30.10.2007, 09:30 Uhr
Kommunikation ist Match-entscheidend
Die Fussball-WM in Deutschland war ein Fest. Fahnen, Freudentaumel, Hochspannung - und hinter allem: Die Polizei. In weniger als einem Jahr ist es wieder so weit: Der Ball rollt diesmal in der Schweiz und in Österreich. Ein Erfahrungsbericht.
Für die Organisatoren der «Euro 08» ist es ein Glücksfall, dass die Fussball-WM 2006 in Deutschland, also quasi vor der Haustüre stattgefunden hat. Von allen an der anstehenden Europameisterschaft Beteiligten ist zu hören, der Austausch mit den deutschen Behörden sei hervorragend. Entsprechend stützt sich das «Nationale Sicherheitskonzept Schweiz für die UEFA EURO 2008», so der offizielle Titel, in den wesentlichen Punkten auf jenes der deutschen Kollegen. Auch in der Schweiz und in Österreich sind Themen wie die internationale Zusammenarbeit, «Public Viewing» als präventives Element, die 3-D-Philosophie der Sicherheitskräfte und der Einsatz ausländischer Beamter in anlassbezogenen Bereichen zentral.
Doch einfach unverändert übertragen lassen sich die bewährten Konzepte nicht. Dazu sind die Ausgangslagen bei der WM 2006 und der Euro 2008 zu verschieden. Das gilt auch für die Informatik.
Dennoch ermöglicht ein Vergleich der Schweizer Situation bei der Euro 2008 mit jener im deutschen Bundesland Rheinland Pfalz während der WM 2006 eine Annäherung an die Problemlage. Denn in Rheinland Pfalz setzte die Polizei zur Bewältigung der besonderen Aufgaben während der WM erstmals ein spezielles IT-System ein: Die so genannte «Besondere Aufbau Organisation Einsatzsoftware» (BAO-E). Diese von der Berner Oberländer Softwareherstellerin Xplain und der deutschen Intergraph als Generalunternehmerin realisierte Lösung unterstützte während des WM-Zeitraumes alle WM-bezogenen Polizeieinsätze in den landesweit fünf Polizeipräsidien Trier, Koblenz, Mainz, Ludwigshafen und Westpfalz.
Sonderlagen lösen mit spezieller IT
Polizeioberrat Christof Gastauer, Projektverantwortlicher BAO-E der Rheinland Pfälzer Polizei, erklärt dazu: «Fünf WM-Spiele und fünf Wochen Public -Viewing in Kaiserslautern sowie mehr als 100 WM-Veranstaltungen landesweit bedeuteten für die Polizei Rheinland-Pfalz die grösste Aufgabe in ihrer Geschichte. Diese wäre mit den normalen Mitteln nicht zu bewältigen gewesen.»
Angesichts der komplexen Herausforderungen dieser besonderen Lage wurde der Realisierung und Einführung einer unterstützenden Einsatzsoftware sehr hohe Priorität beigemessen. Konkret verwaltet BAO-E vor allem die Fakten: das Ereignis selbst (Art, Ort, Zeitpunkt etc.), die situative Zuordnung von Organisationseinheiten, Mitarbeitern, Fahrzeugen und allen Kommunikationsmitteln, die zur Führung und für die Koordination der Massnahmen benötigt werden. So entsteht ein schneller, kompletter Überblick über die aktuelle Lage, in dem die aus diversen Quellen stammenden Informationen schnell und einheitlich dargestellt werden. Dateianlagen werden in einer Datenbank abgelegt und Volltext-indiziert. So werden Historie und Verlauf von Informationen nachvollziehbar. Ein Rollen-basiertes Berechtigungskonzept sorgt für die nötige Datensicherheit.
So hilft BAO-E nicht nur bei Grossanlässen, sondern generell bei allen «Sonderlagen» wie etwa Geiselnahmen, Entführungen oder Erpressungsdelikten.
Information, Dokumentation, Recherche
Den konkreten Einsatz der BAO-E erklärt Gastauer mit drei wesentlichen Funktionen: «Die Bewältigung einer besonderen Lage hat sehr viel mit Kommunikation zu tun. BAO-E hilft uns dabei, Informationen aus allen möglichen Quellen zielsicher, korrekt nach Bedeutung bewertet an die richtigen Stellen zu bringen - und zwar schnell.» Zudem helfe das System, die entsprechenden Aufträge zu verwalten, so Gastauer.
Die visuelle Führung vergleicht er mit jener von Outlook: Dort sehe der Empfänger, was er schon gelesen und was er noch nicht gelesen habe. In BAO-E erhält auch der Sender diesen Überblick: Nicht gelesene Aufträge sind fett, gelesene grau, erfüllte grün, unerfüllte rot markiert. Zudem erinnert das System daran, erteilte Aufträge zu kontrollieren. Gleichzeitig dokumentiert BAO-E den gesamten Einsatz. Für Gastauer eine der wertvollsten Funktionen. Denn so sei auch in komplexesten Situationen immer klar nachvollziehbar, wer wann was getan hat - oder hätte tun sollen.
Als dritte Hauptfunktion neben dem Informationsfluss und der Dokumentation des Systems zählt Gastauer die Suchfunktion auf. Diese schliesst nicht nur laufende Einsätze, sondern auch abgeschlossene mit ein. Dabei macht sie auch vor keinem Attachment halt: Suchbegriffe werden beispielsweise auch innerhalb eines PDF gefunden und natürlich in den Stichworten zu einem Bild oder Tondokument.
Was BAO-E wirklich gebracht hat
Laut Gastauer konnten durch BAO-E zielgruppenorientierte Informationen und Aufträge nachvollziehbar und recherchierbar übermittelt werden: «Es handelt sich um ein hierarchisch aufgebautes Kommunikationssystem, das BAO-E unterstützt und aufgrund seiner Einfachheit intuitiv bedienbar ist», fasst er zusammen. Es verhindere Informationsüberflutung, erleichtere das Auftragscontrolling und entlaste mit seinen Suchfunktionen den Führungsstab. Dokumentation und Abbildungen ersetzten die «Zettelwirtschaft», stellt er sichtlich zufrieden fest.
Ergebnisse und Möglichkeiten
Doch wurde die Polizeiarbeit dank BAO-E wirklich schneller? Gastauers Antwort ist ein-deutig: «Nein.» Dabei betont er, dass die Polizisten noch immer miteinander reden müssten, damit alles funktioniert. Denn selbst die beste IT könne die mündliche Kommunikation nicht ersetzen. Aber sie sei ein sehr wirkungsvolles Führungs-Hilfsmittel, das im Falle von BAO-E den persönlichen, mündlichen Austausch unterstützt habe. Auf die Frage, ob die Polizei nun dank der IT mehr Mannstärken auf der Strasse habe, ist die Antwort des Polizeioberrats ebenso klar: «Nein». Allerdings habe BAO-E dazu geführt, dass Organisationen überdacht wurden. Nun könne man zwar mit viel weniger Beamten Informationen bewerten, dafür brauche es aber auf tieferen Stufen mehr Mitarbeiter, die das System füttern.
Gastauers Gesamturteil zur WM 2006 fällt ebenso nüchtern wie klar aus: «BAO-E hat sich bei der Fussball-WM bewährt».
Polizei-Software
Schweizer Technik im BAO-E
Das Projekt wurde von der Berner Oberländer Softwarefirma Xplain mit der Intergraph Deutsch-land als Generalunternehmerin realisiert. Das BAO-E ist ein geschlossenes System. Es ist zent-ral aufgebaut. Mehrere Webserver, ein Datenbank-Cluster und ein SAN gewährleisten hohe Ausfallsicherheit. Rund 300 Clients konnten in Rheinland Pfalz gleichzeitig darauf zugreifen.
Begriffsdefinition
Was ist eine Sonderlage?
Sonderlagen sind Situationen, die nicht mit den Mitteln des polizeilichen «daily business» bewältigt werden können und für die besondere Regeln gelten. In Polizeikreisen setzt sich mehr und mehr die auf Erfahrungen basierte Doktrin durch, dass für derartige Lagen besondere (Stabs-)Organisationen aufgebaut und besondere Dispositive und Mittel eingesetzt werden.
Volker Richert