre Rolle. Diese Form des Empowerments könne auch eine «Zumutung» für Mitarbeiter werden, warnt Meissner. Da man immer mehr Verantwortung auf die kleinen Teams, im Holacracy-Modell Kreise genannt, verschiebe.
«Je kleiner die Einheit, desto grösser wird die Verantwortung. Das führt zu Unternehmertum im Betrieb.» Holacracy bringe mehr Agilität, sei aber auch mit hohem Leistungsdruck verbunden. Ohne gehe es nicht. «Diese Entwicklung sehen wir in der gesamten Wirtschaft», sagt Meissner. In der Schweiz sei dies Teil der Swissness. Dank der guten Ausbildungen und der hohen Verantwortung der einzelnen Mitarbeiter.
Leistungsdruck ist etwas, mit dem nicht alle Menschen gleich gut umgehen können. Motivationstiefs, Burn-out oder Mobbing sind die Schattenseiten. Spaltet am Ende Holacracy Teams eher, als dass sie die Mitarbeiter verbindet? «Das ist ein grosser Diskussionspunkt», meint Weibel.

«Sonst müssten wir sofort die direkte Demokratie abschaffen»

Eine Herausforderung seien etwa die Rollen, die Mitarbeiter einnähmen, wie die Professorin anhand des Schuhherstellers Zappos erklärt. Dort stieg mit Einführung von Holacracy die Zahl an Rollen pro Person.
Hinter dem Modell steht die Idee, dass man etwa für eine Tätigkeit im Rahmen eines Projekts eine neue Rolle kreieren kann. Gibt es keine begründeten Einwände im Team, wird die neue Rolle geschaffen. «Im Schnitt haben Mitarbeiter 7,5 Rollen», erklärt Weibel.
«Wenn man nicht glaubt, dass die Menschen Verantwortung übernehmen wollen, müssten wir sofort die direkte Demokratie abschaffen», Antoinette Weibel ist Professorin für Personalmanagement am Forschungsinstitut für Arbeit und Arbeitswelten an der Universität St. Gallen.
Quelle: Universität St. Gallen
Man müsse dann auch Prioritäten setzen können. «Das ist psychologisch anstrengend, hieraus könnte der Leistungsdruck entstehen. Man geht aber davon aus, dass Menschen in einer Holokratie besser leben als mit monotoner, vorgegebener Arbeit», betont die Professorin und fügt an: «Gerade in der Schweiz kann man Mitarbeitern viel Eigenverantwortung geben. Wenn man nicht glaubt, dass die Menschen Verantwortung übernehmen wollen, müssten wir sofort die direkte Demokratie abschaffen.»

Holacracy als andere Form der Hierarchie

Die IT-Dienstleister Liip und Unic gelten als Modellbeispiele für die Umsetzung des Holacracy-Modells. Auf die Frage, weshalb Unic auf das Modell umstieg, erklärt Ivo Bättig, Partner & Holacracy Implementation Lead: «Wir sind überzeugt, dass Arbeit und Organisation anders gelebt werden müssen, um auf die komplexen Marktherausforderungen rasch und flexibel reagieren zu können. Ausserdem kommt das Potenzial der Mitarbeitenden durch Selbstorganisation und Selbstverantwortung viel stärker zum Tragen.»
Grundsätzlich ist Holacracy bei Unic hierarchisch in Kreise und Subkreise organisiert. Aber es sei keine Hierarchie der Menschen. Die Konzentration von Macht auf Einzelperson entfällt. Dennoch brauche es Leadership. Nur kann es sein, dass die Person, welche die Strategie vorgibt, nicht die Person ist, die einem sagt, wann man in die Ferien gehen darf.
«Wir sind überzeugt, dass Arbeit und Organisation anders gelebt werden müssen, um auf die komplexen Marktherausforderungen rasch und flexibel reagieren zu können. Ausserdem kommt das Potenzial der Mitarbeitenden durch Selbstorganisation und Selbstverantwortung», Ivo Bättig, Partner & Holacracy Implementation Lead, Unic.
Quelle: Unic
Dazu brauche es nicht per se einen «Chef», erklärt Bättig. «Man überlegt sich immer, welche Arbeit getan werden muss, etwa eine Checkliste ausfüllen oder einen Report abliefern, und schafft dann entsprechende Rollen und Verantwortlichkeiten. Für die Budgetierung beispielsweise gibt es definierte Rollen. Wir sind ja auch ISO-9001-zertifiziert – auch hierfür haben wir passende Rollen geschaffen.»

Bindeglied zum Verwaltungsrat

Wer bei Unic nicht nach Holacracy arbeitet, ist der Verwaltungsrat. Dieser nimmt die üblichen Verantwortlichkeiten gegenüber dem Gesetz war. Für die Abstimmung zwischen dem Verwaltungsrat und der holokratischen Organisation schuf man beim Anbieter integrierter E-Business-Lösungen die Rolle «VR-Bindeglied», verknüpft mit den entsprechenden Verantwortlichkeiten zur Abstimmung der beiden Organe.
Dieses Bindeglied informiert den Verwaltungsrat etwa über den Geschäftsgang. Eine herausfordernde Schnittstelle, räumt Bättig ein. Die Person, welche die Rolle innehat, muss den Spagat schaffen zwischen Selbstorganisation und «traditioneller» Organisation.

Holacracy am Servicedesk

Selbstorganisation funktioniert nicht für alle. Einige verliessen das Unternehmen. Die Fluktuation in dieser Branche ist jedoch generell eher hoch und die Gründe sind nicht per se auf das neue System zurückzuführen.
Bättig kann sich vorstellen, dass Einzelne die Veränderung weiterhin beobachten und dann vielleicht wechseln werden. Grundsätzlich stehen die Mitarbeitenden der Holokratie aber positiv gegenüber. Und dies in verschiedenen Arbeitsbereichen.
Als Beispiel nennt Bättig die Entstehung neuer Kundenkreise, die sich fokussierter auf die jeweiligen Kundenbedürfnisse ausrichten. Oder den Servicedesk, wo die Mitarbeiter ebenfalls neue Ideen für ihren Kreis ausarbeiten. «Sie werden kreativ und entwickeln eigene Arbeitsmethoden wie etwa Turnusmodelle mit neuen Kooperationswerkzeugen. Manche machen auch vermeintlich einfache oder unbeliebte Aufgaben sehr gerne. Dann wird eben die Rolle des Telefonabnehmers geschaffen», erklärt Bättig.

Early Adopter spuren vor

Bei Liip arbeiten die Mitarbeitenden seit einigen Jahren selbstverwaltet, erklärt Gerhard Andrey, Mitgründer und Partner bei der Agentur Liip. «Die agile Bewegung und unser Open-Source-Engagement waren Inspirationsquelle dafür. Mit dem starken Wachstum – insbesondere 2015 – sind wir mit den doch sehr informellen Strukturen an eine Grenze gestossen. Das war denn auch der Auslöser, Holacracy ernsthaft zu prüfen», sagt Andrey.
Anfang 2016 setzte das Unternehmen komplett auf das neue Modell. Bereits vor der Reorganisation gab es bei Liip kein mittleres Management oder Teamchefs. Die Umstellung sei deshalb weniger deskriptiv als für klassisch aufgestellte Organisationen gewesen.
Herausfordernd war es hingegen, die Menschen fit für das System zu machen. «Als ‹Early Adopter› übernehmen wir einen überproportional hohen Anteil dieser Aufwände. Denn es gibt in der Schweiz noch keinen Arbeitsmarkt der Holacracy-Arbeitnehmenden.» Neue Mitarbeiter einzugliedern, nimmt daher Zeit in Anspruch und ist nicht zu unterschätzen, wie Andrey betont.

Traditionelle Führung heute undenkbar

Neue Mitarbeiter rekrutieren die einzelnen Kreise eigenständig. Dabei erhalten alle Mitglieder ein Vetorecht. Diese Mitverantwortung ist zugleich Hebel, um die Mitarbeitenden in die Verantwortung zu nehmen, die neuen Kollegen erfolgreich zu integrieren.
Entlassen werden Leute, wenn sie keine Rollen mehr innehaben, etwa wegen mangelnder Fähigkeiten oder Disziplin. Wer es dann nicht schafft, innert einer Frist eine neue Rolle innerhalb von Liip zu finden, ist raus. Soweit die Theorie. «Wir haben sehr selten Fälle, bei denen wir jemandem kündigen müssen. Bei flexiblen Rollen lässt sich mit dem nötigen Engagement meist eine Beschäftigung und somit eine neue Rolle finden», ergänzt Andrey.
Auch brauche es eine transparente und gesunde Feedback-Kultur. «Hier verlangen wir wohl als Arbeitgeber mehr von unseren Mitarbeitenden als traditionelle Firmen.» Unterm Strich überwiegen für Andrey aber die Vorteile. Eine traditionelle Führungsstruktur ist für ihn undenkbar geworden.

Zäsur erfordert Zeit, kann sich aber lohnen

Welche Stolperfallen sollten Unternehmen berücksichtigen, die Holacracy als Organisationsmodell einführen wollen? «Ui, da gibt es viele», sagt Unics Bättig.
Über die Erfahrungen hält er inzwischen Referate und unterstützt andere Organisationen auf diesem Weg. Bättig gibt anderen vier Tipps mit auf den Weg: «Es ist absolut zentral, dass die aktuelle Geschäftsführung von einem solchen Wandel überzeugt ist. Nehmen Sie sich Zeit, sich mit diesen Gedanken zu beschäftigen und holen Sie gegebenenfalls Unterstützung in diesem Prozess. Seien Sie Vorbild in diesem Veränderungsprozess und leben Sie die Prinzipien vor. Nicht als Chefs, aber als Leader – denn Leadership ist nach wie vor ein sehr wichtiges Element.»

Rat bei Kollegen holen

Ausserdem sollte man sich bewusst sein, dass Holacracy eine Zäsur bedeutet. Das braucht Zeit. «Sie begeben sich auf eine längere Reise und nicht auf den Pfad der maximal kurzfristigen Gewinnsteigerung – doch schlussendlich haben Sie dann eine Organisation, die sich stets in kontinuierlichen und kleinen Schritten optimiert und dem Markt anpassen kann», sagt Bättig.
Mitarbeiter seien motivierter, da sie nach einem Sinn und Zweck streben und nicht nach kurzfristigen Zielen oder abstrakten Visionen und Missionen. Unternehmern rät Bättig, sich Rat bei Kollegen zu holen, die eine solche Transformation vollzogen haben. «Dies erspart einiges an Lehrgeld, denn es wird anstrengend genug.»
Verschiedene erlernte und bewährte Fertigkeiten müssen entlernt werden, da sie im neuen System nicht mehr funktionieren. Entscheider müssen zudem lernen, nicht alles vorauszuplanen und alle Eventualitäten zu antizipieren. «Lassen Sie auch mal etwas geschehen im Wissen, dass Sie ein System und Mitarbeitende haben, die durch das verantwortliche Handeln Lösungen finden werden – sogar auch mal ohne Sie.»



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