Notwendigkeit eines ganzheitlichen Ansatzes
30.11.2022, 06:13 Uhr
Industrie 4.0 ist viel mehr als IT
Bei Industrie 4.0-Vorhaben stehen oft technischen Aspekte im Vordergrund. Um den Erfolg zu sichern, sollten jedoch auch andere wichtige Einflussfaktoren berücksichtigt werden.
Industrie 4.O sollte nicht auf IT-Aspekte reduziert werden – sie erfordert eine ganzheitliche Herangehensweise
(Quelle: Shutterstock/Zapp2Photo)
Die zentrale Bedeutung der Information Technology (IT) für die Weltwirtschaft ist kein Novum. Ihre Omnipräsenz wird dennoch durch die digitalisierungsbezogenen Entwicklungen, die in der Unternehmenswelt unter dem Begriff Industrie 4.0 laufen, beteuert und ihre Dominanz in den Organisationen verstärkt. Die tückische Seite daran ist, dass zahlreiche neue Initiativen und Lösungsansätze als IT-Herausforderung eingeordnet und gehandhabt werden. Das hat wiederum zur Folge, dass weitere erfolgsrelevante Perspektiven vernachlässigt oder im Extremfall ausgeblendet werden. Der in diesem Artikel geschilderte Ansatz ist eine Anleitung, um dieser Tendenz entgegenzuwirken und eine Balance zu schaffen.
Die aktuelle (Schief-)Lage
Es ist nicht zu übersehen, dass in Organisationen kaum ein Projekt – ob profitorientiert oder gemeinnützig – ohne signifikanten IT-Aufwand umgesetzt werden kann. Die Komplexität und der Anspruch der Vorhaben sind dermassen hoch, dass die Bedeutung der technischen Aspekte überwiegt und entsprechend Ressourcen absorbiert. Tatsächlich versprechen die unzähligen Ausprägungen, Deklinationen und Technologiewellen in der IT eine Vielfalt an Möglichkeiten und Lösungsansätzen, wenn nur genügend Angaben zum Gegenstand des Vorhabens in ausreichender Qualität vorhanden sind. So zumindest lautet die Argumentation. Eine nachträgliche Betrachtung zeigt aber ein weniger optimistisches Bild. Abgesehen von abgebrochenen Projekten, erweisen sich nämlich auch zahlreiche umgesetzte Vorhaben weniger ergebnisreich oder sie bringen nicht die Ergebnisse hervor, die man sich zu Beginn erhofft hatte. Zugegebenermassen tragen verschiedene Ursachen zu diesem Resultat bei, nicht zuletzt auch Unvorhergesehenes. Allerdings – so die These in diesem Artikel – bewirkt eine ausgewogene Aufmerksamkeit für nicht technische Aspekte eine Milderung der unerwünschten Auswüchse.
Ganzheitlich Herangehen
Im vorgestellten Ansatz wird eine ganzheitliche Herangehensweise an Initiativen vorgestellt: ein Gegenmittel gegenüber der Tendenz, die Projekte, insbesondere solche mit einem Bezug zu Industrie 4.0, auf ihre IT-Aspekte zu reduzieren. Ein Grundsatz dieses Ansatzes lautet: Je komplexer oder anspruchsvoller das Vorhaben von der IT-Seite, desto wichtiger die bewusste Beachtung der weiteren Aspekte. Wenn es eine Ausnahme zu dieser Regel gibt, dann betrifft sie reine Forschungsvorhaben, wie sie manchmal in F&E-Abteilungen unternommen werden. Bei Forschungsvorhaben ist eine ausschliessliche Fokussierung auf technische Aspekte zulässig. Sobald es aber um eine Anwendung geht, führt die Vernachlässigung der nicht technischen Aspekte in die falsche Richtung.
1. Fokus auf zu erbringende Leistung legen
Das Kernstück des Ansatzes liegt im Fokus des Vorhabens. Dieser soll auf die zu erbringende Leistung gelegt werden. Diese Leistung zu bestimmen, erscheint vordergründig eine Selbstverständlichkeit. Sie ist in der Tat anspruchsvoll, wie versierte Projektleitende bestätigen können. Für Technikerinnen und Techniker ist besonders schwierig, der Versuchung zu entfliehen, sich in technische Details zu verlieben oder Lösungen zu entwickeln, die die vollen Möglichkeiten der Technik ausschöpfen. Um die Anstrengungen des Projektteams in die richtigen Bahnen zu lenken, und um dieses vor Fehlentwicklungen zu bewahren, ist eine durchdachte Kundenzentrierung dienlich. Ihr Sinn ist die Fokussierung auf marktfähige Lösungen. Deren Erfolg lässt sich daran messen, dass sie wichtigen Bedürfnissen der Kundschaft begegnen – wenn auch vielleicht nicht allen ihren Wünschen – und einen Mehrwert bieten, der sie dazu bewegt, das Angebot zu erwerben.
Nun hat eine erhebliche Anzahl von Projekten, die mit Bezug auf Industrie 4.0 in ihren zahlreichen Ausprägungen lanciert wird, nicht unmittelbar mit Kunden zu tun. Es sind solche, welche die Vernetzung von Anlagen, die Erhebung von Produktionsdaten, die automatische Steuerung von Lagerbeständen und sonstige betriebsinterne Abläufe betreffen. Auch in solchen Fällen soll gründlich eruiert werden, welche Auswirkungen das Projekt für bestehende und neue Kunden haben wird. Die Unternehmung soll dadurch schneller, flexibler, günstiger oder besser werden, und somit gegenüber der Konkurrenz einen Vorsprung erlangen, den die Kundschaft als Mehrwert einstuft. Dieselbe Logik gilt nicht nur dann, wenn die Unternehmung die Entwicklungen als First Mover vorantreibt, sondern genauso, wenn sie sich auf einer Aufholjagd befindet. Die Projekte sollen den geltenden Vorteil der Wettbewerber wettmachen oder gar übertreffen, vorausgesetzt, das Ergebnis gilt als Mehrwert in den Augen der Kundschaft. Dann ist sie auch bereit, das Produkt respektive die Dienstleistung zu erwerben. Wo der Kundennutzen gering ist, darf die Technologie ohne Reue weniger leisten, als es möglich wäre.
Wenn also von einer Initiative oder einem Vorhaben nicht klar und glaubwürdig gesagt werden kann, welche Auswirkungen die Ergebnisse im Markt erzeugen werden, so ist der Zweck der Initiative fraglich. Die Methoden, um die Bedürfnisse der Kundschaft und ihr Interesse an der zu entwickelnden Lösung vorderhand zu eruieren, sind zahlreich: Jobs to be done, Lead Users, Traction, Lean Innovation, Design Thinking usw. Sie werden ausführlich in der Literatur beschrieben, an verschiedenen Institutionen gelehrt und angewendet sowie von Beratern als Dienstleistung angeboten.
2. Mitarbeiterperspektive miteinbeziehen
Die zweite einzunehmende Perspektive ist diejenige der Mitarbeitenden. Zahlreiche, wenn nicht alle Projekte im Rahmen von Industrie 4.0 verändern die Art, wie in einer Unternehmung gearbeitet wird. Dies geschieht hauptsächlich dadurch, weil sie Prozesse umstellen, und zu einem geringeren Anteil durch die Anpassung bestehender respektive die Einführung neuer Produkte und Dienstleistungen (IoT-basiert, App-gesteuert usw.). Unabhängig davon, wie wandelbereit die Betroffenen sind: Eine Zeit der Umstellung muss einberechnet werden. Im Minimalfall, damit sich die Mitarbeitenden an die veränderten Umstände gewöhnen. Wenn aber die Geschäftsleitung nicht nur Veränderungen umsetzen, sondern darüber hinaus das Verständnis für die Zusammenhänge und somit die Basis legen will, um die Mitarbeitenden in die aktive Fortentwicklung der Unternehmung einzubeziehen, dann sollte Zeit eingeräumt werden, damit sie neue oder zumindest ergänzende Kompetenzen, welche mit den Neuentwicklungen einhergehen, erlernen können.
Diese Lernprozesse verlaufen inzwischen on- und off-the-job, setzen neue didaktische Methoden voraus (z. B. Blended Learning, Gamification), erfordern spezifische technische Vorrichtungen (AR/VR, digitale Zwillinge) und umfassen sowohl fachspezifische als auch fachfremde Kenntnisse. Letztere erfordern meistens grössere Lernanstrengungen, weil sie ausserhalb des angestammten Fachbereichs liegen. Diese Fülle an Neuigkeiten in Bezug auf Weiterbildungen lässt sich schwer überblicken, geschweige denn kompetent umsetzen. Deswegen führen grössere Organisationen zunehmend die Figur des Learning Officers ein. Für kleinere Organisationen stellen Branchen- und Berufsverbände erste Ansprechpartner dar, wenn sie ihre Mitglieder aktiv und zukunftsorientiert sowohl mit eigenen Weiterbildungsangeboten als auch mit einer Selektion passender Partnerschaften zu Bildungsinstitutionen unterstützen wollen.
3. Ökosysteme berücksichtigen
Um die nächste Perspektive einzuführen, beziehen wir uns auf Anwendungen von Industrie 4.0 in ihrer ausgedehntesten Ausprägung, wie die Entwicklung und die Produktion von Elektroautos oder von brennstoffzellgetriebenen Fahrzeugen oder sogar die nicht mehr so futuristische Perspektive des autonomen Fahrens. Die Komplexität und der Anspruch solcher Vorhaben übersteigt die Umsetzungsmöglichkeiten eines jeden Konzerns bei weitem und erfordert eine Fülle an Kompetenzen, die in den verschiedensten Unternehmungen angesiedelt sind. Zusammengenommen bilden Letztere ein Ökosystem, sprich: ein «Netzwerk aus rechtlich unabhängigen, jedoch wirtschaftlich verbundenen Unternehmungen, die aufeinander angewiesen und doch miteinander im Wettbewerb sind, damit der erwartete beziehungsweise versprochene Kundennutzen zustande kommt» (Sablone; 2021).
Diese besondere Form der Zusammenwirkung wird auch Koopkurrenz (engl. Co-opetition) genannt. Mit diesem Begriff wird die duale Form der Interaktion zwischen Unternehmungen innerhalb eines Ökosystems bezeichnet, die sowohl den Wettbewerb als auch die Zusammenarbeit umfasst. Im Wettbewerb kämpfen Unternehmungen mit Konkurrenten, die ähnliche Produkte und Dienstleistungen anbieten. Ferner müssen sie auch gegenüber den Lieferanten und Kunden günstige Konditionen durchsetzen. Wenn sie über längere Zeit in beiden Hinsichten scheitern – sprich: gegenüber den Konkurrenten sowie den Lieferanten und Kunden – werden sie nicht weiterwirtschaften können.
Dieselben Unternehmungen müssen aber auf einer anderen Eben mit ihren Konkurrenten, Lieferanten und Kunden «kooperieren», weil der Wettbewerb sich nicht lediglich innerhalb eines Ökosystems, sondern auch zwischen Ökosystemen abspielt. Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren, Elektrofahrzeuge sowie brennstoffzellbetriebene Fahrzeuge bilden unterschiedliche Ökosysteme. Ebenso bilden sich um Betriebssysteme wie Android und iOS jeweilige Ökosysteme. Die einzelnen Unternehmungen sind auf die Lebendigkeit des gesamten Netzwerks angewiesen. Wenn zum Beispiel die Hersteller von Komplementärprodukten – das wären beispielsweise in Bezug auf Betriebssysteme App-Produzenten – aufgrund schlechter Bedingungen weniger absetzen, werden auch die aktuellen und potenziellen Kunden des Ökosystems weniger Anreize haben, im Ökosystem zu bleiben beziehungsweise überhaupt einzutreten.
Es kommt zwar vor, dass sich Unternehmungen an verschiedenen Ökosystemen beteiligen, um ihre Abhängigkeit zu verringern respektive ihre Erträge zu steigern. Dies erfordert aber eine üppige Ressourcenausstattung, die meistens grösseren Unternehmungen vorbehalten ist, während kleinere sich eher fokussieren müssen.
Das Gelingen unternehmensübergreifender Vorhaben hängt somit nicht nur von der Erfüllung technischer Voraussetzungen ab wie zum Beispiel von der Definition von Standards, der Gestaltung von Schnittstellen und allgemeiner von der ausgedehnten Nutzung der Vorteile der Modularität. Solche technischen Voraussetzungen sind eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung, um die Überlebensfähigkeit eines Ökosystems zu sichern, geschweige denn sein Durchsetzungsvermögen. Entscheidend ist der empfundene Nutzen, der vom jeweiligen Ökosystem für alle Teilnehmenden am Ökosystem generiert wird.
Das Gelingen unternehmensübergreifender Vorhaben hängt somit nicht nur von der Erfüllung technischer Voraussetzungen ab wie zum Beispiel von der Definition von Standards, der Gestaltung von Schnittstellen und allgemeiner von der ausgedehnten Nutzung der Vorteile der Modularität. Solche technischen Voraussetzungen sind eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung, um die Überlebensfähigkeit eines Ökosystems zu sichern, geschweige denn sein Durchsetzungsvermögen. Entscheidend ist der empfundene Nutzen, der vom jeweiligen Ökosystem für alle Teilnehmenden am Ökosystem generiert wird.
4. Werte werden immer wichtiger
Die vierte, zunehmend wichtige Perspektive ist diejenige der Gesellschaft. Themen wie Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und ökologische Verantwortung sind keine neuen Themen, wenn man denkt, dass sie schon in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts in den Strategiekursen an der Harvard Business School behandelt wurden. Inzwischen haben aber die damit verbundenen Werte in der Öffentlichkeit an Bedeutung gewonnen und sind ins Bewusstsein vieler eingedrungen, sodass sie zu regulatorischen Interventionen führen und allmählich die Kaufentscheidungen beeinflussen.
Das Zusammenspiel mit Initiativen im Rahmen der Industrie 4.0 ist relevant. Verschiedene Trends signalisieren einen veränderten Umgang mit den verfügbaren Ressourcen: Dematerialisierung, Virtualisierung, Verschiebung des Konsumverhaltens vom Besitz zur Nutzung (As-a-Service-Phänomen). All diese Trends lassen sich als Begleiterscheinungen oder Ausdrucksweisen von Initiativen in Zusammenhang mit Industrie 4.0 charakterisieren. Wo noch Potenzial für Veränderung beziehungsweise die dramatische Notwendigkeit der Erkundung neuer, frugalerer Wege bestehen, ist im Energieverbrauch. Die Nutzung erneuerbarer Energien verspricht eine Ablösung von beschränkten Ressourcen, wird aber allein den Bedarf nicht, jedenfalls nicht so rasch wie gewünscht und nötig, abdecken können, sodass ressourcenschonende Massnahmen sehr relevant werden.
Fazit und Ausblick
Nun muss man diese Überlegungen «in die Linie geben» und an die Verantwortung der Geschäftsleitung für die Wahrung einer ganzheitlichen Sichtweise über die Unternehmung sowie über vereinzelte Grossprojekte appellieren. Die vier vorgestellten Perspektiven bieten eine systematische Reflexionsmöglichkeit, vorausgesetzt die Auseinandersetzung mit den Fragen verkommt nicht zur Alibiübung.
Dieser Ansatz birgt allerdings mehr zusätzliches Potential, als lediglich der Dominanz der technischen Seite die Waage zu halten. Viele Initiativen im Bereich von Industrie 4.0 bewegen sich nämlich im Rahmen des bestehenden Geschäfts. Sie machen es effizienter, schlanker und über die Dauer günstiger. Eine unternehmerische Betrachtung zielt aber bewusst auf neue Chancen, die über das bestehende Geschäft hinausreichen, dieses ergänzen und – bei disruptiven Entwicklungen – ersetzen. Zu diesem Zweck empfiehlt sich, das Potential und die Anwendungsmöglichkeiten neuer Technologien aus den vier Perspektiven zu betrachten. So müsste definiert werden, welcher Nutzen für die Kunden durch den Einsatz einer neuen Technologie entsteht und wie dieser im Vergleich zu Konkurrenzangeboten abschneiden würde. Die Analyse würde fehlende Kompetenzen zur Umsetzung ermitteln, notwendige Kooperationen deutlich machen, Möglichkeiten aufzeigen, bestehende Ressourcen besser beziehungsweise neu einzusetzen sowie fehlende Ressourcen zur Erbringung anvisierter Leistungen eruieren. Eine erweiterte ökosystemische Betrachtung würde auch die Kundschaft der eigenen Kunden in einer B2B-Dimension berücksichtigen und somit auch deren Bedürfnissen Rechnung tragen. Betreibt eine Unternehmung solche Analysen systematisch und eingehend, so kann sie gleich die Grundzüge künftiger Geschäftsmodelle skizzieren und ihre Markttauglichkeit konzeptionell auf den Prüfstand stellen, also viel mehr als nur das Bestehende zu verwalten und effizienter zu machen.
Der Autor
Andrea L. Sablone
ist Professor für Strategie und Innovationsmanagement in KMU an der Fernfachhochschule Schweiz (FFHS) und leitet das Forschungsfeld «Innovation & Strategy» am Institut für Management & Innovation (IMI) der FFHS. Das Angebot vom IMI zur Digitalisierung von Geschäftsmodellen findet man unter: www.ffhs.ch/de/forschung/imi/digitale-transformation, www.ffhs.ch