27.05.2014, 10:05 Uhr
«Wir stehen vor einer neuen Epoche in der Computersimulation»
Simulationen auf Supercomputern dienen nicht nur dem Wetterdienst für seine Prognosen. Immer mehr Industrien bedienen sich der Rechenbolzen, um einen Wettbewerbsvorteil zu erhalten. Nun steht das Gebiet vor einem Quantensprung.
Supercomputer bedienen wegen ihrer ständig zunehmenden Leistungsfähigkeit immer neue Industriezweige. Computerworld unterhielt sich mit Alessandro Curioni, Head of Cognitive Computing & Computational Sciences vom IBM-Forschungslabor in Rüschlikon über die neusten Trends.
Computerworld: Sie beschäftigen sich mit Simulationen aller Art. Bevor wir ins Detail gehen: Wie hat sich der Bereich ganz generell in den letzten Jahren entwickelt?
Alessandro Curioni: Wir können von einer unheimlichen Leistungssteigerung profitieren. Grundsätzlich erhalten wir alle drei Jahre das Zehnfache an Rechenleistung. Oder anders ausgedrückt: Simulationen, die vor gut 15 Jahren auf dem schnellsten Supercomputer der Welt liefen, sind heute auf einem Notebook möglich. Gleichzeitig verfeinern und optimieren wir ständig die zugrunde liegenden Methoden und Algorithmen. Dadurch können wir heute einerseits Simulationen immer genauer und exakter durchführen. Andererseits sind wir in der Lage, ganz neue Problemstellungen anzugehen, die vor zehn Jahren noch undenkbar waren. Kurzum: Mit Simulationen werden Entwicklungen nicht nur möglich, sondern auch bezahlbar, die durch Experimente und theoretische Überlegungen alleine nicht zu erreichen sind.
Welche Branchen profitieren von diesen gesteigerten Kapazitäten?
Dies sind ganz verschiedene Industrien, darunter zahlreiche, für die Simulationen bisher zu aufwendig waren, um einen Mehrwert zu erzielen. Im Gegensatz dazu hat man beispielsweise in der Pharmaindustrie oder in der Autoindustrie schon sehr früh damit begonnen, weil die Voraussetzungen, um sich mit Simulationen einen Wettbewerbsvorteil zu sichern, schon gegeben waren. In der Materialwissenschaft kommen nun laufend neue Anwendungen hinzu. So haben wir in den letzten Jahren mit der Firma ABB Simulationen durchgeführt, um die Eigenschaften von Polymeren, die als Isolationsmaterialien für Hochspannungsleitungen eingesetzt weden, genauer zu verstehen und zu verbessern. Eine Thematik, die von grossem Interesse ist, denn ein substanzieller Teil der Energie geht auf dem Weg von der Erzeugung zum Abnehmer verloren. Deshalb will man neue Materialien designen, die möglichst robust gegenüber Umwelteinflüssen sind.
Konnten Sie die Ergebnisse der Simulationen in der Realität überprüfen?
In diesem Fall kann ich hierzu nichts sagen, weil wir nach Abschluss des Projekts das ganze Know-how an ABB übergeben haben. Aber ich kann Ihnen ein anderes, IBM-internes Projekt als Beispiel nennen. Dabei ging es um die Entwicklung eines neuen Materials für den Isolator im Transistor. Mithilfe von Simulationen kamen wir zum Schluss, dass sich Hafniumdioxid viel besser als andere sogenannte High-k-Materialien eignet. Diese Erkenntnisse konnten danach in Experimenten bestätigt und für die Weiterentwicklung der Transistoren verwendet werden. Dank der Simulationen konnte also ein für die weitere Skalierung der Transistoren und damit für die Entwicklung der nächsten Chipgenerationen absolut zentrales Problem fristgerecht gelöst werden.
Gibt es weitere Beispiele von Projekten, bei denen solche Verzögerungen dank Simulationen verkleinert wurden?
Simulationen können von Beginn weg ganz entscheidend für Forschungsprojekte und die Fortführung sein. Dies konnten wir beim sogenannten «Battery-500-Projekt» zeigen, bei dem wir einen Lithium-Luft-Akkumulator erforschen, der es schlussendlich erlauben würde, Elektroautos mit einer Reichweite von 800 Kilometern zu bauen. Bei diesem Projekt war zunächst die Wiederaufladbarkeit der Batterie ein zentrales Problem, deren Ursache man bei der Kathode vermutete. Dank Simulationen konnten wir aber erstmals aufzeigen, dass der Elektrolyt sich zersetzte. Dies konnten wir dann auch experimentell nachweisen und mit dem Wissen aus den Simulationen neue funktionierende Materialkombinationen aufspüren. In einem normalen Forschungssetting, basierend auf Experimenten, hätte das Problem wahrscheinlich zum Ende des Projekts geführt. Im Grunde genommen haben hier Computersimulationen eine ganze Forschungsrichtung gerettet. Denn nach den zunächst erdrückenden Ergebnissen hätte wohl niemand mehr in Richtung Lithium-Luft-Batterie weitergeforscht, wie wir es gemacht haben.
Lesen Sie auf der nächsten Seite: Interessiert sich die Industrie dafür?
Ist Ihre Forschung auf Interesse seitens der Industrie gestossen?
Das Interesse ist schon fast explodiert. Mittlerweile wird die Lithium-Luft-Batterietechnik von wenigstens drei grossen Konsortien weiterentwickelt, in denen Partner aus Wissenschaft und Industrie versammelt sind.
Gibt es neue Ergebnisse seit Ihrem Durchbruch vor jetzt doch schon vier Jahren?
Ja, es gibt eine sehr bedeutende neue Entwicklung, welche die Industrie sehr interessieren dürfte, da sie dazu beitragen kann, eine sehr kostengünstige, bessere Batterie zu finden. Lithium ist ein teurer, da seltener Rohstoff. Anhand unserer Forschungen haben wir erkannt, dass sich eine Natrium-Luft-Batterie mittelfristig wohl zügiger umsetzen lassen könnte. Dieser Batterietyp weist zwar eine weniger hohe, aber doch ausreichende Energiedichte als Lithium-Luft-Batterien auf, dafür wäre dieser Batterietyp aber auch sehr viel billiger.
CW: Wir stecken in der Schweiz und anderswo ja mitten in einer Energiewende. Eine der Herausforderungen wird sein, bessere Energiespeicher zu finden. Lassen sich die Ergebnisse aus dem «Battery-500-Projekt» auch für weitere Energiespeicher nutzen?
Sicherlich. Beim Akku fürs Elektroauto spielen neben der Energiedichte und den Kosten auch das Gewicht der Batterie eine Rolle. Dieses Kriterium fällt bei der Speicherung beispielsweise von Solarstrom in Haushalten im wahrsten Sinne des Wortes nicht ins Gewicht. Dort wird etwa das Kriterium «Raum» viel wichtiger, denn Sie wollen nicht ganze Zimmer Ihres Hauses opfern, nur damit Sie genügend Platz für Ihren Akku haben. Gerade für diese Anwendung wären günstige Natrium-Luft-Batterien interessant.
Gibt es weitere Branchen, die künftig von Simulationen profitieren könnten?
Ich möchte dies vor allem aus dem Blickwinkel der computergestützten Materialwissenschaft beantworten. Generell kommt jede Firma einer Branche einmal an einen Punkt, wo sie mit herkömmlichen Materialien und Methoden keinen Wettbewerbsvorteil gegenüber der Konkurrenz mehr erreicht. Spätestens dann ist es an der Zeit, nach neuen Forschungs- und Entwicklungsmöglichkeiten Ausschau zu halten. Zudem gibt es Verfahren, die noch ganz am Anfang stehen, etwa das 3D-Printing. Hier weiss eigentlich noch niemand, wie sich die «ausgedruckten» Bauteile oder Maschinenteile im Langzeit- und Dauerbetrieb gegenüber Komponenten verhalten, die ganz klassisch etwa durch Giessen oder Walzen entstanden sind. Bei letzteren Verfahren waren die Materialien der Hitze und dem Druck ausgesetzt – etwas, das beim 3D-Druck nicht der Fall ist. Hier muss also noch simuliert werden, wie sich diese Materialien am Einsatzort verhalten, ob sie etwa auch dauerhaft stabil sind oder ob sich nach einer gewissen Zeit Risse bilden.
Wie sehen Sie die Zukunft der Computersimulationen?
Simulationen werden immer neue Aufgaben erhalten, weil einerseits die Computerleistung immer mehr auch das Designen neuer Materialien erlaubt. Andererseits werden immer mehr Industrien an den Punkt kommen, an dem Simulationen für die Lösung eines zentralen Problems matchentscheidend sein können. Ein Beispiel wäre hier die Öl- und Gasindustrie. Wie man weiss, ist es relativ einfach, 50 Prozent eines Ölfelds zu fördern. Wie kommt man aber an den Rest, und zwar so, dass das Ganze noch ökonomisch sinnvoll ist? Dies sind Aufgaben, an denen wir derzeit mit Simulationen arbeiten.
Eine weitere Änderung wird regelrecht epochale Fortschritte erlauben. Ich denke hier an den Beizug von Big-Data-Berechnungen und von kognitivem Computing. Früher basierte die Forschung auf Theorie und Experiment.
Seit einiger Zeit wird sie mit Simulationen als dritten Pfeiler ergänzt. Doch dies wird in Zukunft nicht mehr reichen. Nehmen wir nochmals das Beispiel der Lithium-Luft-Batterie. Mithilfe von Simulationen konnten wir zwar feststellen, dass der eine Elektrolyt untauglich war – und wir konnten mit diesem Wissen quasi manuell neue auswählen. Nun könnte man aber auch noch mannigfaltige weitere Komponenten mit in die Gleichung einbeziehen, etwa die Bedingung, dass das zu findende Material nicht giftig und leicht entzündlich ist oder aus einer Region stammt, die politisch stabil ist. Sie sehen, hier spielen noch viele andere, wissensbasierte Informationen mit, die in irgendeiner Datenquelle eigentlich schon vorhanden sind. Daher bin ich der Meinung, dass die Verbindung aus Simulation und Big-Data-Analytik die Forschung auf die nächste Stufe hieven wird.
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