Data Mining
10.06.2011, 06:00 Uhr
Frühwarnsystem für geplatzte Kredite
Was früher harte Denkarbeit von Experten war, kann Software heute zumindest erleichtern: Entscheide über die Kreditwürdigkeit von Unternehmen und Privatpersonen zum Beispiel.
Stellen Sie sich vor, jedes Finanzinstitut wüsste vorher ganz genau, welcher potenzielle Kreditnehmer seine Schulden pünktlich zurückzahlt und welcher nicht – vermutlich hätte die Finanzkrise dann so nie stattgefunden. Bei jedem Antrag versuchen Kreditgeber, in die Zukunft zu schauen. Mathematiker, Statistiker und Demografen berechnen aus Daten unterschiedlichster Quellen, wie wahrscheinlich es ist, dass die Bank ihr Geld wiederbekommt. Der Wirtschaftsinformationsdienst Teledata lässt sich dabei von einer Software-Lösung unter die Arme greifen.
(Zu) viele Informationen
Zahlenmaterial gibt es genug: Teledata listet die Daten von mehr als einer halben Million Schweizer Betrieben, 1,25 Millionen ins Handelsregister eingetragenen Geschäftspersonen und über 6,1 Millionen Privatverbrauchern auf. Zu jedem einzelnen Eintrag sind Dutzende Zusatzinformationen abrufbar, beispielsweise Anteilseigner, Beteiligungen, finanzielle Verhältnisse, Zeichnungsberechtigungen und so weiter. «Früher beurteilten die Kreditrisikoexperten jeden Kunden einzeln. Das ist bei über 510'000 Firmen schlicht unmöglich», erklärt Markus Binzegger, Leiter Key Account Management bei Orell Füssli Wirtschaftsinformationen, die den Onlinedienst Teledata betreibt. Jedoch ist der Bedarf riesig: «Finanzdienstleister prüfen heute zehntausende Kreditantäge pro Jahr. Allein bei Teledata gehen jährlich circa 250'000 Anfragen ein», erklärt Binzegger. Für ihre derzeit rund 10'000 Kunden suchte der Wirtschaftsauskunftsdienst daher nach einer Möglichkeit, diesen Prozess zu automatisieren – und stiess auf das statistische Entscheidungsbaum-Verfahren der Analyse-Software SPSS Modeler.
Entscheidungsbaum für Kredite
In Zusammenarbeit mit den Spezialisten von SPSS Schweiz entwickelte Teledata daraus eine automatisierte Kreditvergabeprüfung. Die Wurzeln des Entscheidungsbaums bilden 37 Kriterien für die Kreditwürdigkeit, die als aussagekräftig für die Ausfallwahrscheinlichkeit identifiziert wurden. Insgesamt wurden über 100 Merkmale betrachtet, von Kreditrisikoexperten analysiert, bewertet und aussortiert. «Es sollten Kriterien gefunden werden, mit denen anhand historischer Daten Voraussagen über die Zukunft gemacht werden können», umreisst SPSS-Partner Josef Schmid die Aufgabenstellung. Input lieferten zudem Fachleute, die aufgrund ihrer Erfahrungen und einem differenzierten Blick auf den Kreditvergabeprozess weitere wichtige Zusammenhänge in den Daten fanden. «Ein Merkmal, das heute in den Kreditrisiko-Score einfliesst, ist die Abfragehäufigkeit des Firmenprofils im Teledata-Portal», gibt Binzegger ein Beispiel. «Zwischen der Konkurswahrscheinlichkeit eines Unternehmens und der Abfragehäufigkeit des Firmenprofils gibt es einen direkten Zusammenhang.» Im Vorfeld einer Insolvenz steigen die Seitenabrufe an, zum Zeitpunkt des Konkurses sind sie maximal, hinterher nehmen die Abfragen stark ab.
Typische Muster wie die Abfragehäufigkeit der Firmenprofile erfasste Orell Füssli in seinen Auswahlkriterien. Andere Merkmale sind zum Beispiel Betreibungsauskünfte, Häufigkeit der Namensänderung, Anzahl der Wechsel in der Vorstandsetage und Konkursmeldungen. Für jedes der insgesamt 100 Charakteristika wurde die Vorhersagegüte für den Konkurs ermittelt. Die 37 Kriterien mit den höchsten Wahrscheinlichkeitswerten sind heute im Entscheidungsbaum-Modell zusammengefasst. Dabei werden auch Wechselwirkungen der einzelnen Faktoren untereinander berücksichtigt, zum Beispiel die wirtschaftliche Vernetzung von Firmen, ihren Führungsorganen und Beteiligungen. Das Resultat ist eine Entscheidung mit drei Ausprägungen: kreditwürdig, nicht kreditwürdig oder weitere Prüfung erforderlich. «Unser statistisches Modell erreicht eine Prognosequalität von rund 80 Prozent», erklärt Orell-Füssli-Geschäftsleitungsmitglied Binzegger. «Damit sagen wir in acht von zehn Fällen korrekt voraus, dass ein Kredit auch zurückbezahlt wird.» Das sei mehr, als jeder Experte bieten könne.
Maschine versus Mensch
Software ersetzt indes keinen Experten, sie erleichtert nur die Arbeit, beeilt sich Binzegger anzuschliessen. Anhand des Modells werden Firmen und Privatpersonen lediglich in Risikoklassen eingeteilt. Anhand dessen können Unternehmen Risiken abschätzen und bei potenziell gefährdeten Kunden eine genaue Prüfung des Geschäftspartners verlangen. «Einem Finanzdienstleister, der interessiert an potenten Kunden für Kredite oder Leasing-Offerten ist, können wir passende Detailinformationen liefern», meint Binzegger. Wie der Käufer mit den Daten umgeht, liege dann aber in dessen Verantwortung. Hier komme meist der Faktor Mensch ins Spiel, denn ohne das Urteil eines Spezialisten werden nach den Erfahrungen von Orell Füssli keine Entscheidungen getroffen. Nach fünf Jahren zieht Binzegger insgesamt jedoch ein positives Fazit: « Data Mining eignet sich sehr gut zur Prognose von Kreditausfallrisiken.» Das Projekt sei aber noch längst nicht abgeschlossen, sondern – genau wie die Wirtschaft – andauernd in Bewegung.
Dünger für den Modellbaum
Adressmutationen, Personalfluktuationen oder die veränderte Bonität von Unternehmen und Einzelpersonen sind nur einige Gründe, warum das Entscheidungsbaum-Modell permanent überprüft werden muss. Laut Binzegger sind auch die 37 Modellkriterien keineswegs in Stein gemeisselt. «Um die Vorhersagegüte des Kreditrisiko-Scores zu verbessern, testen wir regelmässig neue Faktoren. Denn das Ergebnis der Algorithmen kann zwar einfach gemessen, aber nur schwer erklärt werden», gesteht der Orell-Füssli-Manager. Die Wechselwirkungen und Interaktionen, die in diesem Modell abgebildet sind, können selbst die Experten kaum nachvollziehen. Auch deshalb seien Modellanpassungen ein Muss.
Wie viel dabei schiefgehen kann, erklärt SPSS-Partner Josef Schmid, der beratend und schulend am Projekt beteiligt ist: Wird ein unpassendes Kriterium in den Entscheidungsbaum einbezogen, könnten sich nicht nur die Messwerte einzelner Firmen verschieben, sondern auch das gesamte Referenzsystem aus den Fugen geraten. Dann verschlechtern sich plötzlich die Kreditratings aller Unternehmen, ohne dass es wirklich eine Änderung gegeben hat. «Zur Modellverbesserung ist das Testen alternativer Parameter unerlässlich, die Testergebnisse müssen aber mit Vorsicht interpretiert werden», weiss Schmid. Andernfalls fällt eine Firma bei der Kreditvergabeprüfung durch, obwohl sie wirtschaftlich bei bester Gesundheit ist. Der Wirtschaftsinformationsdienst weiss um die Schwierigkeiten komplexer statischer Modelle. Heute arbeiten Markus Binzegger und sein Team kontinuierlich an der Prüfung des Entscheidungsbaums. «Dank automatisierter Abläufe können wir das Modell mindestens einmal pro Monat anhand der Grundgesamheit der Millionen von Daten aus dem Handelsregister validieren», sagt Binzegger. Kunden könnten sicher sein, dass die eingekaufte Information in der grossen Mehrzahl der Fälle eine zuverlässige Aussage über die Kreditwürdigkeit erlaubt.