12.06.2013, 10:15 Uhr

Damit die Rechnung aufgeht

Der Kanton Graubünden hat sein altes System für das Finanz- und Rechnungs­wesen durch eine Anwendung abgelöst, die besser für die eGovernment-Zukunft gerüstet ist und gleichzeitig die Anforderungen des «Harmonisierten Rechnungslegungsmodells für Kantone und Gemeinden» erfüllt.
Der Kanton Graubünden hat sein Rechnungswesensystem erneuert
Der Autor ist Chief Operating Officer bei Fritz & Macziol Schweiz und leitete das beschriebene Projekt beim Kanton Graubünden.
Nach 15 Jahren ist selbst das beste System renovierungsbedürftig. Der Kanton Graubünden hatte sein Rechnungswesensystem seit 1998 im Einsatz. Genau genommen handelte es sich um zwei miteinander verknüpfte Anwendungen, eine für die Finanzbuchhaltung und eine für das betriebliche Rechnungswesen und die Nebenbücher der Finanzbuchhaltung. Über die Jahre wurden beide Systeme kontinuierlich weiterentwickelt. Den wachsenden Anforderungen der Anwender an eine benutzerfreundliche Bedienung und nach zusätzlichen, flexiblen Auswertungsmöglichkeiten wurde das alte System jedoch immer weniger gerecht. Erschwerend war, dass die Vielzahl von Fremdsystemen nur über proprietäre Punkt-zu-Punkt-Schnittstellen angebunden werden konnten. Dazu kam, dass die Lösung mittlerweile in keinem anderen Kanton mehr als Gesamtsystem im Einsatz war. Graubünden wollte in dieser zentralen Applikation aus Risiko- und Entwicklungsüberlegungen keinen Alleingang, sondern eine Lösung, die auch in anderen kantonalen Finanzverwaltungen verbreitet ist. Durch die gleichzeitige Ablösung anderer betriebswirtschaftlicher Systeme in der kantonalen Verwaltung (u.a. im Personalwesen) sowie die höheren Ansprüche an eine bürgernahe und wirtschaftlich effi­ziente Verwaltung war es sinnvoll, den Wechsel auf ein neues Finanzsystem vorzunehmen.

E-Government- und HRM2-tauglich

In Zukunft stellt zudem die eGovernment-Tauglichkeit neue Anforderungen an das Rechnungswesen. Technologien wie serviceorientierte Architekturen (SOA) oder Bus-Infrastrukturen ermöglichen die dafür notwendigen, durchgängigen Verwaltungsprozesse. Weil ausserdem die kantonale Verwaltung vor der Umsetzung des «Harmonisierten Rechnungslegungsmodells für Kantone und Gemeinden» (HRM2) stand, war es naheliegend, die Gelegenheit für einen Systemwechsel zu nutzen. Denn schliesslich wäre es unlogisch gewesen, die nötigen Umstellungen (ein komplett neuer Kontoplan, neue Gliederungen und eine neue Anlagebuchhaltung) am alten System durchzuführen, um kurze Zeit später eine neue Software wieder an dieselben Anforderungen von HRM2 anzupassen. Aus einem zweistufigen Evaluationsverfahren ging schliesslich Fritz & Macziol als Sieger hervor. Der Lösungs- und Dienstleistungsanbieter nimmt im Projekt die Rolle des General-unternehmers ein, da gleichzeitig mit dem Rechnungs- auch das Personalwesen ein neues System erhalten sollte. Für Letzteres ist als Subcontractor das Schwerzenbacher Software-Haus Soreco zuständig. Bei der neuen Lösung für das Finanz- und Rechnungswesen handelt es sich um die von Fritz & Macziol entwickelte, auf Microsoft Dynamics NAV basierende Software newsystem public, die auch bei anderen öffentlichen Verwaltungen im Einsatz ist. Der Entscheid fiel im Herbst 2011 mit dem Ziel, das gesamte neue ERP-System am 1. Januar 2013 für alle Dienststellen der kantonalen Verwaltung Graubündens sowie für die kantonalen Gerichte und ausgewählte selbstständige Anstalten (Personallösung) produktiv schalten zu können. Lesen Sie auf der nächsten Seite: Komplexes System, enger Zeitplan

Komplexes System, enger Zeitplan

Den Projektteams stand also eine beachtliche Aufgabe bevor, die es in relativ kurzer Zeit zu bewältigen galt: Die Einführung eines neuen ERP-Systems für über 250 Benutzer in rund 30 Dienststellen und parallel dazu die Umstellung der Rechnungslegung auf HRM2. Eine anspruchsvolle Aufgabe, die allen Beteiligten einiges abverlangte. «Wie oft bei Projekten werden diejenigen Mitarbeitenden am meisten beansprucht, die ohnehin schon voll ausgelastet sind», sagt Andrea Seifert, Leiter der Finanzverwaltung des Kantons Graubünden. Darüber hinaus hatte man sich zum Ziel gesetzt, das Budget für 2013 bereits im neuen System zu erstellen. Der enge Terminplan und die parallele Einführung der verschiedenen Module erforderten ein sehr aufwendiges und systematisches Testprozedere. Deshalb wurde ein standardisiertes, kurz getaktetes und iteratives Verfahren angewendet, das sich sehr gut bewährte. Schliesslich benötigten einzelne Detailkonzepte und Anpassungen länger, als man dachte. Aber es sei auch anspruchsvoll, die richtigen Wege zu finden, um die eigenen Prozesse in einer Standardlösung abzubilden, kommentiert Seifert eine der Herausforderungen des Projekts. Immerhin war das frühere System über die Jahre den speziellen Anforderungen angepasst worden und entsprechend ausgefeilt. Die bestehenden Prozesse mussten dementsprechend im neuen System erst abgebildet werden. «Es hat sich aber auch gezeigt, dass das Mengengerüst im Vergleich zu bisherigen Installationen bei Organisationen der öffent­lichen Hand bei uns beachtlich ist», sagt Seifert. «Nicht zuletzt deshalb sind viele Anpassungen notwendig gewesen, um die geforderten Automatisierungen für ein effizientes Arbeiten zu ermöglichen.» Als Beispiel nennt Seifert die Funktion der Ratenzahlung, die im Kanton Graubünden häufiger zum Tragen kommt als bei bisherigen Kunden und entsprechend extra modelliert werden musste. Auch bei der Anbindung der Fremdsysteme für die Fakturierung gab es Überraschungen. Diese hatten teilweise mit dem System zu tun, aber auch mit dem neuen Kontoplan und Änderungen an der Schnittstelle. Lesen Sie auf der nächsten Seite: Kein Massanzug, aber zukunftsfähig

Kein Massanzug, aber zukunftsfähig

Im Spätherbst 2012 waren sämtliche Funk­tionsteile für den Produktivstart auf den Testsystemen installiert und die letzten Teile wurden intensiven Tests unterzogen. Im November und Dezember letzten Jahres fanden halb- beziehungsweise ganztägige Schulungen für die Rechnungsführer der Dienststellen statt. Anfang Dezember ging dann das Modul Kreditorenbuchhaltung in den produktiven Betrieb. So konnten Lieferantenrechnungen, die das neue Geschäftsjahr betreffen, bereits im neuen System und unter Verwendung des neuen HRM2-Kontoplans erfasst und abgewickelt werden. Der Produktivstart am 1. Januar 2013 ist schliesslich ohne grössere Komplikationen geglückt und seitdem – auch nicht eben unwichtig – läuft der Betrieb stabil. Selbstverständlich habe das neue System auch Nachteile und Schwächen, sagt Seifert, «aber man darf nicht vergessen, dass die über 15 Jahre gewachsene Applikation mit vielen Individualanpassungen zu einer sehr mass­geschneiderten Lösung wurde». Es sei bei über 250 Benutzern ein schwieriges Unterfangen, alle zufriedenzustellen, dennoch seien die meisten Rückmeldungen positiv. Nicht zuletzt dürften die breit angelegten Schulungen, individuelle Betreuung und ein starker Support durch die Finanzverwaltung die Akzeptanz der Benutzer stärken. Nach erfolgtem Produktivstart werden noch einige Nachbearbeitungen und Verbesserungen umgesetzt, denn wie in jedem derart umfangreichen Projekt kommen trotz grosser Sorgfalt bei den Tests gewisse Mängel erst im laufenden Betrieb zutage. «Aus einer übergeordneten, zukunftsorientierten Betrachtung haben wir mit newsystem public ein integriertes System mit einer modernen technischen Architektur auf Microsoft-Basis», sagt Seifert. «Das passt gut in unsere übrige Applikationswelt. Ausserdem sind die Aussichten für die Weiterentwicklung von Microsoft Dynamics NAV vielversprechend.» Nicht zu vergessen ist dabei die Tatsache, dass neben Graubünden vier weitere Kantone und zahlreiche Gemeinden die gleiche Lösung einsetzen. «Das gibt einen starken Verbund und eine gute Ausgangslage für zukünftige Entwicklungen», ist Seifert sicher.
Das Projekt
Aufgabe: Einführung einer neuen Software-Lösung für das Finanz- und Rechnungswesen des Kantons Graubündens Branche: Öffentliche Hand Ziel: Offenes, wirtschaftliches System mit durchgängigen Kernprozessen Software: newsystem public, Microsoft Dynamics NAV Client und Application Server, Microsoft SQL Server 2008, Microsoft Biztalk-Server Umfang: 250 Anwender in rund 30 Dienststellen Aufwand: 6 Personenjahre (ohne Vorprojekt) plus zusätzlicher Aufwand für offene Teilprojekte und Optimierung Dienstleister: Fritz & Macziol Schweiz


Das könnte Sie auch interessieren