10.02.2015, 16:11 Uhr

Warum Scrum in Indien so beliebt ist

Indiens Kultur der sprunghaften Veränderung passt perfekt zur Vorliebe des Westens für Scrum.
Jeder, der schon einmal in Indien war, weiss wie es sich inmitten eines wirklichen Scrums (englisch für Gedränge) anfühlt. Das Gefühl, gehetzt und gedrängt zu werden, scheint ein Teil des indischen Lebensstils zu sein. Egal, ob auf dem Flughafen, am Ticketschalter, an einem Teestand, in einem Schwimmbad oder selbst in einem entfernten Tempel beim Joga irgendwo im Himalaja – überall wird man eine Menschenmenge antreffen, die versucht, Tickets, Getränke, Aufmerksamkeit oder sogar Ruhe zu ergattern (was zu meditativem Lärm führt).  Oft kann man in Indien Menschen beobachten, wie sie all diese Dinge tun und zur gleichen Zeit noch SMS verschicken, twittern und telefonieren. Anders gesagt: sie versuchen permanent, sich auf kreative Weise den sich ständig verändernden komplexen Situationen anzupassen. Oder, wie man es im Scrum-Jargon sagen würde, sie bewältigen den «Requirements Churn». Als ich Amazon Indien besuchte, unterhielt ich mich lange mit einigen der Projektmanager und Entwickler. Wir sprachen darüber, welchen langen Weg Amazon in Indien gehen musste, bis man den operativen Betrieb aufnehmen konnte. Wie schwierig musste es sein, das Versprechen einzuhalten, Waren sicher und pünktlich an ihr Ziel zu bringen, wenn es keine genauen Wohnanschriften gibt! Aber wir unterhielten uns auch über die Anpassung des Onlinegeschäfts an die lokalen Anforderungen. Ich stellte mir zum Beispiel vor, wie das Serviceversprechen eingehalten werden sollte in Anbetracht holpriger Strassen, vielen Umleitungen, abrupten Kehrtwendungen und unerwarteten Sackgassen. Aber dann sagte Kartheek Peyyeti, einer meiner Gastgeber, das Folgende: «Das ist die beste Arbeitsatmosphäre für uns» und «ein Weg, der sich ständig verändert, ist uns lieber als einer, der schon ausgetreten ist.»

Eine Kultur der sprunghaften Veränderung

Das erinnerte mich an «The Argumentative Indian», ein vielfach gepriesenes Buch des indischen Wirtschaftswissenschaftlers und Nobelpreisträgers Amartya Sen. Er beschreibt darin, wie die Traditionen des Streitgesprächs und des intellektuellen Pluralismus tief in der indischen Kultur und Mentalität verwurzelt sind. Bevor ich die Aufsätze von Amartya Sen gelesen hatte, habe ich nie richtig verstanden, warum so viele Menschen in Indien einfach nur um der Diskussion willen diskutieren. Ich war immer verblüfft, wie sprunghaft die Menschen in Indien ihre Pläne und Handlungen plötzlich änderten. Obwohl meine Familie ursprünglich aus Indien kommt, wurde ich in einem Land aufgezogen, das dem Chaos und der Mehrdeutigkeit den Rücken gekehrt hat: die Schweiz. Ich wuchs also mit dem Glauben auf, dass es keine gute Wahl sei, streitlustig zu sein (und meine Schweizer Lehrer unterstützten diese Auffassung vehement). Als wir einmal unsere Familie und Freunde zu Hause in Indien besuchten – die Schweiz war in den 1970er Jahren bereits reich, im Gegensatz dazu befand sich Indien in einer der schlimmsten Armuts- und Hungerphasen – stellte ich fest, wie sehr das tägliche Leben dort durch ein ständiges Verhandeln, Feilschen und Umstrukturieren bestimmt und dominiert war. Als zehn- oder zwölfjähriger Junge folgerte ich daraus, dass eine geradlinige Denkweise und eine sequentielle Reihenfolge von Handlungen unweigerlich zu Wohlstand führen müssten. Diese Meinung vertrat ich bis zu dem Zeitpunkt, als ich ein weiteres langes Gespräch führte, dieses Mal mit dem indischen Mythologen Devdutt Pattanaik. Er wies mich darauf hin, dass «Diversität zu Auseinandersetzungen führt», aber dass diese nicht aus Skepsis entstehen, sondern aus einem tief verankerten Glauben. „Der debattierfreudige Inder,“ erklärte Devdutt, «möchte eine Auseinandersetzung nicht gewinnen, oder zu einem Konsens gelangen; er sieht einfach jederzeit andere Alternativen und Möglichkeiten.» In diesem Moment ging mir ein Licht auf und ich verstand, warum die Menschen in Indien Scrum so leidenschaftlich lieben. Denn Scrum hilft ihnen, während der Arbeit in ihrer eigenen – indischen - Wohlfühlzone zu bleiben!



Das könnte Sie auch interessieren