30.04.2014, 09:02 Uhr
Wie bekomme ich die Software, die ich brauche?
IT-Projekte sorgen zu oft für rote Köpfe bei Auftragnehmer und Arbeitgeber. Das falsche Produkt sei geliefert worden, monieren die einen. Selber schuld, die Anforderungen seien unklar gewesen, sagen die anderen. Wer zuerst überlegt, welche Anforderungen sein Produkt wirklich erfüllen muss, umgeht diese Probleme.
Viele grosse Evaluationsprojekte scheitern nicht an einem technisch ungenügenden Produkt, sondern an der mangelnden Akzeptanz durch die Benutzer
Dominic Loher (M.A. HSG) ist Berater und Projektleiter bei der CSP AG. Seine Schwerpunkte sind RE & Evaluationen, Prozess-Engineering und IT-Strategie.René Stock (MSc Wirtschaftsinformatik, Betriebsökonom FH) ist Senior-Berater und Projektleiter. Er bringt Erfahrung aus Prozessberatungsprojekten und diversen ERP-Einführungen mit.
Viele grosse Evaluationsprojekte scheitern nicht an einem technisch ungenügenden Produkt, sondern an der mangelnden Akzeptanz durch die Benutzer. Allzu oft haben die Anwender das Gefühl, dass nicht das «bestellte» System geliefert wurde. Studien zeigen, dass beinahe die Hälfte der IT-Vorhaben nicht die Wünsche und Anforderungen der Auftraggeber erfüllen. Die Ursachen sind unklare Ziele, unterschiedliche Erwartungen und mangelndes Anforderungsmanagement.
Wie stellt man also sicher, dass die richtigen Anforderungen erfasst werden? Mögliche Quellen für Anforderungen sind Benutzerhandbücher, aktuelle EDV-Systeme sowie verschiedene Stakeholder. Das Requirements Engineering umfasst das Suchen, Erfassen und Konsolidieren von Anforderungen aus allen verfügbaren Quellen.
DasKano-Modell kann helfen
Die Bedeutung einer Anforderung für den Stakeholder veranschaulicht das sogenannte Kano-Modell (vergleiche Abbildung links):
Basisfaktoren sind als selbstverständlich vorausgesetzte Funktionen. Werden diese Funktionen nicht erfüllt, entsteht Unzufriedenheit. Werden sie erfüllt, entsteht aber keine zusätzliche Zufriedenheit – eben, weil sie vorausgesetzt werden (z.B. SMS-Versand beim Mobiltelefon).
Leistungsfaktoren sind die bewusst verlangte Sonderausstattung. Sie beseitigen Unzufriedenheit oder schaffen Zufriedenheit, abhängig vom Ausmass der Erfüllung (z.B. Service- und Supportleistung des Mobilfunkanbieters).
Begeisterungsfaktoren sind Funktionen der Software oder des Produkts, die der Kunde nicht kennt und erst während der Benutzung als angenehme Überraschung entdeckt. Sie zeichnen das Produkt gegenüber der Konkurrenz aus und rufen Begeisterung hervor (z.B. Near-Field-Communication-Sensor beim Mobiltelefon).
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Alle Faktoren ermitteln
Bei der Anforderungsermittlung besteht nun die Schwierigkeit darin, alle diese Faktoren zu erheben, um so die Kunden- bzw. Anwenderzufriedenheit möglichst hochzuhalten. Dazu ist die richtige Kombination verschiedener Ermittlungstechniken nötig. Diese lassen sich folgenden fünf Kategorien zuordnen.
Befragungstechniken: Stakeholder werden nach ihren Wünschen und Bedürfnissen befragt, um Anforderungen zu ermitteln. Der Requirements Engineer lässt sich Sachverhalte, Abläufe und Wünsche schildern. Techniken wie der Fragebogen oder das Interview sind zur Ermittlung von Anforderungen beliebiger Detaillierungsgrade geeignet.
Beobachtungstechniken: Der Requirements Engineer beobachtet, welche Prozesse die Systemanwender während ihrer Arbeit ausführen und ermittelt so offensichtliche wie unterbewusste Anforderungen. Er erfasst diese Abläufe und ermittelt daraus die Szenarien sowie Verbesserungsansätze für das zu evaluierende System. Beispiele hierfür sind die Feldbeobachtung und das Apprenticing («in die Lehre gehen»).
Kreativitätstechniken: Diese Techniken helfen, das Denken in herkömmlichen Bahnen aufzubrechen und neuen Ideen Raum zu verschaffen. Zu den Kreativitätstechniken gehören das Brainstorming oder der Perspektivenwechsel. Diese Techniken empfehlen sich, um zu Beginn einer Software-Evaluation grobe Ziele und eine Vision des neuen Systems zu erhalten.
Artefaktbasierte Techniken: Dadurch wird die Möglichkeit geschaffen, Erfahrungen aus bereits erfolgreich im Einsatz stehenden EDV-Systemen zu gewinnen. Beispiele hierfür sind die Techniken Systemarchäologie und die Wiederverwendung.
Unterstützende Techniken: Um Effektivität und Qualität aller genannten Techniken zu verstärken, bieten sich verschiedene unterstützende Techniken an. Vielfach zielen diese auf die Visualisierung bereits ermittelter Anforderungen. Beispiele hierfür sind das Mindmapping und das Prototyping.
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Die Kombination machts
Je nach Ausgangslage sollte die Zusammenstellung variiert werden. Durch die Beurteilung der aktuellen Projektsituation können einzelne Techniken besonders geeignet sein oder aber auch explizit ausgeschlossen werden. Beteiligen sich die Stakeholder nicht aktiv am Anforderungsermittlungsprozess, so sind individualorientierte Techniken wie Interviews eher geeignet als gruppenorientierte – Einzelpersonen sind leichter zu motivieren als Gruppen. Besteht in der Gruppe ein hohes Machtgefälle, so beeinträchtigt dies den Einsatz gruppenorientierter Techniken wie zum Beispiel das Brainstorming.
Der hohe Stellenwert der Anforderungsermittlung im Rahmen des Requirements Engineering ist für eine erfolgreiche Software-Auswahl unabdingbar. Durch die Anwendung eines methodisch abgestützten Requirements Engineering wird sichergestellt, dass die richtigen Personen von Anfang an ins Projekt einbezogen sind. Dadurch werden Anforderungen in einem standardisierten Prozess nicht bloss ermittelt, sondern zusätzlich dokumentiert, geprüft und verwaltet.
Fazit: Der Aufwand lohnt sich
Die Hürden bei der Systemauswahl im Software-Markt sind hoch und die Komplexität steigt zunehmend. Es besteht die Gefahr, ein falsches Produkt oder einen unpassenden Anbieter zu evaluieren. Mit einem systematischen Anforderungsmanagement lässt sich das Risiko, während des Projektverlaufs zu stolpern, deutlich reduzieren. Requirements Engineering gibt Techniken, Werkzeuge und Methoden vor, die alle Gegebenheiten berücksichtigen. Die Anforderungen sind für alle verständlich und verbindlich formuliert.
Es lohnt sich, zu Beginn des Projekts die nötige Zeit für eine umfassende Anforderungsermittlung einzuplanen. Spätestens bei der Umsetzung zahlt sich die Arbeit aus.