Wo gehört das hin?
02.11.2020, 08:20 Uhr
Test: Apple iPhone 12
Das beste und schönste Smartphone, das Sie sich nicht kaufen sollten.
Das iPhone 12 ist gemäss IP68 wassergeschützt bis zu einer Tiefe von 6 Metern für bis zu 30 Minuten
(Quelle: Apple Inc.)
Das iPhone 12 findet zu seiner alten Form zurück – und das ist wörtlich zu verstehen. Es lehnt sich an die Designsprache an, die 2010 mit dem iPhone 4 eingeführt und dem iPhone 5 fortgesetzt wurde. Für Veteranen: Das iPhone 4 war jenes Gerät, dessen hochgeheimer Prototyp von einem jungen Apple-Ingenieur in einer Bar vergessen wurde.
Diese Form gilt bei vielen Fans (und auch bei mir) als die schönste bei den iPhones. Doch die Zeiten ändern sich. Das iPhone 4 wirkt bereits gegenüber dem regulären iPhone 12 geradezu winzig. Und was sich 2010 noch griffig anfühlt, ist heute fast ein wenig zu kantig – erst recht, wenn man es einem Handschmeichler wie dem iPhone 11 gegenüberstellt.
Das iPhone 12 liegt gut in der Hand, aber es fühlt sich nicht so gut an wie der rundliche Vorgänger
Quelle: PCtipp.ch
Die nackte Wahrheit
Zum Lieferumfang des iPhones gehört neben dem Draht für den SIM-Schacht gerade einmal das Ladekabel von USB-C zu Lightning. Apple begründet diesen Schritt mit dem Umweltschutz und betont dabei, dass die meisten Leute mehr als genug Netzteile rumliegen haben. Das mag bei USB-A-Netzteilen stimmen; aber bei USB-C-Netzteilen ist das keineswegs sicher. Wenn das iPhone 12 jedoch nicht das erste Apple-Gerät im Haus ist, dann stehen die Chancen immerhin gut, dass ein Lightning-Kabel mit USB-A-Anschluss herumliegt.
Trotzdem wäre es wohl klüger gewesen, bei den Netzteilen schon vor ein oder zwei Jahren auf USB-C umzusteigen – und nicht ausgerechnet dann, wenn die Dinger aus dem Lieferumfang entfernt werden. Und warum liefert Apple bei der neuen Apple Watch weiterhin ein Ladekabel mit USB-A mit? Scheinbar weiss manchmal auch in Cupertino die Linke nicht, was die Rechte tut.
Tipp: Wenn Sie für das iPhone 12 ein USB-C-Ladegerät kaufen (müssen), sollten Sie zum neuen 20 W USB‑C Power Adapter von Apple greifen. Er ist zurzeit wohl das einzige Netzteil, das auch den neuen MagSafe-Ladeadapter unterstützt, der sich im Test nicht nur mit Ruhm bekleckert hat.
Der MagSafe zickt herum, wenn nicht das neuste Apple-Netzteil verwendet wird
Quelle: PCtipp.ch
Die Kopfhörer wurden ebenfalls weggelassen. Doch wenn man die schiere Menge an AirPods in der Öffentlichkeit betrachtet, scheint das kein Verlust zu sein.
Das Display
Das iPhone 12 kommt mit einer Display-Diagonale von 6,1 Zoll. Für die Anhänger kleiner Smartphones gibt es zwar das iPhone 12 «mini» mit 5,4 Zoll; doch wer ein grösseres Display will, muss zum iPhone 12 Pro «Max» greifen und damit auch die Geräteklasse wechseln.
Das HDR-fähige Display liefert einen höheren Kontrast und eine doppelt so hohe Spitzenhelligkeit von 1200 Nits. Der Kontrast des OLED-Displays liegt bei 2’000’000:1 und unterstützt die HDR-Standards Dolby Vision, HDR10 und HLG. So viel zu den beeindruckenden technischen Eckdaten.
Das Display ist eine Wucht, keine Frage. Im direkten Vergleich zum iPhone 11 Pro leistet es auch sichtbar mehr – allerdings erst beim zweiten Hinsehen. Apple stellte uns Original-Aufnahmen aus dem iPhone 12 Pro mit intakten Metadaten für den direkten Vergleich zur Verfügung, die natürlich alle unter den bestmöglichen Bedingungen und mit einem Heer von Assistenten und Beleuchtungstechnikern aufgenommen wurden – aber daran ist nichts auszusetzen.
Der erste Gedanke: Das sieht ja ziemlich gleich aus.
Nach 20 Sekunden und einigen Vergleichfotos: Doch, es gibt einen deutlich sichtbaren Unterschied. Während die Farben «nur» ein wenig besser sind, liefert das Display des iPhone 12 mehr Feinheiten. So zeigen die Wolken auf dem iPhone 12 mehr Details; vor allem in den helleren Bereichen, ohne dabei an Zeichnung zu verlieren. Jeder Versuch, den Unterschied zu fotografieren, scheiterte jedoch: zu gering.
Das Display punktet in erster Linie bei HDR-Aufnahmen. Die Unterschiede zum Vorgänger sind gegeben, aber der Wow-Effekt wird wohl bei vielen Aufsteigern ausbleiben. Denn das Display des iPhone 11 war ebenfalls überragend, sodass die aktuelle Ausführung eher von den Gourmets unter uns geschätzt werden.
Doch warum wurde kein 120-Hz-Display verbaut? Oder wenigstens ein 90-Hz-Display? Apple selbst äussert sich natürlich nicht dazu, sodass den Spekulationen Tür und Tor geöffnet sind. Eine populäre Theorie besagt, dass das 5G-Modul und ein 120-Hz-Display zusammen den Akku zu schnell leergenuckelt hätten. Andere glauben gelesen zu haben, dass Samsung innerhalb nützlicher Frist nicht genügend Displays in dieser Qualität bauen konnte.
Zugegeben, auf dem iPad Pro ist das 120-Hz-Display ein Traum: Alles wirkt so flüssig, so geschmeidig. Bei einem Smartphone ist der Effekt jedoch nicht ganz so gross, weil eine viel kleinere Displayfläche bewegt wird. Ein 120-Hz-Display im iPhone wäre zwar eine feine Sache; doch ein 60-Hz-Display ist weit weg von «unzumutbar». Aber das liegt im Ermessen des Einzelnen.
Das Display wird neu von einem «Keramik-Schild» von Corning geschützt. Apple spricht von einer «4x better drop performance», also einer viermal höheren Widerstandsfähigkeit gegenüber Sturzschäden. Und nein, diese Aussage haben wir nicht auf die Probe gestellt.
5G
Das Stichwort ist schon vorhin gefallen: 5G steht im Mittelpunkt von Apples Marketing. Dabei wird betont, dass kein anderes Smartphone so viele Bänder unterstützt, wie das iPhone – und damit für Weltenbummler die erste Wahl sein sollte.
Um die Batterie nicht über Gebühr zu belasten, arbeitet das iPhone im «Leerlauf» oder bei kleineren Internet-Aufgaben mit 4G. Stehen grosse Datentransfers an, wechselt das Gerät automatisch auf 5G. Dieses Verhalten kann in den Einstellungen geändert werden, sodass 5G entweder immer oder nie zum Handkuss kommt.
Ich hätte die Übertragungsrate mit 5G gerne getestet, aber im provinziellen Home Office fehlt jegliche 5G-Verbindung. Überhaupt stellt sich die Frage, wie sinnvoll 5G zurzeit überhaupt ist. Mir hat das Tempo von 4G bis jetzt immer gereicht, auch beim Tethering mit dem MacBook. Um noch einmal auf das Display zurückzukommen: Vermutlich hätten viele Anwender statt 5G lieber ein 120-Hz-Display gesehen; aber ein Highend-Smartphone ohne 5G kommt im Jahr 2020 einem Marketing-Suizid gleich.
Kein Fingerscanner
Auch das iPhone 12 wird mit dem Face ID entsperrt, also durch Apples hauseigenem Gesichtsscanner. Face ID bleibt in meinen Augen das Nonplusultra – ausser, man muss eine Maske tragen. Die aktuelle Situation hat niemand kommen sehen und zeigt, wie lange die Entwicklung eines iPhones dauert – und wie schwierig es ist, dabei das Ruder herumzureissen. Ich bin überzeugt, dass das iPhone 13 nächstes Jahr mit einem zusätzlichen Fingerscanner kommt, so wie er aktuell im neuen iPad Air verbaut wird. Aber das ist ein anderes Thema.
Immerhin ist das iPhone 12 wie sein Vorgänger darauf trainiert, Masken zu erkennen und sofort und ohne weitere Versuche das Tastenfeld für die Codeeingabe einzublenden – und das funktioniert tadellos.
Die Kameras
Auch heuer kommt das reguläre iPhone 12 mit zwei Kameras, während die dritte Linse der Pro-Linie vorbehalten bleibt. Auf Kleinbild umgerechnet, bietet die Ultra-Weitwinkelkamera eine Brennweite von 14 Millimeter und die Weitwinkelkamera 26 Millimeter. Mit der neuen, grösseren Blendenöffnung von ƒ/1.6 wird die Lichtausbeute um 27 Prozent erhöht. Die Auflösung verharrt bei 12 Mpx.
Die Brennweite, auf Kleinbild umgerechnet: oben 25 Millimeter, unten 14 Millimeter
Quelle: PCtipp.ch
Allerdings stellt sich die Frage, inwiefern die Blende überhaupt noch eine Rolle spielt, denn bereits das iPhone 11 kam in der Finsternis einem Nachtsichtgerät recht nah: Bis zu drei Sekunden kann das iPhone ohne Stativ gehalten werden, damit anschliessend die besten Informationen herausgepickt und sofort zu einem neuen Bild zusammengesetzt werden: rauschfrei und von einer Qualität, die mit einer regulären Kamera ohne Stativ schlichtweg unmöglich ist.
Computational Photography macht die Nacht zum Tag – aber nur so weit, dass die Szene glaubwürdig bleibt
Quelle: PCtipp.ch
Deshalb spielen sich die Neuerungen in erster Linie in der Software ab, denn längst hat die «Computational Photography», also die computergestützte Fotografie, die Gesetze der Physik ad absurdum geführt. «Deep Fusion», das den Detailgrad bei Tageslicht erhöht und der Nachtmodus sind jetzt auf allen Kameras präsent, auch auf der Frontkamera für Selfies. Mit «Smart-HDR 3» erkennt das iPhone ausserdem Szenen, um das Bild individuell zu optimieren. Diese neue Szenenerkennung ist ab Werk aktiv, lässt sich aber in den Einstellungen der Kamera ausschalten.
Kein Apple ProRAW
Apple wird in nächster Zeit ein eigenes RAW-Format für Fotos einführen, «Apple ProRAW» genannt. Damit wird es möglich, die Bilder unter besseren Bedingungen in einer professionellen Fotosoftware weiterzuverarbeiten. Apple ProRAW wird allerdings vom iPhone 12 nicht unterstützt – weder jetzt noch in Zukunft.
Dolby Vision – was für ein Kraftakt!
Am meisten punktet beim iPhone 12 jedoch die neue Videofunktion, die jetzt mit Dolby Vision arbeitet. Dafür gibt es keinen Schalter, den man umlegen muss oder kann: Dolby Vision ist immer aktiv. Die Bildrate beträgt auf dem iPhone 12 in 4K allerdings «nur» 30 fps, das grössere iPhone 12 Pro Max liefert sogar 60 fps.
Bei Dolby Vision werden die Metadaten dynamisch codiert, was diesen Standard von HDR10 unterscheidet. Wenn sich eine Szene deutlich verändert (etwa, wenn jemand in der Nacht von draussen ins helle Zimmer tritt), können sich die Metadaten an die neue Situation anpassen, sodass bei der Nachbearbeitung eine bessere Abstimmung erreicht wird. Das iPhone 12 geht jedoch so weit, dass es jedes einzelne Frame analysiert. Das anschliessende Grading wird in Echtzeit vorgenommen und führt zu einer deutlich besseren Darstellung, die sich an den jeweiligen Lichtbedingungen einer Szene orientiert.
Das iPhone 12 ist nicht das erste Smartphone, sondern die erste Kamera überhaupt, die direkt in Dolby Vision in HDR mit 10 Bit aufnimmt! Ein Smartphone! Filmt in Dolby Vision! In Echtzeit! Mit 10 Bit in 4k und mit 30 fps! (Oder sogar mit 60 fps im Fall des iPhone 12 Pro!) Es gibt wohl für die A14-CPU keine bessere Möglichkeit, um ihre siliziumgestählten Muskeln provokativ zur Schau zu stellen.
Für die Weiterverarbeitung stehen zurzeit iMovie für iOS und für den Mac zur Verfügung, später wird die Kompatibilität zu Final Cut Pro X nachgereicht, sodass dem professionellen Schnitt nichts mehr im Weg steht.
Doch sehen heisst glauben: Wenn möglich sollten Sie sich dieses Video von Apple auf einem erstklassigen Fernseher zu Gemüte führen. Ich musste es mir auf einem OLED-Gerät ein halbes Dutzendmal ansehen, aber so ganz glaube ich es immer noch nicht, dass dazu ein Smartphone (Ausrufezeichen) verwendet wurde. Gemäss Apple wurde das Video durchgehend mit der Standard-Kamera-App gedreht, die zum Lieferumfang des iPhones gehört:
Und hier kommt die Werbung – nur deshalb, weil sie so kreativ gemacht ist:
Kaufberatung und Fazit
Für sich allein betrachtet, ist das iPhone 12 einfach ein fantastisches Smartphone, das die Messlatte höher legt. Wären da bloss nicht die Geschwister! Und so kämpft dieses feine Gerät an allen Fronten.
iPhone 12 mini. Am 13. November kommt das iPhone 12 «mini», das sich mit seinem 5,4-Zoll-Display an die Fans von kleinen Smartphones richtet. Für diese Gruppe liegt die Entscheidung wörtlich auf der Hand, weil überhaupt keine Abstriche oder Zugeständnisse an die Grösse gemacht werden müssen. Das Gerät befindet sich in jeder Hinsicht auf Augenhöhe mit seinem grösseren Bruder – einfach in klein.
iPhone 12 Pro. Auf der anderen Seite wartet das iPhone 12 Pro, das noch einmal mehr leistet. Es kommt mit drei Kameras, einem LiDAR-Scanner und filmt in Dolby Vision mit 60 fps.
Der Preisunterschied zum Pro Modell beträgt gerade einmal 250 Franken. Und dieser Abstand ist so dünn wie die gedruckte Anleitung, die dem Gerät beiliegt: Das kleinste iPhone 12 kommt mit 64 GB Speicher. Das kleinste iPhone 12 Pro bietet jedoch 128 GB. Wenn Sie sowieso das iPhone 12 mit 128 GB für 939 Franken ins Auge fassen, dann beträgt der Aufpreis zum Pro-Modell gerade noch 190 Franken.
iPhone 12 Pro «Max». Und dann ist da noch das iPhone 12 Pro «Max» mit seinem 6,7 Zoll grossen Display. Dieses Gerät spielt in einer eigenen Liga, und das nicht nur wegen seiner Grösse: Es ist auch das einzige iPhone mit einem beweglichen Kamerasensor, der Bewegungen und Zittern beim Fotografieren und Filmen noch besser ausgleicht. Wenn Sie es mit der Smartphone-Fotografie und -Videografie ernst meinen, führt an diesem Modell kein Weg vorbei.
Fazit
Das iPhone 12 lässt mich ratlos zurück. Es ist elegant, schnell, schön, leistet Enormes und ist einfach ein rundum gelungenes Paket. Die meisten anderen Smartphone-Hersteller wären zu jeder Schandtat bereit, um ein solches technisches Kleinod in ihrem Sortiment zu wissen.
Und trotzdem kann ich es nicht empfehlen. Sie mögen kleine iPhones? Kaufen Sie das iPhone 12 «mini». Oder ganz grosse? Dann das iPhone 12 Pro «Max». Sie lieben es, Fotos zu machen und Filme zu drehen? Dann ist das «Max» sowieso unvermeidbar. Die Preisgestaltung von Apple ist für einmal so seltsam, dass das iPhone 12 von seinen Geschwistern kannibalisiert wird und der Preis einfach nicht passt.
Lange Rede, kurzer Sinn: Legen Sie auf die 128-GB-Version des iPhone 12 noch 190 Franken drauf und kaufen Sie das iPhone 12 Pro. Das ist vermutlich die einzige Entscheidung, die Sie in zwei Wochen nicht bereuen werden.
Testergebnis
Tempo, Kamera, Videos, Software, Display
Opfer einer kuriosen Preisgestaltung, kein Fingerscanner
Details: 6,1 Zoll grosses OLED mit HDR und 2532×1170 Pixel bei 460 ppi, IP 68, 5G, Wi-Fi 6 (AX), Dual-Kamera mit 12 Mpx, Videos bis 4K mit 30 fps und Dolby Vision, A14-CPU, iOS 14
Preis: ab 879 Franken (64 GB)
Infos: