01.10.2012, 09:46 Uhr

SwissDRG als Reformtreiber?

Das neue Fallpauschalensystem SwissDRG könnte sich als Auslöser für Reformen im Gesundheitswesen erweisen. Dabei ist die IT ein Schlüssel zum Erfolg – für Patienten, Ärzte und Versicherungen.
Bringt das neue Fallpauschalsystem SwissDRG eine Reform im Gesundheitswesen mit sich?
Die Spitalfinanzierung nach SwissDRG wird häufig als Schritt hin zum gläsernen Patienten verteufelt. Seit Jahresanfang müssen Mediziner in Schweizer Spitälern ihre Behandlungen in ein starres Raster einordnen und bekommen nur noch einen Pauschalbetrag vergütet. Ärztliche Leistungen werden damit vergleichbar, Patienten und ihre Leiden allerdings auch. Wenn eine Versicherung ermittelt, dass ein Facharzt seine Patienten ausschliesslich in die Fallgruppe mit den höchsten Schweregraden einsortiert, damit er maximal vergütet wird, kann das Unternehmen dem Mediziner auf die Spur kommen. Zudem lassen sich Patienten identifizieren, die sich wegen eines komplizierten Krankheitsbildes von Ärzten unterschiedlichster Fachrichtungen behandeln lassen. Denn die Mediziner sind gezwungen, eine Diagnose eindeutig einer Kategorie zuzuordnen. Idealerweise geschieht die Einordnung am Computer und die Daten werden elektronisch an die Versicherung übermittelt. Ein solches Szenario ist in der Berliner Charité – einem der grössten Universitätsspitäler Europas – bereits Realität. Das dortige SAP-System arbeitet mit einer iPad-App, mit der die Ärzte auf Visite gehen können, um zum Beispiel Diagnosen zu prüfen. Im nördlichen Nachbarland gilt das Fallpauschalensystem schon seit über zehn Jahren. Das deutsche DRG (Diagnosis Related Groups) war die Grundlage für das SwissDRG.

Alle rechnen mit SwissDRG

In der Schweiz wurde vor gut fünf Jahren die Einführung von Fallpauschalen beschlossen. Laut Christoph Krammer, Schweizer Geschäftsführer für das Gesundheitswesen bei Accenture, haben die grösseren Spitäler die DRG-Einführung hinsichtlich der Tools rechtzeitig geschafft. Unterschiede habe es bei den Lieferanten gegeben. Die rund 100 grösseren Häuser wie Universitäts-, Zentrums- oder Kantonsspitäler haben mehrheitlich Lösungen für Patientenadministration und Rechnungswesen von grossen Herstellern im Einsatz. Sie waren am Stichtag bereit. Bei kleineren Lieferanten kamen die notwendigen Software-Releases teilweise erst sehr spät, sodass diese Häuser wenig Vorlauf zum Testen hatten. Noch Anfang Jahr mussten die IT-Verantwortlichen das neue System prüfen – dabei hätte die Software schon seit dem Jahreswechsel nach SwissDRG kodieren und Rechnungen erstellen müssen. «Heute sind alle rund 320 Schweizer Spitäler in der kontinuierlichen Anwendung der Systeme», weiss der Accenture-Spezialist. Der augenscheinlich erfolgreiche Abschluss der SwissDRG-Einführung bedeutet aber nicht, dass das System rund läuft. Mitte des Jahres berichtete etwa der Vertreter eines Schweizer Spitals, seine Einrichtung habe alle Rechnungen ordnungsgemäss verschickt. Der CEO einer grossen Krankenversicherung hielt dem ent­gegen, es seien im Vergleich mit dem Vorjahr nur 60 Prozent der Rechnungen eingegangen. Diese Ausfälle wurden laut Krammer zum Teil  bevorschusst und pauschal abgegolten. Kantonale Verwaltungen hätten in den ersten Monaten auch Akontoleistungen erbracht, um die Liquidität der Spitäler zu sichern. Auch habe es Gespräche mit Banken über zusätzliche Liquidität gegeben – für den Fall, dass Rechnungen nicht rechtzeitig gestellt und bezahlt werden können. Allerdings belegen die Fälle, dass SwissDRG auch bei 100-prozentiger Verbreitung in den Spitälern noch nicht 100-prozentig angekommen ist. Lesen Sie auf der nächsten Seite: IT als Helfer im Spital

IT als Helfer im Spital

Die Abrechnung von Fallpauschalen ist gesetzlich vorgeschriebene Pflicht, wie die Spitäler sich mit Pauschalentgelten arrangieren, die Kür. Die Ärzteschaft beklagt schon heute den grossen Anteil an administrativen Aufgaben während des Tagesgeschäfts. Laut einer Umfrage der Ärztevereinigung FMH verbringen  Assistenzärzte fast gleich viel Zeit mit Dokumentationsarbeiten wie mit patientennahen Tätigkeiten. Von gestrafften Prozessen – etwa einer elektronischen Patientenakte – versprechen sich nur ein Viertel der Mediziner eine Linderung. FMH-Vorstand Pierre-François Cuénoud fordert, die Abläufe und die IT-Infrastruktur in den Spitälern so zu gestalten, dass sich der administrative Aufwand in Grenzen hält. Heute weisen Hausärzte vielfach Patienten in bestimmte Spitäler ein, ohne dass die Häuser den wahren Grund kennen. Diese Zuweisungen liessen sich mithilfe eines CRM-Systems in Zukunft steuern, indem Spitäler den niedergelassenen Medizinern Einblick in die Bettenbelegung oder den Operationsplan geben. Eine andere Anwendung sind RFID-Funkchips für administrative Arbeiten: Eine Bettenverlegung innerhalb eines vernetzten Spitals lässt sich automatisch im Computer abgleichen, wenn das Inventar mit RFID markiert ist. Beides bringt Kostenersparnis und erleichtern das medizinische Personal von den administrativen Aufgaben.

Knappe Kassen

Technologien wie CRM oder RFID sind gemäss Accenture-Spezialist Krammer in der Schweiz noch selten im Einsatz. Die neuen Pauschal­abrechnungen lassen das Geld für Investitionen knapper werden. Dann ist SwissDRG womöglich ein Anstoss für grundsätzliche Überlegungen zur Spitalfinanzierung. Deckt die Grundversorgung nicht die Kosten, müssen andere Wege zur Profitabilität gefunden werden. «Wie die Wirtschaft müssen sich auch Spitäler über die Grundversorgung hinaus auf ihre Alleinstellungsmerkmale konzentrieren», sagt Krammer. Indes ist der Weg dorthin meistens noch lang: Für eine Prozess­optimierung müssten Spitäler heute mit der Bereinigung von Datenbanken starten. Dann wären in den meisten Fällen die vorhandenen Klinikinformationssysteme zu konsolidieren. Ist die Infrastruktur optimiert, müssten Prozesse geprüft und allenfalls gestrafft werden. Alle Leistungen jenseits des Alleinstellungsmerkmals können allenfalls ausgelagert werden. Aus Deutschland – wo Fallpauschalen seit zehn Jahren Realität sind – kommen alarmierende Signale. Laut einer Analyse der Jahres­abschlüsse von über 1000 Krankenhäusern droht schon heute jeder siebten Klinik die Insolvenz. Nur etwa die Hälfte aller Häuser erwirtschaftet Erträge, mit denen sie ihre Unternehmenssubstanz erhalten kann. Dabei schneiden hoch spezialisierte Kliniken wirtschaftlich meist besser ab als ihre breiter aufgestellten Pendants. Accenture als einer der Autoren des «Krankenhaus Rating Reports 2012» rät, rasch gegenzusteuern – mit Digitalisierung, Spezialisierung und Verbundbildung. Der Anstoss zum Zusammenschluss zwischen Inselspital und Spitalnetz Bern ist für Spezialist Krammer ein Erfolg versprechendes Exempel. Lesen Sie auf der nächsten Seite: Versicherung als Buhmann

Versicherung als Buhmann

Die Schweizer Krankenversicherungen zahlen jährlich über 62 Milliarden Franken für medizinische Leistungen. Die grosse Mehrzahl der Fälle wird nach Fallpauschalen abgegolten. Marktführer Helsana hatte Mitte Jahr nur von 13 Prozent der Kliniken keine einzige DRG-Rechnung erhalten. Laut Olaf Schäfer, Leiter Leistungsmanagement, gibt es aber auch bei akkurat gestellten Rechnungen noch Probleme. Die Versiche­rungskonzerne bemängeln, dass Spitäler teilweise DRGs berechnen, die nicht mit den medizinischen Daten korrespondieren. Charles Favre, Präsident des Spitalverbands H+, hält dagegen, dass einzelne Versicherungen gesetzeswidrig alle medizinischen Daten verlangen und sich weigern, korrekt gestellte Rechnungen zu zahlen. Die hier klaffende Gesetzeslücke wird per 1. Januar 2013 geschlossen. Die neue Regelung sieht vor, dass die Spi­täler gleichzeitig mit den administrativen Informationen auch umfassende medizinische Angaben liefern müssen. Der Versand erfolgt allerdings in separaten Datensätzen, der Bezug lässt sich mittels einer Identifikationsnummer herstellen. Empfänger ist eine neu zu installierende Annahmestelle der Versicherungen. Nur diese hat Zugriff auf die medizinischen Daten, was der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte prüfen soll. Die auf eHealth spezialisierte Anwältin Ursula Widmer sieht damit dem Datenschutz bei Patientendaten ausreichend Rechnung getragen. «Die Neuregelung verhindert, dass die Versicherer die Daten zu anderen Zwecken als zur Rechnungskontrolle auswerten können», lobt Widmer.

Weg zu SwissDRG 2.0

Die neu geregelte Datenübermittlung an die Versicherungen ist losgelöst von notwendigen Reformen, die sich schon im ersten Jahr des DRG-Betriebs abzeichnen. Die fünf Schweizer Universitätsspitäler kritisieren etwa, dass ihre Aufwendungen für Ausbildung und Forschung nicht adäquat im Fallpauschalensystem ab­gebildet sind. Bernhard Wegmüller, Direktor des Spitalverbands H+, doppelt nach, dass das System auch komplexe
Behandlungen und Hochkostenfälle nicht genügend erfasse. Die Vergleichbarkeit der medidizinischen Leistungen könne nicht erreicht werden. Damit würde SwissDRG das ursprünglich avisierte Ziel verfehlen. Ein Ziel hat SwissDRG in jedem Fall erreicht: Spitälerverwaltungen, Versicherungen, Ärzte und das medizinische Personal mussten althergebrachte Prozesse überdenken. Insofern ist das Fallpauschalensystem ein Treiber, um sich auch künftig über die eigene Organisation Gedanken zu machen. Dabei können die Beispiele und Kalkulationen aus Deutschland als Blaupause dienen – auch, damit es hierzulande nicht zu finanziellen Engpässen im Gesundheitswesen kommt.


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