ETH Zürich
09.03.2021, 15:24 Uhr
Zellen als Computer
Wissenschaftler der ETH Zürich sind dran, informationsverarbeitende Schaltsysteme in biologischen Zellen zu entwickeln. Sie haben nun zum ersten Mal in menschlichen Zellen eine Oder-Schaltung entwickelt. Diese reagiert auf unterschiedliche Signale.
In ihrer Forschung bringen ETH-Wissenschaftler mathematische und elektronische Ansätze der Informationsverarbeitung in biologische Systeme
(Quelle: Colourbox/Montage: Gidon Wessner)
Biologische Zellen sollen dereinst mit künstlichen genetischen Programmen ausgestattet werden, die ähnlich funktionieren wie elektronische Systeme. Solche neuprogrammierten Zellen könnten in unserem Körper medizinische Aufgaben wahrnehmen, etwa Krankheiten diagnostizieren oder therapieren. Eine Anwendung wären veränderte Immunzellen, die Tumorzellen bekämpfen. Da Tumorzellen unterschiedliche genetische Ausprägungen haben, müsste in den bekämpfenden Zellen zum Beispiel folgendes biochemisches Programm laufen: «Bekämpfe eine andere Zelle, wenn sie vom Typ X oder Y oder Z ist».
In der Mathematik und der Elektronik wird eine solche Funktion als Oder-Gatter bezeichnet. «Man braucht sie bei Entscheidungsprozessen immer dann, wenn mehrere Sachen zum gleichen Ergebnis führen, wenn man mit unterschiedlichen Inputs zur gleichen Zeit umgehen muss», erklärt Jiten Doshi, Doktorand in der Gruppe von ETH-Professor Yaakov Benenson am Departement für Biosysteme der ETH Zürich in Basel. Doshi und Benenson haben zusammen mit Kollegen zum ersten Mal in menschlichen Zellen ein sogenanntes Oder-Gatter entwickelt. Also eine molekulare Schalteinheit, die ein biochemische Output-Signal abgibt, wenn sie eines von zwei oder mehreren biochemischen Input-Signalen misst.
Bisherige in biologischen Zellen umgesetzte Oder-Gatter waren einfach gestrickt, wie Benenson erklärt. Soll beispielsweise eine Zelle als Antwort auf Signal X oder auf Signal Y einen Wirkstoff ausschütten, so kombinierten Wissenschaftler bisher zwei Systeme: eines, das den Wirkstoff als Antwort auf Signal X ausschüttete, und ein anderes, das den Wirkstoff als Antwort auf Signal Y freisetzte. Im Gegensatz dazu ist das neue Oder-Gatter der ETH-Wissenschaftler ein echtes Oder-Gatter, bei dem es sich um ein einziges System handelt. Wie bei allen biologischen Systemen liegt die Information als DNA-Sequenz vor. Diese ist beim neuen Gatter wesentlich kürzer, weil es sich um ein System handelt und nicht um zwei separate.
Von der Natur inspiriert
Um das Oder-Gatter zu realisieren, benutzen die ETH-Forschenden die Transkription, jenen zellulären Prozess, bei dem die Information von einem Gen abgelesen und in Form eines Boten-RNA-Moleküls gespeichert wird. In Gang gebracht wird dieser Prozess von bestimmten Steuerungsmolekülen (Transkriptionsfaktoren), die sich auf spezifische Weise an eine «Aktivierungssequenz» (Promotor) im Anfangsberiech eines Gens heften. Dabei gibt es auch Gene mit mehreren solchen Aktivierungssequenzen. Ein Beispiel dafür ist ein Gen namens CIITA, das bei Menschen vier solche Sequenzen aufweist.
Die ETH-Forschenden liessen sich von diesem Gen inspirieren und entwickelten synthetische Konstrukte mit einem Gen, das für die Herstellung eines fluoreszierenden Farbstoffs verantwortlich ist und das drei Aktivierungssequenzen hat. An diese Sequenzen heften sich spezifisch jeweils ein bis drei Transcriptionsfaktoren und kleine RNA-Moleküle. Das Genkonstrukt produziert den Farbstoff, wenn die Transkription über mindestens eine der drei Aktivierungssequenzen gestartet wird – also über die Sequenz 1 oder die Sequenz 2 oder die Sequenz 3. Die Forschenden haben das neue System patentieren lassen.
Ein Kreis schliesst sich
Die Forschung schliesst einen Kreis, wie ETH-Professor Benenson betont. Historisch betrachtet hat sich die Informationsverarbeitung während der Evolution in Lebewesen entwickelt: Menschen und Tiere sind mit ihren Gehirnen sehr gut darin, sensorischen Input aufzunehmen, zu verarbeiten und entsprechend zu reagieren. Erst ab dem 19. Jahrhundert begann dann die Entwicklung von schaltbaren Elektronikbauteilen, zunächst mit dem Relais, später mit Elektronenröhren und schliesslich mit Transistoren, welche den Bau von Computern ermöglicht haben.
In ihrer Forschung versuchen die ETH-Bioingenieure diese mathematischen und elektronischen Ansätze der Informationsverarbeitung zurück in biologische Systeme zu bringen. «Dies hilft uns einerseits, die Biologie besser zu verstehen, beispielsweise wie in Zellen biochemische Entscheidungsprozesse ablaufen. Andererseits können wir damit neue biologische Funktionen entwickeln», sagt Benenson. Zugute kommt den Forschenden, dass biologische Zellen dafür beste Voraussetzungen bieten.
Komplexere Diagnostik- und Therapieformen
Zur Anwendung kommen soll die zelluläre Informationsverarbeitung vor allem in der medizinischen Diagnostik und Therapie. «Heutige medizinische Therapien sind meist simpel: Wir therapieren Krankheiten oft nur mit einem einzigen Medikament, unabhängig davon, wie komplex die Biologie und die Ursachen von Krankheiten auch sein mögen», sagt Benenson. Dies stehe im Gegensatz dazu, wie ein Organismus mit Veränderungen von aussen umgeht. Stressreaktionen des Körpers beispielsweise können sehr komplex sein.
«Unser Ansatz der biomolekularen Informationsverarbeitung verspricht, in Zukunft mit künstlichen genetischen Netzwerken, die verschiedene Signale erkennen und verarbeiten können, komplexe zelluläre Diagnostiksysteme und potenziell wirksamere Therapieformen zu entwickeln», sagt Benenson. Solche Therapieformen würden etwa auch erkennen, wenn nach erfolgreicher Therapie ein Normalzustand erreicht ist. Eine ideale Krebstherapie beispielsweise bekämpft Tumorzellen, solange diese im Körper vorhanden sind, bekämpft aber kein gesundes Gewebe, denn dies würde im Körper Schaden anrichten.
Hinweis: Dieser Bericht ist zuerst bei «ETH-News» erschienen.
Autor(in)
Fabio
Bergamin, ETH-News