Misserfolge
04.06.2020, 07:06 Uhr
Warum Digitalisierungsprojekte scheitern
Viele Faktoren beeinflussen die Digitalisierung. Massgeblich sind dabei vor allem die vier Punkte Kultur, Komplexität, Kompetenz und Konsequenz.
Es hätte so schön sein können. Mit «Passion for Performance» (P4P), so der Titel des Projekts, widmete sich der deutsche Versandhändler Otto drei Jahre lang der Integration von rund 100 Tochtergesellschaften in einem einheitlichen Warenwirtschaftssystem von SAP. Tausende Manntage und einen zweistelligen Millionenbetrag später wurde das Projekt beerdigt.
«Angesichts der hohen Komplexität und der zum Teil sehr heterogenen Strukturen der Konzernunternehmen besteht die flexiblere und damit wesentlich bessere Lösung darin, die Otto Group IT künftig dezentral zu managen», erklärte der Konzern in einer Pressemitteilung. Und damit war das Projekt Vergangenheit.
Digitalisierungsprojekte, bei denen es um die Einführung, Integration oder Konsolidierung von SAP-Umgebungen geht, scheinen insgesamt eine gute Chance auf Scheitern zu haben. Das Fachblatt «Wirtschaftswoche» listet unter der Überschrift «Gefloppte SAP-Projekte» neben Otto auch die Deutsche Bank, Lidl, Edeka, die Deutsche Post und DocMorris auf. «Die Komplexität einer SAP-Umgebung wächst mit der Anzahl der Systeme und der Schnittstellen extrem stark, daher scheitern solche Grossprojekte oft», sagt Berater, Business- Coach und Trainer Markus Kammermeier, der als Geschäftsführer von Change42 Unternehmen bei der digitalen Transformation berät.
Natürlich kann man Digitalisierungsprojekte auch ohne Hilfe aus Walldorf in den Sand setzen. Eine gute Gelegenheit bieten beispielsweise Fusionen und Übernahmen. Die Deutsche Bank verschluckte sich gehörig an der Integration der Postbank-IT, die Commerzbank sparte sich die Mühen der Integration gleich ganz und schaltete bei der Übernahme der Dresdner Bank deren Computersysteme grösstenteils einfach ab, obwohl diese nach Meinung vieler Experten der Commerzbank-IT deutlich überlegen waren.
“Technologie allein kann keine digitale Transformation bewirken.„
Markus Kammermeier, Geschäftsführer von Change42
Auch die öffentliche Hand kann einige Misserfolge bei der Digitalisierung vorweisen. Die Bundesagentur für Arbeit etwa versenkte 60 Millionen in dem Projekt «Robaso» (Rollenbasierte Oberfläche), das den Mitarbeitern statt 16 unterschiedlichen Anwendungen eine einheitliche Bedienoberfläche zur Verfügung stellen sollte. Kurz vor Fertigstellung merkten die Verantwortlichen, dass einmal eingegebene Stammdaten wie etwa die Bankverbindung oder die Adresse nicht mehr geändert werden konnten. Die Mitarbeiter hätten daher bei jeder Änderung den kompletten Datensatz neu anlegen müssen.
Das Digitalisierungsprojekt «CIT Quadrat» der Bundeswehr ist vor allem ein Beispiel für die Verschwendung von Steuergeldern. Die Verantwortlichen beglichen Beraterhonorare in Millionenhöhe vergaberechtswidrig aus Töpfen, die dafür gar nicht vorgesehen waren. Der Bundesrechnungshof vermutet gar ein «Buddy-System». Mitarbeiter der Bundeswehr hätten an den Vergaberichtlinien vorbei und ohne ordentliche Ausschreibung Aufträge gezielt an bestimmte Beratungsunternehmen vergeben, so der Vorwurf.
Flops von Amazon, Google & Co.
Selbst Technologiegiganten sind vor Digitalisierungspleiten nicht gefeit. Beim Online-Händler Amazon schlug beispielsweise die Einführung eines KI-basierten Recruiting-Systems grandios fehl. Die KI erwies sich als Macho und diskriminierte systematisch Frauen, weil ihre Trainingsdaten überwiegend von männlichen Bewerbern stammten. Nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen, der KI ihre Misogynie auszutreiben, gab der Konzern auf. Auch dem Amazon «Fire Phone», der PayPal-Alternative «WebPay» und der eigenen Suchmaschine «Askville» war kein Erfolg beschieden.
Google leistete sich gleich mehrere Dutzend veritabler Flops. Zu den gescheiterten Projekten des Suchmaschinenriesen gehören die Social-Media-Plattformen Buzz, Google Plus und Orkut, der Chat-Dienst Google Talk, die solarbetriebene Drohne Titan und das modulare Smartphone Ara. Beim Software-Konzern Microsoft fallen einem vor allem der glücklose Ausflug in das Smartphone-Business und der legendäre Musik-Player «Zune» ein, der als iPod-Konkurrent mehr Hohn und Spott als Käufer anzog.
Die gescheiterten Projekte, die es in die Nachrichten geschafft haben, sind allerdings nur die Spitze des Eisbergs. Laut dem Beratungsunternehmen Accenture werden 80 Prozent aller Digitalisierungsprojekte noch in der Pilotphase abgebrochen oder waren nicht erfolgreich. Einer Befragung des Hersteller Fujitsu unter fast 200 Einzelhändlern zufolge, klagten 19 Prozent über mindestens ein gescheitertes Digitalprojekt in den vergangenen zwei Jahren. Der durchschnittliche Schaden lag bei über 330'000 Euro. Ähnliche Zahlen liefert der «CHAOS-Report», den die Standish Group seit 1994 herausgibt und in dem jedes Jahr mehrere Zehntausend IT-Projekte evaluiert werden. «Nur circa ein Drittel davon wird mit Erfolg abgeschlossen, in gut der Hälfte gibt es Probleme und 20 Prozent scheitern demnach komplett», konstatiert Kammermeier. Der Consultant kann die Zahlen zumindest zum Teil bestätigen: «Ich erlebe es häufig, dass Projekte aus dem Budgetrahmen laufen oder sich stark verzögern.»
Im Folgenden die vier wichtigsten Gründe, warum Digitalprojekte schiefgehen.
Kultur
«Projekte scheitern in der Regel an den Menschen und nicht an Methoden oder Instrumenten», betont Margaret Dawson, Vice President of Product Portfolio Marketing bei Red Hat. «Anstatt die Technologie in der IT-Organisation an die erste Stelle zu setzen, sollten Unternehmen lieber mit der Kultur beginnen, und zwar einer offenen Kultur.» Einer der häufigsten kulturellen «Blocker» sei der hierarchische Führungsstil in vielen Unternehmen. «Eine digitale Transformation kann kein Diktat von oben sein», warnt Dawson. Es sei wichtig, alle in ein Projekt einzubeziehen, gemeinsam über neue Ideen nachzudenken und auf dieser Basis ebenfalls gemeinsam Entscheidungen zu treffen.
«Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass sie etwas bewirken können», erklärt die Red-Hat-Managerin. Auch Markus Kammermeier sieht im menschlichen Miteinander einen wesentlichen Erfolgsfaktor: «Wenn ich die Akzeptanz der Betroffenen nicht früh im Blick habe, dann ist die Gefahr gross, dass Projekte schiefgehen oder sich zumindest stark verzögern.»
In Deutschland ist es oft die Angst vor Veränderung, die Digitalisierungsprojekte blockiert: «Wir scheitern auch an einer mangelnden Risikokultur, der Fähigkeit, Fehler und Misserfolge als positive Lernerfahrung zu verstehen», sagt Eberhardt Veit, Vorsitzender des Accenture-Industrial-Equipment-Beirats. Laut Kammermeier müssen diese Ängste unbedingt ernst genommen und adressiert werden: «Eine gute Kommunikation und eine professionelle Veränderungsbegleitung sind eminent wichtige Erfolgsfaktoren in einem Digitalisierungsprojekt. Technologie allein kann keine digitale Transformation bewirken.»
“Projekte scheitern in der Regel an den Menschen und nicht an Methoden oder Instrumenten.„
Margaret Dawson, Vice President of Product Portfolio Marketing bei Red Hat
Um Veränderungen auf verschiedenen Ebenen greifbar zu machen und daraus konkrete Handlungen ableiten zu können, empfiehlt Kammermeier das «Logical Levels of Change»-Modell, das von dem Trainer und Berater Robert Dilts Mitte der 1980er-Jahre entwickelt wurde. Es geht davon aus, dass menschliches Denken und Verhalten auf verschiedenen Ebenen beeinflusst werden kann, die hierarchisch aufeinander aufbauen: Die Umwelt, in der wir uns befinden, beeinflusst unser Verhalten, dieses wiederum unsere Fähigkeiten und Fertigkeiten, welche direkt Einfluss auf unsere Werte und Glaubenssätze haben. Darüber liegen die Ebenen der Identität und schliesslich die des «Seins», einer spirituellen Dimension, auf der die Frage nach dem Sinn des Lebens beantwortet wird.
Um nun eine Veränderung auf einer Ebene zu erzielen, muss man mindestens eine Ebene darüber ansetzen. Statt also beispielsweise das Verhalten direkt beeinflussen zu wollen, gilt es, die Fähigkeiten und Kenntnisse der Betroffenen zu entwickeln. Dabei können förderliche Glaubenssätze wie «Neue Software erleichtert unsere Arbeit» helfen.
Methoden wie das Dilts-Modell oder ähnliche Verfahren aus dem Bereich des Neuro-Linguistischen Programmierens stossen bei Psychologen allerdings auf Kritik. Uwe P. Kanning vom Lehrstuhl für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück bezeichnet die Vorstellung, man könne dadurch das Verhalten von Mitarbeitern schnell und einfach verändern, als «naiv».
Manche Experten halten den Faktor Unternehmenskultur ohnehin nicht für entscheidend. «Wenn Digitalisierungsprojekte scheitern, wird das oft auf kulturelle Probleme geschoben», sagt etwa Carlo Velten, Gründer und CEO des Beratungsunternehmens Cloudflight. «Ich halte das für Unsinn. Niemand weigert sich, eine neue Lösung einzusetzen, wenn diese viel besser ist als die alte.»
Veltens Ansicht wird durch eine Umfrage gestützt, die das Beratungsunternehmen Accenture anlässlich einer Studie für das World Economic Forum durchgeführt hat. 84 Prozent der befragten Arbeitnehmer waren von den Auswirkungen digitaler Technologien auf ihren Job begeistert, 66 Prozent äusserten die Überzeugung, dass digitale Technologien die Qualität ihrer Arbeit verbessern. «Die Belegschaft ist - allein durch die nachrückenden Millennials - bereits wesentlich weiter als gedacht», heisst es dazu in der Accenture-Studie «Ein neuer Weckruf zur Digitalisierung».
Komplexität
Nach der Erfahrung von Cloudflight-CEO Carlo Velten wird das Thema technische Komplexität häufig unterschätzt. Dabei können Fehlentscheidungen bei der Technologiewahl zu Projektbeginn bereits den Grundstein für ein Scheitern legen: «Welche Architektur, welche Technologien, welchen Cloud-Provider und welches Datenmodell ich wähle, entscheidet später bei der Entwicklung, Implementierung und Anpassung über Erfolg oder Misserfolg», ist der Analyst überzeugt.
Markus Kammermeier von Change42 empfiehlt, Prinzipien aus dem Lean Development anzuwenden, um der Komplexität in Digitalisierungsprojekten Herr zu werden: «Es ist in Ordnung, gross zu denken, man sollte aber so klein wie möglich starten und von Anfang an Orientierungsphasen einplanen», empfiehlt der Consultant, «Minimum Viable Products (MVPs) sollten deutlich bewusster in der Projektplanung genutzt werden. Das gilt für Technologien, Produkte und Prozesse.»
“Wenn Digitalisierungsprojekte scheitern, wird das oft auf kulturelle Probleme geschoben.„
Carlo Velten Gründer und CEO von Cloudflight
Ein Knackpunkt in jedem Digitalisierungsprojekt ist der Übergang vom Proof of Concept (PoC) in den Produktivbetrieb. «Häufig wird nicht berücksichtigt, dass zu einem neuen Geschäftsmodell mehr gehört, als nur das Produkt oder der Service», sagt Velten. «Wer kümmert sich um Infrastruktur, Sicherheit und Lizenzmanagement?, Wer macht das Marketing und den Kundensupport?, Wie stelle ich einen 24x7-Betrieb sicher?», seien einige der Fragen, die im Vorfeld beantwortet werden müssen.
Auch die Kosten für eine solche Service- und Betriebsmannschaft würden in vielen Fällen unterschätzt: «Oft sind die Aufwände für Kundenakquise, Abrechnung, Cloud-Ressourcen, Service- und Lizenzmanagement so hoch, dass das Unternehmen mit jedem weiteren Kunden Geld verliert», so Carlo Velten.
Selbst die Arbeitsteilung, das Erfolgsrezept der industriellen Revolution, führt nach Ansicht der Berater von Accenture zu zusätzlicher Komplexität und bremst so die Digitalisierung. «Von der Chefetage bis zum Pförtner herrscht die perfekte Abgrenzung», heisst es in der «Weckruf»-Studie. Statt Geschäftsprozesse immer effizienter und schlanker zu machen, sei ein Perspektivenwechsel notwendig. «Anstatt vom Kunden und seinem Nutzen zu kommen, orientieren sich die meisten Digitalisierungsprogramme weiterhin an den Nutzungspotenzialen der Technologie», bemängelt Patrick Vollmer, Zentraleuropa-Geschäftsführer bei Accenture.
Kompetenz
Ein Mangel an Kompetenz und Know-how kann Digitalisierungsprojekten ebenfalls zum Verhängnis werden. «Die IT steht am Wendepunkt», erklärt Markus Kammermeier, «sie muss sich vom ‚Wächter der Steckdose‘ zum Sparringspartner der Geschäftsbereiche entwickeln.» Dies erfordere einen enormen Sprung im Reifegrad, der nur mit entsprechenden Kompetenzen und dem richtigen Mindset zu schaffen sei. «Viele Mittelständler sind bereits ein gutes Stück vorangekommen und haben ein gutes Demand-Management in ihrer IT etabliert», führt Kammermeier aus. «Aber die nächste Stufe, strategischer Berater der Business-Units zu werden, ist noch einmal ein Riesenschritt für die IT-Abteilungen.»
Accenture fordert daher neue Ausbildungs- und Führungskonzepte - nicht nur für die IT. «Die Digitalisierung verändert nicht nur die Interaktion mit dem Kunden. Sie beeinflusst die komplette Arbeitsweise», heisst es im «Neuen Weckruf». Digitalkompetenz müsse in allen Ebenen aufgebaut werden. Der CEO braucht sie beispielsweise, um zwischen den widersprüchlichen Interessen der Führungskräfte vermitteln zu können. «Je grösser ein Unternehmen, desto schwieriger wird es, die Egos und die Leute zusammenzubringen», sagt Carlo Velten. Um Geschäftsprozesse wirklich effizient digitalisieren und automatisieren zu können und um mit den Daten der Fachbereiche neue Geschäftsmodelle und Services generieren zu können, brauche es eine enge Zusammenarbeit. «Wenn da der Wurm drin ist, kann man das Projekt eigentlich gleich knicken.»
«Ratgeber»
So bringen Sie Ihr Digitalisierungsprojekt garantiert zum Scheitern
Zehn nicht ganz ernst gemeinte Tipps zur Digitalisierung:
1. Denken Sie gross: Bei der Digitalisierung darf kein Stein auf dem anderen bleiben. Nicht umsonst heißt es „Disruption“. Fackeln Sie also nicht lange, sondern ersetzen Sie auf einen Schlag Ihre Manufaktur durch eine vollautomatisierte Smart Factory, in der autonome Roboter in Sekundenschnelle massenhaft Produkte in Losgrösse eins produzieren können.
2. Seien Sie grosszügig: Investieren Sie gleich am Anfang mindestens einen zweistelligen Millionenbetrag. Niemand wird es wagen, ein Projekt zu stoppen, in dem bereits derart viel Geld verbrannt wurde. Falls Sie nicht wissen, wohin mit den Unsummen: Berater sind eine hervorragende Möglichkeit, sehr viel Geld in kurzer Zeit loszuwerden. Weitere Tipps gibt Ihnen gerne Ursula von der Leyen.
3. Seien Sie ungeduldig: Die Welt wartet nicht auf Zauderer, geben Sie deshalb richtig Gas und setzen Sie sich herausfordernde Ziele. Drei Monate Vorlauf sollten für Ihr Smart-Factory-Projekt vollauf genügen.
4. Seien Sie misstrauisch: Niemand in Ihrem Unternehmen arbeitet freiwillig, das sollte Ihnen klar sein. Überwachen Sie deshalb alle Projektmitarbeiter auf Schritt und Tritt. Fordern Sie regelmässige Status-Updates, am besten im Stundentakt.
5. Werden Sie agil: Zu jedem Digitalisierungsprojekt gehört ein agiles Mindset. Führen Sie daher Scrum, Kanban und anderes agiles Gedöns ein. Selbstverständlich lassen Sie sich jede in den Teams getroffene Entscheidung zum Absegnen vorlegen. Oder was haben Sie an Punkt 4 nicht verstanden?
6. Kommunizieren Sie richtig: Kommunikation ist das A und O in jedem Change-Prozess. Wichtig ist dabei vor allem, dass Ihre Mitarbeiter keinen Wind von Ihren wahren Plänen bekommen. Reden Sie beim Abbruch der Fabrikanlagen beispielsweise von «Verschönerungsmassnahmen», Massenentlassungen lassen sich gut als «notwendige Anpassungen» deklarieren.
7. Übernehmen Sie Verantwortung: Klimaschutz, Umwelt und soziale Gerechtigkeit sollten Ihnen am Herzen liegen. Worte wie «ganzheitlich» und «nachhaltig» dürfen daher in keiner Projektplanung fehlen, auch wenn Sie für Ihre Smart Factory hektarweise Regenwald roden und Tausende von Arbeitsplätzen abbauen.
8. Glauben Sie an Technik: Ganz nach dem Motto «There is an app for it», sollten Sie jedes Problem mit Technik erschlagen. Die Kommunikationskultur in Ihrem Unternehmen ist miserabel, die Leute reden nicht miteinander? Führen Sie Teams, Yammer, Trello und zehn andere Social-Collaboration-Tools ein und zwingen Sie jeden, mindestens einmal pro Stunde einen Yammer-Beitrag zu schreiben oder an einem Teams-Meeting teilzunehmen.
9. Identifizieren Sie den Schuldigen: Falls das Projekt wider Erwarten schiefgeht, brauchen Sie natürlich einen Sündenbock. Feuern Sie in diesem Fall den Projektleiter. Falls Sie selbst der Projektleiter sind, feuern Sie irgendjemanden.
10. Ziehen Sie keine Bilanz: Digitalisierungsprojekte dürfen keinesfalls an ihren Ergebnissen gemessen werden. Erklären Sie Ihr Projekt daher irgendwann als «erfolgreich beende». Alternativ können Sie auch erklären, die Rahmenbedingungen hätten sich geändert, daher müsse man die Projektziele neu justieren. Heuern Sie dafür am besten einen weiteren Schwung Berater an.
Konsequenz
Digitalisierungsprojekte scheitern oft gar nicht explizit - sie versanden einfach. Von den vielen Hundert Pilotprojekten und Minimum Viable Products (MVPs) schaffen es nur wenige in den Produktiveinsatz. Viele Digitalisierungsprojekte werden darüber hinaus isoliert voneinander konzipiert, entwickelt und umgesetzt. Diese Puzzleteile mögen zwar für sich genommen sinnvoll sein, ergeben aber keine nachhaltige Gesamtstrategie. «Die grosse Anzahl von MVPs oder Pilotprojekten vernebelt die Sicht auf das Ganze», betont Accenture-Geschäftsführer Thomas Rinn.
Für Carlo Velten ist die konsequente Verzahnung von Projekten ein wesentlicher Erfolgsfaktor. «An erster Stelle steht die Frage, ob das Projekt Bestandteil einer echten Digitalstrategie ist», so der Analyst. Bei Design-Thinking-Workshops und Minimum Viable Products werde häufig den eigentlich wichtigen Fragen aus dem Weg gegangen: Brauchen die Nutzer das wirklich? Können Sie das Produkt überhaupt bedienen und sind sie bereit, dafür zu bezahlen? «In der Digitalisierung gab es in der Vergangenheit viel Aktionismus», stellt Velten fest. «Man hat einfach jede Menge Projekte gestartet und gehofft, dass ein paar davon erfolgreich sind.» Oft scheitern laut Velten Digitalisierungsprojekte auch an der Realität in der jeweiligen Branche: «Die jungen Leute in den Digital Labs sind zwar kreativ und innovativ, kennen aber das eigentliche Business oft nicht gut genug». Gerade Mittelständler verschätzten sich häufig bei den Kosten und der Komplexität solcher Projekte: «Viele glauben beispielsweise, sie könnten mit einer eigenen IoT-Plattform Geld verdienen, sind aber viel zu klein, um mit den Ökosystemen der Cloud-Provider oder grosser Software-Hersteller wie SAP konkurrieren zu können», sagt Velten. «Es gibt keine Existenzberechtigung für Plattform Nummer 20.»
Falsche Kennzahlen und Anreize können nach Ansicht von Accenture ebenfalls Hürden auf dem Weg zur erfolgreichen Digitalisierung darstellen. Unternehmenserfolg werde nach wie vor an klassischen Kennzahlen und Marktanteilen gemessen, Projekte müssten in drei bis vier Jahren ihre Investitionen wieder hereinspielen, um als erfolgreich zu gelten. Den Accenture-Experten zufolge sollten sich Unternehmen vielmehr an Fragen wie diesen orientieren: «Entsteht durch die Digitalisierung ein neues Geschäftsmodell?», «Wie entwickeln sich die Nutzerzahlen?» und «Wie schnell lassen sich Partner an eine digitale Plattform anbinden?»
Fazit & Ausblick
Die Corona-Krise zeigt es deutlich: Digitalisierung ist für die meisten Unternehmen längst keine Option mehr, sondern ein absolutes Muss. Ohne digitale Transformation sind viele in solchen Ausnahmesituationen - aber nicht nur in diesen - kaum mehr überlebensfähig.
Umso bedauerlicher ist es, dass viele Digitalisierungsprojekte nach wie vor scheitern oder zumindest nicht die erhofften Ergebnisse bringen. Die Verantwortlichen müssen auf vielen Ebenen nachjustieren, um die Projekte im Einzelnen und die Digitalisierung im Ganzen konsequenter voranzutreiben und zum Erfolg zu führen. Die Unternehmenskultur braucht mehr Agilität; Eigeninitiative und Eigenverantwortung sind zu fördern. Digitalisierung muss darüber hinaus unternehmensübergreifend betrachtet werden, der Sinn und Zweck von Projekten ist an ihrem Beitrag zur Gesamtstrategie und ihrem Kundennutzen zu messen. Schliesslich darf auch die Komplexität von Digitalisierungsprojekten nicht unterschätzt werden. Die Transformation erfordert neue Kompetenzen auf jeder Ebene, vom CEO bis zu den Mitarbeitern in der IT und den Fachbereichen. Nur so lässt sich die Erfolgsquote steigern. «Mit jedem gescheiterten Digitalisierungsprojekt verspielen wir die Akzeptanz und das Vertrauen der Anwender», sagt Kammermeier. «Das ist sehr schade.»
Im Gespräch mit Uwe P. Kanning von der Hochschule Osnabrück
Uwe P. Kanning vom Lehrstuhl für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück erklärt, warum Mitarbeiter-Motivation eigentlich ganz einfach ist - und warum Manager die Erkenntnisse der psychologischen Forschung konsequent ignorieren.
Computerworld: Herr Professor Kanning, warum scheitern so viele Digitalisierungsprojekte?
Uwe P. Kanning: Häufig liegt es einfach daran, dass die Mitarbeiter nicht mitziehen. In manchen Fällen sind es auch schlichtweg Managementfehler, die zum Scheitern führen.
Computerworld: Gehen wir mal davon aus, dass die Managemententscheidung sinnvoll und richtig war. Warum erkennen Mitarbeiter das nicht?
Kanning: Viele erleben solche Digitalisierungsprojekte als Bevormundung. Die Mitarbeiter arbeiten vielleicht schon seit Jahren oder Jahrzehnten in ihrem Job. Ihrer Ansicht nach läuft alles sehr gut. Und jetzt kommt jemand von ganz oben, vielleicht vier Managementebenen über ihnen, und erklärt ihnen, dass sie alles anders machen müssen. In der Psychologie würde man sagen, dass sie so etwas wie Reaktanz erleben. Sie werden gezwungen, etwas zu verändern, was sie gar nicht verändern wollen. Das führt erst einmal zur Gegenwehr. Oft verstehen die betroffenen Mitarbeiter auch gar nicht, was von ihnen erwartet wird, oder - ganz pragmatisch - sie haben einfach Angst um ihren Arbeitsplatz. Das ist absolut nicht irrational. Ziel vieler Digitalisierungsprojekte ist ja eine Effizienzsteigerung, sprich: mit weniger Mitarbeitern soll mehr erreicht werden.
Computerworld: Was sollen die Verantwortlichen tun?
Kanning: Das ist im Grunde ganz einfach. Ich muss die Menschen ernst nehmen. Es ist sehr wichtig, von Anfang an im engen Dialog mit den Mitarbeitern zu stehen. Ich muss verständlich machen, warum Veränderung notwendig ist. Ich muss den Betroffenen erklären können, welche Vorteile sie davon haben. Ich muss die Mitarbeiter in den Veränderungsprozess einbinden und ihre Ideen mit aufnehmen. Die Mitarbeiter an der Basis kennen die Prozesse und die möglichen Probleme sehr viel besser als das Management drei Ebenen darüber. Dieses wertvolle Wissen darf ich nicht ignorieren. In grösseren Unternehmen ist es zu empfehlen, umfangreiche Veränderungsprozesse durch regelmässige Mitarbeiterbefragungen zu begleiten, um herauszubekommen, was an der Basis überhaupt angekommen ist, wie die Stimmung ist und wo es Ängste gibt. Es muss auch klar sein, dass man nicht jede Seele retten kann. Ich werde nicht jeden überzeugen können. Das geht vielleicht noch in einem kleinen Betrieb mit zehn Mitarbeitern, aber nicht in einem Fünftausend-Mann-Unternehmen. Wenn Arbeitsplätze wegfallen, bringt es nichts, die Leute anzulügen. Hier gilt es, Unterstützung, Hilfe und Alternativen anzubieten. Manche Mitarbeiter können vielleicht umgeschult werden, andere über eine Altersteilzeitregelung früher in den Ruhestand gehen.
Computerworld: Wie kann man Menschen überhaupt dazu bringen, ihr Verhalten langfristig zu ändern?
Kanning: Eine Möglichkeit, ist das Management by Objectives. Ich sage den Mitarbeitern nicht, was sie wie zu tun haben, sondern welche Ziele erreicht werden sollen.
Computerworld: Wie müssen Ziele aus Sicht der Forschung beschaffen sein, damit sie auch wirksam sind?
Kanning: Sie müssen konkret und in einem überschaubaren Zeitraum erreichbar sein. Grössere Projekte sollte man in mehrere Abschnitte mit definierten Teilzielen einteilen. Es muss auch klar sein, welchen Beitrag jeder Einzelne dazu leisten muss. Die Ziele müssen herausfordernd sein, dürfen die Mitarbeiter aber auch nicht überfordern. Ein weiteres wichtiges Element ist Feedback. Es muss regelmässig überprüft werden, ob das Projekt noch auf dem richtigen Weg ist, und, falls es zu Abweichungen kommt, mit welchen Massnahmen gegengesteuert werden kann. Und der Mitarbeiter muss etwas davon haben, wenn er sich für die Zielerreichung anstrengt, etwa weil er damit seinen Arbeitsplatz sichert. Auch finanzielle Anreize können motivierend sein.
Computerworld: Warum verstecken sich Manager dann lieber hinter Modellen und Coaching-Methoden, statt diesen Empfehlungen zu folgen?
Kanning: Wenn ich Mitarbeiter ernst nehme, mir ihre Sorgen, aber auch ihre Ideen anhöre und im Projekt berücksichtige, dann ist das viel mehr Arbeit als sie einfach auf ein Motivationsseminar zu schicken. Es besteht auch die Gefahr, dass ich unangenehme Wahrheiten zu hören bekomme, Fehler eingestehen und meine Denkweise korrigieren muss. Für Manager alter Schule ist das schwierig. Sie sind es gewohnt, den Kurs vorzugeben, dem die anderen ohne Murren folgen. Da ist es einfacher zu sagen, das Problem sind die anderen, und die müssen jetzt mal geschult werden. Diese Vorstellung, dass man Probleme löst, indem man seine Leute auf ein Tagesseminar schickt, ist ja weit verbreitet.
Computerworld: Fehlt nicht häufig auch das Wissen, welche Massnahmen wirklich sinnvoll sind?
Kanning: Das ist leider so. Selbst in den Personalabteilungen liest man die einschlägige Literatur nicht. Ich beschäftige mich in meiner Forschung viel mit dem Thema Personalauswahl. Da werden auch heute noch völlig verrückte Massnahmen durchgeführt, deren Wirkungslosigkeit schon seit Jahrzehnten gut dokumentiert ist.
Computerworld: Aktuell wird ja viel über agile Methoden im Projektmanagement geredet und geschrieben. Ist das Esoterik?
Kanning: Nein, da ist etwas dran. Im Kern stimmt es ja, dass Unternehmen schneller, flexibler und innovativer werden müssen. Über Agilität sollte man sich Gedanken machen, zumindest in Konzernen und bei grossen Mittelständlern. Ob der Friseursalon, die Frittenbude oder die Bäckerei agil werden müssen, weiss ich nicht. Wie beim Change-Management lautet die Frage: Wie setze ich das um? Die Gefahr ist gross, dass unter dem Label Agilität zweifelhafte Methoden, Coachings und Trainings angeboten werden.