19.11.2012, 10:29 Uhr

Exportschlager Software

Die Schweizer Software-Industrie wird unterschätzt und viel zu wenig protegiert. Dabei liegt das geschätzte jährliche Exportvolumen von Software «made in Switzerland» bei rund einer Milliarde Franken – mehr als die Schoko­ladenindustrie je umsetzt.
Schweizer Software-Hersteller fokussieren klar auf Firmenkunden, nur knapp 4 Prozent adressieren auch Privatkunden.
Der Schweizer Software-Industrie geht es gut. 2011 war laut dem aktuellen Swiss Software Industry Index (herausgegeben von Dr. Pascal Sieber & Partners und inside-it.ch) ein gutes Jahr. Der Umsatz wuchs trotz Euro- und Schuldenkrise im ersten Halbjahr 2011 um 7,1 Prozent, im zweiten gar um 8,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Sowohl die Hersteller von Standard-Software als auch jene von Individual-, also vertikaler Software, konnten den Wert gegenüber der letzten Erhebung um mehr als 2 Prozentpunkte steigern. Einzig die hybriden Hersteller, die sowohl Standard- als auch Individual-Software ent­wickeln, mussten einen Rückgang von 11,4 auf 10,5 Prozent hinnehmen, weisen jedoch noch immer das höchste Wachstum der drei Herstellertypen auf. Gesamthaft reduzierte sich der EBIT (Gewinn vor Steuern und Zinsen) im zweiten Halbjahr 2011 gegenüber dem ersten Halbjahr geringfügig um 0,6 auf 5,3 Prozent. Zum Vergleich: Die Gesamtwirtschaft der Schweiz, gemessen am Bruttoinlandprodukt, ist nur um 2 Prozent gewachsen.

Die Mischung machts

Am häufigsten wird Business-Software produziert. Mit je 37 Prozent liegen CRM- sowie Business-Intelligence- und Data-Warehouse-Lösungen an der Spitze, gefolgt von ERP (vgl. Abbildung S. 30). In den Kategorien, die nicht zur Business-Software gezählt werden, mischen am häufigsten Kommunikations- und Kollaborations-Software (26 Prozent) sowie Embedded Software (19 prozent) vorne mit. Allerdings nimmt die Entwicklung für mobile Plattformen immer mehr zu: 41 Prozent der befragten Software-Hersteller bieten mittlerweile Lösungen für den Zugriff mit Mobilgeräten an. «Heutzutage muss man an vielen Fronten gleichzeitig wirken: mobile Anwendungen, Sicherheit und Datenschutz, Implementierung neuer Compliances, Ausbau internationaler Dienstleistungen, Optimierung der Prozesse», erklärt Pascal Föhn, Head Marketing & Sales beim Banken-Software-Spezialisten Avaloq. Lesen Sie auf der nächsten Seite: Firmenkunden im Fokus

Firmenkunden im Fokus

Schweizer Software-Hersteller fokussieren dabei ganz klar auf Firmenkunden, nur knapp 4 Prozent adressieren auch Privatkunden. In der Regel setzen die Entwickler auf eine gemischte Strategie von branchenspezifischer und branchenübergreifender Software, spezialisieren sich also selten nur auf eine Branche. Generell steht Flexibilität hoch im Kurs. «Wer die Kunden modular und standardisiert anspricht, aber gleichzeitig einen hohen Anteil an individueller Parametrisierung bieten kann, ist klar im Vorteil», weiss Föhn. Auch international kann sich Schweizer Software sehen lassen. Als weltweit bekanntes Beispiel für Swiss Made Software seien stellvertretend der Terminplaner Doodle genannt, der vom Schweizer Informatiker und ETH-Absolventen Michael Näf entwickelt wurde. Oder das auf Java basierende freie Content-Management-System Magnolia des gleichnamigen Basler Unternehmens, das mittlerweile unter anderem Sony, Michelin und die US-Navy zu seinen Kunden zählt. Ein drittes Beispiel ist die BPM-Plattform der Zürcher Firma Appway, die neben Schweizer Banken auch Finanzinstitute in den USA, Singapur und den Bahamas sowie Grosskunden wie IBM Global Services und ThyssenKrupp Automotive bedient. Auch wenn Helvetien kein Silicon Valley ist und die lokalen Ableger der grossen internationalen IT-Firmen keine Software-Entwicklung hierzulande betreiben, gewinnt die hiesige Software-Industrie zunehmend an Bedeutung. Allerdings hat sie ein massives Wahrnehmungsdefizit. «Das Hauptproblem ist das Schweizer Understatement», sagt Christian Walter, Managing Partner der Interessensvereinigung «Swiss Made Software», die auch das gleichnamige Label vergibt. «Ein oft zitierter Public-Relations-Leitsatz sagt: Tue Gutes und sprich darüber. Gerade für Letzteres existiert in der Schweiz noch grosses Verbesserungspotenzial», ist Walter überzeugt. «Heutzutage läuft praktisch alles mit Software. Das wird so aber nicht wahrgenommen. Software ist gewissermassen ein Hygienefaktor», so Walter. Generell werde die IT in der Schweiz noch immer stiefmütterlich behandelt. Stichwort Nachwuchsförderung, Frauenförderung, Image der IT und Desinteresse seitens der Politik (siehe Computerworld Top 500, CW 14/2012, Die abgetauchte Branche). Nichts Neues, doch immer noch ein Problem wie vor Jahren schon.

Unterschätzte Branche

Bezüglich der Schweizer Software-Branche gibt es zudem keine verlässlichen statistischen Zahlen. Beispielsweise weigert sich das Bundesamt für Statistik (BFS), solche zu erheben. Wie viel an Swiss Made Software also tatsächlich exportiert wird, kann nur grob geschätzt werden. Experten gehen von einem Volumen von 1 Mil­liarde Franken aus. Das ist mehr als die Exportwerte der Schokoladenindustrie. «Damit das Bundesamt für Statistik seinem Verfassungsauftrag nachkommt, bedarf es schon eines starken Drucks seitens der jeweiligen Branche», sagt Dr. Andrej Vckovski,  Netcetera-CEO und Präsident der Swiss Internet Industry Association (Simsa). Bisher hätte man diesbezüglich beim BFS auf Granit gebissen.
Eine weitere Option wäre die Schweizerische Nationalbank gewesen, die im Auftrag des Bundes die Zahlungsbilanz ermittelt, also wie viel Geld in die Schweiz hinein- und aus der Schweiz herausfliesst. In dieser Zahlungsbilanz sind bis dato ausgerechnet die Dienstleistungen nicht aufgeführt. Das Projekt «serviceBOP» erfasst zwar seit diesem Jahr alle relevanten Dienstleistungskategorien mit einer geografischen Gliederung. Der Dachverband ICTswitzerland, in dessen Vorstand Vckokski sitzt, hatte die Na­tionalbank angefragt, in dieser erweiterten Erhebung auch ICT-Dienstleistungen separat aufzugleisen ? ohne Erfolg. Obwohl für andere Branchen bereits branchenspezifisch gefragt und erhoben wird. Einmal mehr ein Beispiel dafür, dass die IT in der Schweiz noch immer nicht als zukunftsträchtige Industrie betrachtet wird. ICTswitzerland wird nun versuchen, so Vckovski gegenüber Computerworld, eine Exportstatistik über die Mehrwertsteuerdaten herzuleiten. Mit ersten Ergebnissen sei allerdings frühestens im kommenden Jahr zu rechnen. «In Sachen IT bräuchte es einen kontinuierlichen Effort. Doch leider tut sich da nicht sehr viel», meint auch Christian Walter. Das betrifft im Übrigen auch die Beschaffung von Software durch die öffentliche Hand: Diese findet nämlich häufig ohne Swiss Made Software statt. Bund, Kantone und Gemeinden entscheiden sich in der Regel für Produkte internationaler Konzerne. Die heimische Branche bleibt dabei oft auf der Strecke. Die Schweizer Software-Branche ist ein Phantom, heisst es auch bei den Marktbeobachtern von Sieber & Partners. Sie sei da und doch ungreifbar, was auch darauf zurückzuführen sei, dass kein verbindlicher Konsens herrsche, wie die Software-Branche überhaupt zu definieren sei. Lesen Sie auf der nächsten Seite: absolut wettbewerbsfähig

Absolut wettbewerbsfähig

Volkswirtschaftlich macht es aber durchaus Sinn, auf die Software-Industrie zu setzen. Vorausgesetzt, es werden im Hochpreis- und Hochlohnland Schweiz Produkte mit höchster Qualität geliefert. «Für Swiss Made Software gilt: Es gibt nur Ferrari», sagte Geri Moll, CEO der Winterthurer Noser Engineering AG kürzlich in einem Interview (nachzulesen in der Veröffentlichung «Das Buch» von Swiss Made Software) «Unsere Strategie muss sein, auf das zu setzen, wofür die Schweiz schon immer eingestanden ist: Qualität, Qualität, Qualität. Sicherlich wird qualitativ hochstehende Software auch an anderen Orten der Welt entwickelt. Wenn das Kostenargument allerdings nicht im Zentrum eines Projekts stehe, sei die Schweiz absolut wettbewerbsfähig, meint Noser, denn «erhält der Kunde für 50 Prozent mehr Kosten 100 Prozent mehr Leistung, geht seine Rechnung letztlich wieder auf». Laut Sieber & Partners positionieren sich zwei von fünf Software-Herstellern über die Technologieführerschaft und 26 Prozent über Services oder vertiefte Branchenkenntnisse. Die Positionierung über geringe Kosten ist für helvetische Entwickler kein Thema. «Der Software-Standort Schweiz ist nach wie vor sehr attraktiv», sagt auch Avaloqs Marketing-Chef Pascal Föhn. Die Software-Entwicklung für Banken beispielsweise müsse Hand in Hand gehen mit der Finanzindustrie: In der Schweiz als Avaloqs Heimmarkt sieht er auf diesem Gebiet noch immer grosses Potenzial: «Wir entwickeln unsere Software dort, wo auch die Finanzinnovation entsteht.» Deshalb setze man auf die reifen Finanzmärkte und werde diesen Standortvorteil auch nicht aufgeben. «Hinzu kommen Vorteile wie der hohe Qualitätsanspruch und die sprichwörtliche Stabilität unserer Wirtschaft, die Schweizer Unternehmen zu internationaler Wettbewerbs-fähigkeit verhelfen», so Föhn. Allerdings muss auch gesagt werden, dass wenig vom Umsatz der Unternehmen in Forschung und Entwicklung zurückfliesst: Bei den Standard-Software-Herstellern sind es zwischen 21 und 30 Prozent, bei den Herstellern vertikaler Software im Schnitt weniger als 10 Prozent.

Agile Methoden gefragt

Bei der «Produktion» ihrer Software setzen die Schweizer zunehmend auf agile Methoden. Der soeben fertiggestellten Studie «Swiss Agile Study 2012» der Fachhochschule Nordwestschweiz und der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften zufolge, liegen agile Entwicklungs­methoden im Trend. Für die Studie wurden rund 1500 Schweizer Unternehmen (sowohl agile als auch nicht-agile) aller Branchen befragt sowie etwa 500 IT-Professionals. 57 Prozent der Unternehmen und 68 Prozent der befragten IT-Spe­zialisten arbeiten derzeit agil. Die Studie ergab zudem, dass die «agilen» Firmen und Mitarbeiter viel zufriedener mit ihrer Methodik sind. Durch agile Methoden lassen sich vor allem wechselnde Prioritäten besser und schneller managen, was den Gesamtprozess verbessert. Die Ergebnisse der kompletten Studie werden voraussichtlich Ende des Jahres erhältlich sein. Lesen Sie auf der nächsten Seite: Entwickelt wird vor Ort

Entwickelt wird vor Ort

Rund 60 Prozent der Hersteller entwickeln laut Sieber & Partners ihre Software ausschliesslich in der Schweiz, ein weiteres Drittel mehrheitlich. Der grösste Teil der Wertschöpfung findet somit im Lande statt. Die wachsende Bedeutung von Schweizer Software wird deutlich, wenn man die Entwicklung des Offertvolumens näher betrachtet: Auftragseingang, Auftrags­bestand, Anzahl laufender Projekte sowie Anzahl an Wartungsverträgen. In all diesen Bereichen verzeichnete die Studie ein Wachstum. Auch die Belegschaft wurde überall ausgebaut. Der leidige Fachkräftemangel ist allerdings nach wie vor eines der grössten Probleme, mit dem die Branche konfrontiert ist: Drei von vier befragten Software-Produzenten sind der Meinung, dass zu wenig hochqualifizierte Software-Entwickler vor Ort verfügbar sind und dass sich die Entwicklung künftig noch verschärfen werde. Für 45 Prozent bietet auch das Ausland mittlerweile keine Lösung mehr. Im Rahmen der letzten Erhebung waren noch zwei Drittel der Ansicht, hochqualifizierte Entwickler jenseits der Grenzen finden zu können. Während Avaloq im internationalen Wettbewerb vor allem die Auswirkungen der Euro-Krise und der Frankenstärke spüre, sei im Schweizer Markt der War of Talents bei der Rekrutierung von hochqualifizierten Software-Ingenieuren eine besonders grosse Herausforderung, meint Föhn, und ergänzt: «Wenn dann auch noch die Kontingente für Fachleute aus nicht-europäischen Ländern beschnitten werden, führt dies zu Engpässen.» Einer der Gründe, warum Avaloq seinen zweiten Produktionsstandort nach Edinburgh verlegt hat. Christian Walter gibt den Entscheidern in Politik und Wirtschaft abschliessend noch einen Rat mit auf den Weg: «Für die Schweizer Wirtschaft wäre es nur vernünftig, einmal darüber nachzudenken, was nach den Banken kommt. Dieses Business sieht mir in der heutigen Form nicht unbedingt zukunftsträchtig aus.» Für ihn hat Swiss Made Software ganz klar eine Berechtigung: «Im KMU-Land Schweiz ist in vielen kleinen Unternehmen unglaubliches Know-how vorhanden. Mit der EPFL und der ETH haben wir zudem zwei Top-Universitäten. Wenn diese Branche keine Zukunft hat, welche dann?»
Herkunftsnachweis «Swiss Made Software»
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