«Wir haben von China enorm profitiert»

Herausforderungen in China

CW: War Dätwyler Cabling Solutions schon vor der Finanzkrise in China präsent?
Müller: Ja, wir haben bereits 1998 zwei Werke in China eröffnet. In einer Fabrik wurden Liftkabel für einen in China tätigen Schweizer Kunden konfektioniert, in der anderen Datenkabel für den asiatischen Markt produziert. Der Konfektionierungsbetrieb hat floriert, die Fertigung hingegen hatte von Beginn an ein Problem mit der Profitabilität. So war die Situation noch, als ich 2004 bei Dätwyler eintrat.
Parallel zum Turnaround hier in der Schweiz mussten wir in China anfänglich mit einigen Compliance-Problemen kämpfen. In unserer Fertigung hatten sich in der Folge grössere personelle Herausforderungen ergeben, die wir aber mit zwei Interimsmanagern lösen konnten. Einer hatte sich der Kunden und Partner angenommen, während sich der andere auf die Optimierung der internen Belange fokussiert hatte. Letztendlich konnten wir die Firma retten und unsere Existenz in China nachhaltig sichern. Nachdem wir ein integres und rein lokales Management rekrutiert hatten, begann das Geschäft zu florieren.
2012 beschloss die chinesische Regierung allerdings, dass an unserem Standort in Pudong bei Shanghai ein Dienstleistungszentrum entstehen sollte. Unsere Fabrik musste weichen. Wir beschlossen, die Standorte Pudong (Produktion) und Suzhou (Konfektionierung) aufzulösen und auf halbem Weg zwischen beiden Orten ein neues Werk zu bauen, um möglichst alle Mitarbeitenden zu halten. Die neue Fabrik in Taicang wurde zum neuen Hauptsitz in China.
CW: Konnten Sie das Personal halten?
Müller: Nein, zuerst überhaupt nicht. Wir haben zwar eine hochmoderne Fabrik erfolgreich und zeitgerecht auf die grüne Wiese gestellt. Aber wir haben unterschätzt, wie wenig mobil die chinesischen Angestellten waren. Ein Ortswechsel von Shanghai respektive Suzhou nach Taicang erschien für viele Mitarbeitende als «Downgrade». Denn die Schulen seien weniger gut, die medizinische Versorgung und das Freizeitangebot ebenfalls schlechter. So blieb von den zuvor rund 400 Mitarbeitenden am Ende nur jeder Dritte bei uns. Wir mussten also am neuen Produktionsstandort quasi nochmals komplett neu anfangen. Zum Glück hatte das Ganze am Markt kaum negative Auswirkungen. Inzwischen ist unsere China-Tochter aber sehr erfolgreich unterwegs und wird im chinesischen Markt jedes Jahr unter den «Top Brands» der Branche gelistet und ausgezeichnet.
CW: Wie fügt sich China in Ihre Organisation ein?
Müller: Nach dem erfolgten Turnaround und der damit verbundenen Restrukturierung hatten wir Dätwyler Cabling erstmal eine klassische, funktionale Organisation verpasst. Sie war jedoch zur Umsetzung unserer Strategie nicht optimal. Wir waren zu träge und die Entscheidungswege waren viel zu lang. Unsere Strategie hingegen verlangt Agilität, lokale Präsenz, kundennahes und schnelles Handeln.
Schlussendlich haben wir uns deshalb für eine Regionalisierung von Dätwyler Cabling Solutions entschieden. Das Unternehmen wurde in vier Regionen aufgeteilt: Europa, China, Middle East und Asia Pacific. Jede Region erhielt einen Managing Director, der für das operative Geschäft in seiner jeweiligen Region voll verantwortlich ist und die gemeinschaftlich definierte Unternehmensstrategie adäquat umsetzen muss. Neu gab es nur noch ganz wenige globale Funktionen – wie Sourcing, Finanzen, HR oder mich als CEO. Mit anderen Worten: Wir eliminierten den klassischen Headquarter-Ansatz und verlangten von den Re­gionen mehr Unternehmertum und Eigenverantwortung.
Der Ansatz hat von Anfang an sehr gut funktioniert. Inzwischen hat sich ein gesunder Wettstreit entwickelt, welche Region jeweils erfolgreicher ist. Das hat viel Dynamik in unsere Organisation gebracht.
“Die Arbeiter in der Kabelproduktion hinterfragen heute die Herstellungsprozesse„
Johannes Müller
CW: Gratulation! Es scheint, Sie haben alles richtig gemacht. Allerdings haben Sie weiterhin hauptsächlich Verkabelungssysteme verkauft …
Müller: Genau. Von der Vision, mit unseren Lösungen IT-Infrastrukturen zu bauen und beispielsweise ein komplettes Rechenzentrum auszustatten und die entsprechenden Services dafür zu liefern, waren wir immer noch ein gutes Stück entfernt. Wir haben uns jedoch nicht entmutigen lassen und begonnen, gezielt Experten und Spezialisten aus anderen Industrien einzustellen – im Vertrieb, Produkt­management, aber auch in den Bereichen Engineering, R&D und Projektmanagement. Mit diesem Ansatz konnten wir uns wichtige, neue Kompetenzen aneignen und den «Proof of Concept» erbringen, dass das neue Geschäfts­modell auch wirklich funktioniert.
CW: Wie haben Sie die übrigen Mitarbeitenden befähigt, ebenfalls IT-Infrastrukturprojekte zu designen und zu verkaufen oder gar Turnkey-Projekte zu leiten?
Müller: Wir sprechen hier von einem anspruchsvollen, mehrjährigen Transformationsprozess, der sich über alle Funktionen und Regionen erstreckt. Natürlich sind nicht alle Mitarbeitenden in gleicher Weise betroffen. Ein Arbeiter an der Kabelmaschine wird weiterhin Kabel herstellen. Aber er wird, entsprechend der neuen Kultur, unternehmerischer zur Sache gehen, Prozesse hinterfragen sowie optimieren und so seinen Beitrag zum Gesamterfolg der Firma liefern. Ganz anders sieht es beispielsweise für die Vertriebsleute aus. Sie müssen viel Neues über IT-Infrastrukturen und deren kundenspezifischen Anwendungen wissen. Auch müssen Sie in der Lage sein, komplexe Projekte auf C-Level zu verhandeln. Das ist eine echte Herausforderung.



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